Rentenlücke, unfair verteilte Care-Arbeit – und welche Familie kann es sich überhaupt noch leisten, dauerhaft auf zwei volle Gehälter zu verzichten? Das Ergebnis: Zeitarmut. Autorin und Digitalstrategin Teresa Bücker sucht nach Chancen im Dilemma.
Wer hat eigentlich entschieden, dass unsere Zeit mehr wert ist, wenn wir sie mit Lohnarbeit verbringen? Große Fragen wie diese stellt Teresa Bücker in ihrem neuen Buch. Warum Zeitarmut nichts mit schlechter Organisation zu tun hat, sondern ein strukturelles gesellschaftliches Problem ist, für dessen Lösung es mindestens so große Fragen braucht, erklärt sie uns im Gespräch.
EMOTION: Teresa, was verstehst du unter Zeitarmut?
Teresa Bücker: Den Begriff hat die Zeitsoziologie etabliert, er beschreibt, dass viele Menschen viel zu wenig Zeit haben, um in ihrem Alltag das unterzubringen, was sie gerne möchten. Zeitarmut ist nicht mit materieller Armut zu verwechseln, aber sie kann sich ähnlich negativ auf die Lebensqualität auswirken. Und genügend Geld zu haben, bedeutet nicht automatisch, genügend Zeit zu haben.
Wodurch entsteht diese Zeitarmut?
Menschen sind unterschiedlich zeitarm und unterschiedlich zeitsouverän, und das nicht zufällig, sondern als Ergebnis gesellschaftlicher Machtstrukturen. Andauernd zu wenig Zeit zu haben ist kein individuelles Problem, es ist gesellschaftlich erzeugt.
Wer ist von diesem Problem besonders betroffen?
Vor allem all jene, die sich unbezahlt um andere kümmern, um Kinder, um pflegebedürftige Angehörige, oder die in freundschaftlichen Netzwerken Care-Verantwortung übernehmen. Es ist schon lange ein Anliegen von feministischen Bewegungen, dass wir nicht nur Lohnarbeit als Arbeit anerkennen. Und dann ist da natürlich auch der ganze Bereich der Selbstfürsorge. Je nachdem, wie ich gesundheitlich aufgestellt bin, brauche ich dafür mehr oder weniger Zeit.
Was macht es mit uns, wenn ständig die Zeit knapp ist?
Zeitarmut beeinträchtigt das Wohlbefinden, unsere Gesundheit und unsere Beziehungen. Deswegen ist sie auch ein Problem, das politisch adressiert werden muss. Die Debatten über Inflation und Energiekrisen wirken so, als sei der Staat nur dazu da, die Wirtschaft zu ordnen und zu fördern. Aber der politische Auftrag, den eine Regierung hat, ist eigentlich viel, viel größer. Das würde ich gern wieder in den Mittelpunkt rücken: dass wir uns wirklich um das Wohlergehen von Menschen kümmern müssen.
Hast du ein konkretes Beispiel, etwa für die Zeit, die für Care-Tätigkeiten aufgewendet wird?
Man geht davon aus, dass Mütter kleinerer Kinder bis zu 14 Stunden täglich eingebunden sind. Eigentlich müssten wir da zu der Erkenntnis kommen, dass das Arbeitstage sind, die nicht im Interesse einer Gesellschaft sein können. So lange zu arbeiten schadet Menschen und man müsste Entlastung schaffen.
Gleichzeitig werden Frauen seit Jahren vor der Teilzeitfalle gewarnt, als Ideal gilt eine Vollzeittätigkeit.
Die Teilzeitfalle ist eine Realität. Und es ist mir ein großes Anliegen, dass wir ökonomische Gerechtigkeit und berufliche Chancen von Frauen nicht aus dem Blick verlieren. Was wir aber in der modernen Gleichstellungspolitik sehen, die auch von linken und feministischen Bewegungen verfolgt wird, ist, dass eigentlich nur Frauen aufgefordert werden, sich zu verändern. Es sind die Frauen, die mehr arbeiten sollen, die mehr Ambitionen haben sollen, die das alles hinkriegen sollen. Männer werden nicht aufgefordert, sich in dem Maße zu verändern.
Das heißt im Grunde, gesellschaftlich wird erwartet, dass Frauen noch mehr ihrer Zeit aufwenden sollen, was zur Folge hat, dass sie noch zeitärmer werden?
Das Thema wird seit den 1970er-Jahren diskutiert und genau davor warnen Feministinnen seitdem in Deutschland: dass mit dieser Bewegung, dass Frauen sich nicht finanziell abhängig machen sollen und einer bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen sollen, die Arbeitsbelastung für Frauen insgesamt steigt und es nicht automatisch zu mehr Gerechtigkeit führt. Denn, ja, die ökonomischen Chancen sind besser, Frauen sind finanziell unabhängiger geworden, zumindest ein Teil von ihnen – aber die zeitliche Belastung, die damit einhergeht, ist so groß, dass sie Frauen und auch allen anderen Menschen, die Care-Verantwortung und Beruf gleichzeitig schultern müssen, schadet und andere Chancen im Leben nimmt.
Weil wir die Kosten ausklammern, die entstehen, wenn wir 40-Stunden-Erwerbsarbeitswochen zum Ziel erklären?
Genau. Beide Elternteile sollen eine 40-Stunden-Woche anstreben. Aber das verschiebt Zeit aus den Familien in die Wirtschaft. Waren es beim Modell Vollzeit/Teilzeit vielleicht 60 Arbeitsstunden pro Woche, sind es nun 80 Stunden oder noch mehr. Und da wird dann eben nur die damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit von Frauen betont. Oder die Notwendigkeit! Denn immer mehr Familien brauchen zwei Einkommen. Aber dieses Modell verursacht gleichzeitig strukturelle Zeitarmut, die Familien und alle, die sich um andere kümmern, wirklich an Belastungsgrenzen bringt.
Und das Bewusstsein wächst, dass es schwierig ist, Care-Arbeit zu delegieren, weil gar nicht genug Erzieher:innen oder Pfleger:innen zur Verfügung stehen.
Genau. Trotzdem werden in der Debatte um Vereinbarkeit von Beruf und Familie haushaltsnahe Dienstleistungen immer als die Lösung verkauft. Im Koalitionsvertrag steht, dass sie mit Gutschein-Modellen gefördert werden sollen. Das Problem daran ist, dass die Arbeit, die das auffangen soll, überwiegend prekär ist. Sie entsteht im Kontext von globaler Ungerechtigkeit. Der Begriff Skype Mothering bringt es auf den Punkt. Arbeitsmigrantinnen können sich nur noch digital um ihre eigenen Kinder kümmern. Frauen, die als Nannys, als Hausangestellte oder Pflegekräfte in andere Länder gehen, tun dies aus ökonomischer Not. Sie verlassen dafür ihre eigenen Familien und Kinder. Das heißt, der Anspruch, den viele Menschen in wohlhabenden Industrieländern haben, reißt Familien in anderen Ländern auseinander.
Die sogenannte Care-Chain. Um gerecht zu sein, wäre da ein Schlüssel, haushaltsnahe Dienstleistungen besser zu entlohnen, damit mehr Leute hier diese Jobs wählen?
Selbst wenn die Bundesregierung jetzt anfängt, diese Tätigkeiten zu fördern, wird der Lohn nicht in einen Bereich kommen, der wirklich gute Arbeit auszeichnet. Eine Putzkraft müsste dann mit 30 Euro brutto vergütet werden. Das sehe ich noch nicht. Die Gefahr, dass wieder nur prekäre Arbeit entsteht, ist relativ groß. Und da würde ich aus feministischer Perspektive sagen: Wenn wir Gleichberechtigung wollen, dann für alle Frauen! Das heißt, wir müssen für Arbeitsmigrantinnen und Frauen mit niedrigen Qualifikationen genauso die Chancen schaffen, dass sie in die Berufe gehen können, die sie wirklich machen möchten. Denn sie haben ja auch ein Recht auf berufliche Verwirklichung.
Müssen wir uns eingestehen, wenn wir Arbeit delegieren, dass wir unsere Zeit für wichtiger halten als die von anderen?
Ja. Wenn ich Tätigkeiten delegiere, die ich eigentlich selber übernehmen könnte, wie etwa zu putzen, funktioniert das nur, wenn in meinen Augen die Zeit der Personen, die das übernehmen, weniger wert ist. An diesem Punkt zeigt sich, dass Klassendenken immer noch eine weitverbreitete Haltung ist, egal für wie aufgeklärt und gleichberechtigt wir uns halten. Eine feministische Haltung dazu müsste eigentlich sein: Klar, Arbeitsteilung muss sein! Menschen müssen entlastet werden, gerade wenn es große Familien sind. Oder solche, in denen Menschen leben, die gepflegt werden müssen. Oder wenn man selbst eine chronische Krankheit hat und die Arbeit nicht selbst tun kann. Aber da muss trotzdem das Anliegen bleiben: Wir schaffen gute, qualifizierte und abgesicherte Arbeit für alle.
Was will eine feministische Zeitpolitik?
Wir können fragen: Wie sähe unsere (Arbeits-)Kultur aus, wenn wir die Frauen zuerst fragen würden? Oder die Care-Verantwortlichen? Erhebungen zeigen: Die meisten wünschen sich Arbeitszeiten von unter 30 Stunden pro Woche. In der feministischen Zeitpolitik wäre auf jeden Fall eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung ganz oben bei den Prioritäten mit dabei. Weniger zu arbeiten, das fordern auch Klimaaktivist:innen. Dieser Zusammenhang wird zu wenig beachtet. Lange Arbeitszeiten bedeuten hohe Produktivität und Wirtschaftswachstum. Und das verursacht einen hohen CO₂-Ausstoß und damit Klimaschäden. Es gibt Studien, die ausgerechnet haben, wie klimaschädlich eine Arbeitsstunde in den unterschiedlichen Ländern im Durchschnitt ist – und wie die Arbeitszeiten sinken müssten, um nicht klimaschädlich zu sein. Dieser Wert lag für Deutschland gerade mal bei sechs Stunden – pro Woche! Das heißt nichts anderes als: Wir müssen uns von der Produktivität, wie wir sie heute kennen, verabschieden und uns für klimaverträglicheres Arbeiten engagieren.
Du schreibst, wir unterschätzten "das Potenzial eines Lebens ohne Drehbuch", was meinst du damit?
Das ist ein Zitat des amerikanischen Gender- und Queer-Theoretikers Jack Halberstam. Er meint, dass queere Menschen in einer anderen Zeit-Kultur leben, weil in ihrer Biografie andere Meilensteine relevant sind, zum Beispiel ihr Outing. Halberstam sieht darin auch etwas Gutes. Queere Menschen könnten sich unter Umständen leichter von gesellschaftlichen Erwartungen freimachen, etwa: Man heiratet irgendwann, man bekommt Kinder. Ich finde, das ist ein wichtiger Anstoß für alle Menschen: Wonach richte ich eigentlich mein Leben aus? Was finde ich wichtig? Und wo habe ich vielleicht Druck verspürt, etwas innerhalb einer bestimmten Zeit zu erreichen, was gar nicht meinen eigenen Wünschen entsprach oder für das ich mich nicht bewusst entschieden habe? Das Leben als etwas Offenes zu betrachten, das nicht unbedingt ein Drehbuch braucht, könnte vielen Menschen eine größere Freiheit geben.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 12/22.
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