Die Journalistin Michèle Binswanger ruft dazu auf: Frauen geht fremd! Sie hat ein Buch über das Thema geschrieben, mit vielen Frauen gesprochen und beschreibt hier, welche Chancen sich bieten, wenn wir unserer Lust nachgeben. Spannend und kontrovers!
Soll ich, oder soll ich nicht?
Es gibt eine seltsame Diskrepanz zwischen dem Schmerz, betrogen zu werden, und dem Spaß, den das Fremdgehen macht. Wobei Spaß vielleicht das falsche Wort ist. Gerade für Frauen ist es oft viel mehr als das. Ich habe die letzten zwei Jahre viele Fremdgeherinnen nach ihren Erfahrungen, Motiven und Wünschen gefragt. So unerfreulich die Konsequenzen manchmal waren: Keine hat es bereut.
Fremdgehen? Niemals. Und dann kommt Tag X.
Ein Seitensprung kann verschüttete Leidenschaften wecken, verkrustete Beziehungsprobleme aufbrechen, scheinbar Unverrückbares in Bewegung bringen und neue Perspektiven auf sich, das Leben, die Liebe eröffnen. Viele mögen jetzt denken: "So etwas würde ich nie tun. Ich bin doch keine Schlampe, die für ein bisschen Vergnügen ihre Liebsten verletzt und Familien zerstört." Und meinen das ganz aufrichtig. Die meisten Fremdgeherinnen, mit denen ich sprach, dachten genauso – bis zu diesem einen Abend, diesem einen Freund, Kollegen, Fremden in einer Bar. Oft ist es eine Laune, man ist in besonderer Stimmung, leichtsinnig, vielleicht betrunken. Das Handy liegt im Hotel oder ist lautlos gestellt. Und wie unter einem geheimen Zauber tut man, was man sich nie zugetraut hätte: Man wirft seine moralischen Vorsätze über Bord und geht fremd. Manchmal ist es ein einmaliger Ausrutscher – viel öfter der Anfang eines neuen Lebens.
Ist Monogamie doch nur ein veralteter Mythos?
Auf kaum einem Gebiet funktioniert die Doppelmoral zuverlässiger. Wir pathologisieren Fremdgeher und stigmatisieren Fremdgeherinnen. Dabei sind sie eher die Regel als die Ausnahme. Laut Experten gehen rund 90 Prozent der Männer und drei Viertel der Frauen irgendwann fremd. Untreue ist auch der häufigste Trennungsgrund. Wir haben kein Problem, von einer Kurzzeitbeziehung zur nächsten zu eilen. Doch sexuelle Kontakte außerhalb der bestehenden Beziehung zuzulassen, können wir uns nicht im Traum vorstellen. Man muss sich also die Frage stellen: Müssten wir, wenn jemand fremdgeht, nicht eher das Ideal absolut monogamer Partnerschaften aufgeben als die Beziehung?
Wir wollen sexuelle Befriedigung. Punkt.
Für Frauen hat sich die Frage nach der Bedeutung von Treue in den letzten Jahren besonders dringlich gestellt. Sie haben ihre Rolle in der Gesellschaft neu definiert und sich auch sonst in vielerlei Hinsicht befreit – nicht zuletzt was ihre sexuellen Bedürfnisse angeht. Eine erfüllte Sexualität zu leben, stand früher für die meisten Frauen gar nicht zur Debatte. Heute ist sie zu einem zentralen Anspruch in der Beziehung geworden. Die Schwierigkeiten beginnen bei der Umsetzung. Denn die weibliche Sexualität entwickelt sich im Laufe der Biografie und reagiert einigermaßen sensibel auf äußere Umstände.
Fremdgehen hat 1000 Gesichter
Die Geschichten der von mir interviewten Fremdgeherinnen sind alle einzigartig. Trotzdem beginnen sie meist mit dem Satz: "Eigentlich war alles in Ordnung." Dann kommt das große "Aber … ". Viele haben sie ihren Partner jung getroffen und eine Familie gegründet. Sex spielte damals nur eine untergeordnete Rolle, war ein Weg zum Herzen des Mannes. Dann ziehen die Jahre ins Land, sie verlieren ihre Unsicherheiten, fühlen sich besser mit sich und ihrem Körper. Und entdecken, dass sie sehr wohl Lust auf Sex haben – aber nicht mit ihrem Partner. Manche gingen fremd, um aus der Beziehung auszubrechen, andere, um diese weiterführen zu können. Manche waren von ihrem Verhalten selbst am meisten überrascht, andere haben es von langer Hand geplant, allein oder auch mit ihrem Partner.
Lust ist Kopfsache
Sehr oft stand am Anfang die sexuelle Unlust, die tote Hose im Ehebett. Das ist auch einer der häufigsten Gründe, der Paare zum Sexual- oder Paartherapeuten treibt. Und oft ist es die Unlust der Frau. Die pharmazeutische Industrie hat dafür einen Namen erfunden: "hypoactive sexual desire disorder", auf Deutsch: hypoaktive Sexualfunktionsstörung. Seit Jahren forscht man nach einem Medikament, das diese "Störung" behebt, immer wieder wird ein Produkt lanciert, das als "Viagra für die Frau" angepriesen wird – in der Hoffnung, einen pharmazeutischen Erfolg zu landen. Dies war bislang nicht der Fall, aus einem simplen Grund: Viagra behandelt eine relativ einfache körperliche Störung, stellt den Blutfluss im Penis sicher, wenn die Lust da ist, nicht aber die Erektion. Doch Viagra für die Frau soll Lust erzeugen, indem es auf ihre größte erogene Zone wirkt: das Hirn. Das birgt einige Schwierigkeiten, denn das Hirn und das weibliche Begehren haben vieles gemeinsam: Sie sind komplex und weitgehend unverstanden. Dass noch kein Medikament gefunden wurde, das Unlust in Lust verwandelt, könnte daran liegen, dass sich das weibliche Begehren isoliert schlecht beeinflussen lässt. Neuere Studien deuten darauf hin, dass es meist kontextabhängig ist, wobei die Lebenssituation der Frau, der Partner, das Gefühl, begehrt zu werden, eine entscheidende Rolle spielen. Genau das ist es, was vielen Frauen in einer längeren Beziehung abhandenkommt. Was sie suchen, wenn sie fremdgehen. Paradoxerweise haben viele danach auch wieder mehr Lust auf ihren Partner – eben weil sie sich wieder sexy fühlen. Oder weil der Partner, aufgerüttelt durch Verlustängste, endlich auf ihre Bedürfnisse eingeht.
Tu ES!
Man kann chronische Unlust oder mangelnde sexuelle Zufriedenheit als körperliche "Störung" definieren und versuchen, sie chemisch zu beheben. Mein Vorschlag wäre: Die betroffenen Frauen könnten versuchen, sich mal zu betrinken und mit einem anderen Mann ins Bett zu gehen. Das dürfte ihre Unlust schneller und ohne körperliche Beschwerden beheben. Mag sein, dass diese Therapie Nebenwirkungen hat, aber vielleicht erweisen sich die ja als Anfang von etwas Neuem. Das klingt vielleicht unmoralisch und scheint dem Wunsch nach einer tiefen Partnerschaft, nach einer Familie, einer Heimat zu widersprechen. Das ist ein legitimer, menschlicher Wunsch. Vielleicht muss das kein Widerspruch sein. Vielleicht sollten wir einfach anerkennen, dass Sexualität auch eine Art Heimat ist und das Recht hat, gelebt zu werden. Dass wir uns von vorgesehenen Rollen trennen und zu unseren Bedürfnissen stehen dürfen. Einfacher werden Beziehungen dadurch nicht, aber insbesondere langjährige Partnerschaften können so lebendig bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass jede ein Kunstwerk ist, lohnt es sich, es wenigstens zu versuchen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Sonderausgabe "Mehr Liebe" der EMOTION 2022
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