Stehen sich Frauen selbst im Weg, wenn es um Gleichberechtigung geht? Mirna Funk findet ja – und Ann-Kristin Tlusty findet das zu einfach. Zwei Feministinnen, zwei Meinungen…
Ein Zitat von Mirna Funk hat auf unserem Instagram-Kanal eine echte Kontroverse ausgelöst. Deshalb haben wir uns entschieden, das gesamte Gespräch live zu stellen, damit ihr das Zitat im Kontext lesen könnt.
Ein Sommerabend. Mirna Funk, 41, ist in Tel Aviv, Ann-Kristin Tlusty, 28, in Berlin, die beiden kennen sich da noch nicht persönlich, sondern erst durch ihre Bücher. Wir sprechen über Feminismus in Deutschland und werden zweimal unseren Zoom-Call verlängern müssen. Weil das Thema westdeutsche versus ostdeutsche Sozialisation eine Rolle spielen wird, lege ich offen, dass ich im Westen aufgewachsen bin, als ältestes von drei Kindern, mit einer Mutter, die zu Hause war – und schon sind wir mittendrin ...
Mirna: Ihr hattet also beide Hausfrauen als Mütter.
EMOTION: Ja. Du machst in deinem Buch "Who Cares" klar, dass du die Hausfrauenrolle problematisch findest, Teilzeitarbeit ebenso. Das liest sich manchmal so, als müssten Frauen nur aufhören zu jammern, Vollzeit arbeiten und, zack, wäre die Gleichberechtigung da.
Mirna: Es geht mir nicht ums Jammern. Frauen müssen verstehen, dass es kein Leben auf Augenhöhe mit einem Partner – oder auch einer Partnerin – gibt, wenn man finanziell abhängig ist. Wenn ein Mensch meine Existenz in den Händen hält, gibt es ein akutes Machtgefälle. Vermutlich würden diese ganzen Gaps von Lohn bis Orgasmus relativ schnell verschwinden, wenn Frauen finanziell unabhängig wären. Im Ostteil dieses Landes verdienen Frauen mitunter mehr als Männer, der Pension Gap ist im Westen doppelt so hoch, und es ist nachgewiesen, dass das Gefühl, sexuell befriedigt zu sein, im Osten größer gewesen ist durch die finanzielle Unabhängigkeit, das schreibst du ja auch, Ann-Kristin. Und unabhängig wird man nun mal durch Arbeit.
EMOTION: Ann-Kristin, du kritisierst in deinem Buch "Süß" Mirnas Haltung als "Potenzfeminismus" und findest es zu einfach, vor allem an weibliche Eigenverantwortung zu appellieren und "zum fröhlichen Empowerment" aufzurufen. Warum?
Ann-Kristin: Empowerment findet ja nicht im luftleeren Raum statt. Die Gesellschaft, in der wir leben, beeinflusst mit ihren Strukturen, wie sehr wir uns überhaupt empowern können. Ich glaube, dieser Appell erreicht nur eine kleine, exklusive Gruppe: Frauen, die finanziell eher gut aufgestellt und unabhängig sind, die größtenteils weiß und akademisch gebildet sind, die die Ressourcen haben, eine Karriere anzusteuern, und die Zeit haben, sich sexuell auszuleben. Ich denke, wir brauchen eher einen Wandel zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt leben können, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung oder Herkunft. Dann hätten alle die Chance, sich zu empowern. Doch dafür müssen wir Strukturen ändern und nicht Frauen vorwerfen: Du übernimmst ja keine Verantwortung für dich.
Mirna: Ich halte es für einen Irrglauben, dass das, was du "Potenzfeminismus" nennst, etwas für die Privilegierten ist, und sich dieser andere Feminismus so unglaublich doll für "die Schwachen" interessiert, damit sie sich aus ihren prekären Verhältnissen lösen können.
EMOTION: Was ist für dich: dieser andere Feminismus?
Mirna: Durch die westdeutsche Sozialisation dominiert in Deutschland ein Feminismus, den ich "Reihenhausfeminismus" nenne. Den könnte man auch wunderbar als Privilegfeminismus bezeichnen. Denn gerade Frauen, die nicht arbeiten, oder so, wie deine Mutter, Ann-Kristin, zehn Jahre nicht gearbeitet haben, sind doch in einer privilegierten Situation – und das übrigens im Gegensatz zu vielen nicht-weißen Frauen oder zu denen aus Nicht-Akademiker-Verhältnissen. Meine Großmütter und meine Mutter mussten und wollten arbeiten, und ich kann und will es mir nicht leisten, Teilzeit zu arbeiten. Ich kritisiere in meinem Buch Frauen, die das Privileg haben, in Teilzeit oder gar nicht zu arbeiten und sich freiwillig in eine Abhängigkeit begeben, die den meisten irgendwann auf die Füße fallen wird, wie die Scheidungszahlen klar zeigen.
EMOTION: Was willst du ihnen sagen?
Mirna: Dass sie sich fragen sollten, ob sie sich nicht lieber aus ihren privilegierten Verhältnissen rausbegeben sollten, um sich endlich unabhängig zu machen. Dass das geht, beweisen schließlich alle Frauen, die gar nicht die Wahl haben. Den Privilegfeministinnen sind die Schwachen doch völlig egal. Denn sie verstehen gar nicht, dass es eben Potenz braucht, seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie haben den Begriff der Care-Arbeit geschaffen, damit niemand an ihrem Status quo rütteln kann.
Ann-Kristin: Care-Arbeit ist doch keine feministische Fantasie. Silvia Federici und Mariarosa Dalla Costa haben in den 70ern die "Lohn für Hausarbeit"-Kampagne gestartet, um klarzumachen, wie wichtig diese Arbeit für die Gesellschaft ist. Von Federici gibt es den berühmten Satz: "Sie nennen es Liebe, wir nennen es unbezahlte Arbeit." Die Idee, Frauen seien einfach besser darin, andere zu umsorgen, herrscht bis heute vor, und das wirkt sich auch auf die Erwerbsarbeit von Frauen aus.
EMOTION: Inwiefern?
Ann-Kristin: Das hat mit den gewachsenen Strukturen zu tun: Weibliche Arbeit wird oft mit Care-Arbeit assoziiert, und das führt dazu, dass weibliche Erwerbstätigkeit abgewertet wird, sogar dann, wenn sie gar nichts mit Care zu tun hat. Aber um bei diesem Aspekt zu bleiben: Berufliche Care-Arbeit wird abgewertet, weil sie vor allem von Frauen geleistet wird. 80 Prozent aller Beschäftigten im Sorge-Sektor sind weiblich. Die Bezahlung ist schlecht, die Arbeitsbedingungen sind miserabel und es gibt kaum Anerkennung – Systemrelevanz hin oder her.
EMOTION: Weil es Teil des Lohns ist, dass Frauen ihr "natürliches Bedürfnis" sich zu kümmern, stillen können?
Ann-Kristin: Ja, und hinzu kommt, dass viele Frauen im Privaten das Gros der Care-Arbeit leisten und deswegen lange nicht oder in Teilzeit arbeiten, weil sie Kinder oder Pflegebedürftige versorgen oder Betreuung organisieren. Das kann man bewerten, wie man will, Fakt ist: Es gibt auch einen Gender Care Gap, der den Pay Gap begünstigt, sodass viele Frauen später echt mickrige Renten bekommen.
EMOTION: Hier ein paar Zahlen: Die Einkommenslücke, der Gender Pay Gap, zwischen Männern und Frauen lag 2021 bundesweit bei 18 Prozent, die Rentenlücke lag 2019 in Westdeutschland bei 49 Prozent, im Gebiet der ehemaligen DDR hatten Frauen "nur" 20 Prozent weniger Rente. Bei Heteropaaren mit "klassischer" Rollenaufteilung kommen Männer häufiger zum Orgasmus, Frauen im Sozialismus hatten erwiesenermaßen besseren Sex. Die jüngste Zahl zur Care-Lücke sagt, Frauen wenden täglich im Schnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf.
Ann-Kristin: Und das Perfide ist, dass es gesellschaftlich anerkannt wird, wenn Frauen diese Rollen ausfüllen. Wir lernen früh: Wenn ich mich fürsorglich zeige, bekomme ich dafür Anerkennung. Wenn ich mich autonom zeige, werde ich dafür irgendwie komisch angesehen. Frauen wird immer noch nahelegt, dass es gut ist, beziehungsorientiert zu sein, fürsorglich zu sein, andere mitzubedenken, all dieser Kram, den man heute Mental Load nennt. Es gibt zahlreiche sanfte Zwänge, die Frauen in diese Rollen treiben, und wer sich entzieht, ist dann zum Beispiel eine Rabenmutter, die ihre Kinder vernachlässigt.
Mirna: Und das soll erklären, dass 30 Prozent der Frauen in diesem Land gar nicht arbeiten und 40 Prozent in Teilzeit? Ich bekomme viele Nachrichten von Frauen in deinem und in meinem Alter. Da schreibt mir zum Beispiel eine westdeutsche Frau, dass sie mit zwei Kindern in ihrem Reihenhaus sitzt und der Alte betrügt sie die ganze Zeit. Und sie ist nicht die Einzige. Ich schreibe dann: Fang doch wieder mit dem Job an! Die Kinder sind doch längst in der Schule. Was bist du denn zu Hause? Aber sie tun es einfach nicht.
EMOTION: Vieles an patriarchalen Erwartungen haben wir verinnerlicht, selbst wenn Frauen sich zunehmend fragen, wieso sie überhaupt ein schlechtes Gewissen haben.
Mirna: Ach, das ist so ein Lieblings-Turn in Deutschland, dieses: "Ich kann ja nicht! Das Patriarchat. Das System." Ich glaube an die Kraft des autonomen Subjekts. Diese Frauen aus dem Westen sind anders aufgewachsen. Und ich denke, es hat auch viel damit zu tun, dass Männer sagen: "Meine Frau, die muss nicht arbeiten gehen. Mein Penis ist so groß, der kann eine ganze Familie ernähren." Das ist ein Distinktionsmerkmal, da wird sich gern nach "unten" abgegrenzt.
EMOTION: Es gibt die Studie von Cornelia Koppetsch und Sarah Speck, die Ann-Kristin im Buch zitiert, wonach selbst in Hetero-Partnerschaften, in denen die Frau weitaus mehr verdient, die Frauen mehr Care-Arbeit leisten – und das im akademischen Milieu, wo beiden Geschlechtergerechtigkeit besonders wichtig ist.
Ann-Kristin: Ja, egal, für wie aufgeklärt sich diese Paare halten, erledigen diese Frauen zu Hause mehr Arbeit. Die Studie stellt fest, sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sich der Mann aufgrund ihrer besseren Position gekränkt oder kastriert fühlen könnte, und gleichen das aus, indem sie mehr Care-Arbeit übernehmen. Es wäre ja schön, wenn es reichen würde zu sagen: Hey, wir empowern uns und lassen diesen ganzen patriarchalen Kram beiseite.
Mirna: Ich halte das ganze Thema Care-Arbeit für unglaublich hochgebauscht. Wir müssen wirklich unbedingt die Unterschiede zwischen Ost und West anerkennen.
EMOTION: Welche Unterschiede siehst du?
Mirna: Im Osten haben 91 Prozent der Frauen gearbeitet. Es gab breitflächig Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Das hat der Westen alles kaputt gemacht. Jetzt gibt es die vierte Nachkriegsgeneration ostsozialisierter Frauen, die unabhängig ist – die wenigsten von denen fragen sich: Was erwartet ein Mann von mir? Wie muss ich sein, um eine gute Mom zu sein? Die Frauen in meinem Umfeld sind Macherinnen. Die haben alle ostdeutsche, jüdische, Working-Class- oder Migra-Backgrounds. Ich erwarte von den weißen Westfrauen, dass sie begreifen, ihre Probleme haben für viele Frauen in diesem Land keine Relevanz, weil es ein Luxus ist, sich zu fragen, ob und wie viel man als Frau und Mutter arbeiten kann. Wenn wir also darüber reden, was man als Frau da angeblich alles so verinnerlicht hat, möchte ich, das mitbedacht wird: Das ist eine Verinnerlichung eines westdeutsch-sozialisierten Frauseins.
Ann-Kristin: Für die Frauen in meinem Umfeld sind viele der Sachen, die du bemängelst, selbstverständlich, und ich kenne keine, die von einer Vollernährer-Versorgungsehe träumt. Ich schreibe ja auch, was in der DDR anders gelaufen ist, und finde es wichtig, dass beispielsweise bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten angeboten werden. Trotzdem haben auch in der DDR Frauen den Großteil der Care-Arbeit geleistet. Das ist ein soziologischer Fakt. Ist ja nicht so, als hätte die DDR das Patriarchat abgeschafft.
Mirna: Das sage ich auch nicht. Aber es gab nicht die Fantasie dieser Übermutter, die westdeutsch-sozialisierte Frauen immer noch von der Erwerbsarbeit abhält. Klar, bin ich eine vom Patriarchat beeinflusste Frau, wenn ich in einer Beziehung gar nicht ich sein darf, weil ein Mann meine Existenz und die meiner Kinder in den Händen hält. Wenn du nicht unterdrückt werden willst, musst du dich finanziell unabhängig machen.
EMOTION: Viele Frauen haben das Gefühl, wenn mein ganzes Einkommen für die Kita draufgeht und es für alle nur mehr Stress bedeutet, bleibe ich doch besser zu Hause.
Mirna: Würde das Ehegattensplitting endlich abgeschafft, sähe die Rechnung anders aus. Und warum soll denn sie für die Kita zahlen? Wir müssen uns echt mal angucken, wie viele von den Frauen, die in Teilzeit oder gar nicht arbeiten verheiratet und wie viele alleinerziehend sind. Ich schwöre euch, von denen, die nicht voll arbeiten, ist der größere Teil in einer Ehe, denn für eine Alleinerziehende wäre die Entscheidung: Arbeit oder Hartz-IV. Überhaupt frage ich mich oft, was diese ganze Care-Arbeit überhaupt sein soll.
EMOTION: Wirklich?
Mirna: Ich bin alleinerziehend, der Vater meiner Tochter lebt im Ausland, ich arbeite Vollzeit, seit Etta sechs Monate alt ist. Jetzt ist sie sechs Jahre, steht morgens auf, putzt sich die Zähne, zieht sich an, während ich Frühstück mache – Frühstück, was ich mir sowieso selbst machen müsste. Sie war ab ihrem ersten Lebensjahr von 8.30 bis 17 Uhr in der Kita – ja, da kriegen manche jetzt sicher einen Herzinfarkt, aber auch das ist das Ergebnis einer westdeutschen super konservativen Sozialisation, und wenn jetzt die Schule beginnt, ist sie sogar ab 7.30 Uhr aus dem Haus. Was sollen diese Stunden Care-Arbeit sein? Wenn wir über ein Baby sprechen, okay. Aber einkaufen, Wäsche waschen, Wohnung sauber machen, das müsste ich ja auch ohne Kind. Das ist einfach Leben. Warum also dieser Begriff Care-Arbeit? Meine These: Das Zuhausebleiben soll damit aufgewertet werden. Das bringt uns aber in Sachen Gleichberechtigung keinen Schritt weiter.
Ann-Kristin: Für mich gehört zum Feminismus, dass man die Lebensrealitäten anderer berücksichtigt. Wenn wir von Care-Arbeit sprechen, reden wir nicht nur von Kindern, sondern zum Beispiel auch von kranken Angehörigen. 24 Stunden am Tag einen Demenzkranken zu betreuen, weil man sich das Heim nicht leisten kann, ist durchaus eine verbreitete weibliche Lebensrealität. Jede vierte Frau in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor, viele in Vollzeit, nicht in Teilzeit. Das Geld reicht trotzdem nicht, und diese Frauen können sich durch Restaurantbesuche, Reinigungskraft und Babysitting nicht von der Care-Arbeit freikaufen. Ich finde es wichtig, sich diese Lebensrealitäten, in denen sich viele Frauen befinden, anzugucken, weil wir nur so die Mängel in unserer Gesellschaft erkennen.
Mirna: Natürlich lassen sich manche Strukturen nur gesellschaftlich verändern. Aber wir sind die Gesellschaft. Deswegen können auch wir die Strukturen ändern. Wir müssen die Verantwortung für uns selbst übernehmen. Da draußen gibt es keine geheimen Mächte, die aktiv unser Leben anstrengend machen. Zu verstehen, dass wir frei sind, tut enorm weh. Zu verstehen, dass wir auf uns zurückgeworfen sind, tut enorm weh. Aber wenn wir das nicht tun, ändert sich nichts.
Ihr wollt mehr wissen? Hier verlosen wir die Bücher "Who cares" von Mirna Funk und "Süß" von Ann-Kristin Tlusty jeweils zehn Mal. Und hier geht's zu Teil 2 des Gesprächs!
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