Wir laufen, planken, machen Yoga. Klar, fit bleiben ist wichtig. Aber was gibt unserer Seele Kraft? Tatsächlich lässt sich unsere innere Balance trainieren wie ein Muskel. Und das ist gar nicht so schwer.
Neulich bin ich morgens früh an der Alster entlanggelaufen: Dunkle Wolken schoben sich in der Dämmerung über den Himmel. Die Wege waren herrlich leer. Als ich mein Fahrrad aufschloss, um wieder nach Hause zu radeln, merkte ich, dass meine Hose bis übers Knie mit Schlamm bespritzt war. Egal! Bewegung tut einfach gut. Dass wir sie brauchen, um fit zu sein, uns wohlzufühlen und Krankheiten vorzubeugen, ist klar. Genauso, dass wir etwas dafür tun müssen. Alles Übungssache. Und wir wissen: Rückenschmerzen kann man gut vorbeugen, indem man regelmäßig Rumpf- und Bauchmuskulatur stärkt.
Psychischen Beschwerden vorbeugen? Ja, das geht
Die Gesundheit unserer Psyche betrachten wir dagegen oft eher als etwas Selbstverständliches. Oder als etwas, worauf wir wenig Einfluss haben. Kann man auch psychischen Beschwerden vorbeugen? Können wir innere Stabilität und gedankliche Flexibilität trainieren und unsere seelischen Widerstandskräfte stärken? Ja, wir können!
Unseren Organen, Muskeln, Sehnen und Knochen tut ein Mix aus Aktivitäten gut: Bewegung und der harmonische Wechsel von An- und Entspannung, genug Schlaf, eine ausgewogene Ernährung. Doch was braucht unsere Psyche, um resilient zu bleiben, also biegsam, belastbar und flexibel? Einen ersten Hinweis, was das sein könnte, gibt das englische Programm "Five Ways to Wellbeing", das begleitet ist von einem jährlichen Tag der geistigen Gesundheit. Damit sollen Brit:innen inspiriert und ein Bewusstsein dafür geweckt werden, wie wichtig es ist, etwas fürs mentale Wohlbefinden zu tun. Alle Veranstaltungen und Workshops des Programms kreisen um diese fünf Ratschläge: suche Gemeinschaft. Bewege dich. Sei neugierig und achtsam. Höre nie auf zu lernen. Tue etwas für andere. Die Empfehlungen mögen auf den ersten Blick selbstverständlich, ja, fast trivial klingen. Zugleich macht ihre Einfachheit sie reizvoll, weil jede:r sie für sich individuell ausgestalten kann. Tatsächlich haben Wissenschaftlerinnen eines Londoner Thinktanks dafür aufwendig Studien ausgewertet, um Wirksames auf den Punkt zu bringen.
Verstehen, wo die eigenen Themen liegen
Wenn wir auf unser eigenes Leben blicken, unsere alltäglichen Belastungen anschauen, bestimmte Sorgen, die uns immer wieder zu schaffen machen, Ungelöstes, das wie ein Stein im Schuh ständig drückt, können wir das als Einladung verstehen, unser eigenes passgenaues Programm mit ganz persönlichen Zielen für unser seelisches Wohlbefinden zu formulieren. Für die eine mag es eine Entwicklungsaufgabe sein, sich bewusst abzugrenzen. Ein anderer entdeckt auf diesem Weg vielleicht, wie wichtig es ist, Dinge zu akzeptieren, um Kraft zu schöpfen. Oder begreift, dass Freundschaften mehr Raum im Leben bekommen sollen. Oder entwickelt aus dem Wunsch nach mehr Freude die Kompetenz, das ewige Grübeln in produktivere Bahnen zu leiten. Das Feld ist weit.
Psychisches Wohlbefinden und seelische Gesundheit hängen wesentlich davon ab, ob unsere Grundbedürfnisse erfüllt sind. Das ist für die meisten ein Mix aus Kontrolle und Orientierung,
das Bedürfnis nach Bindung, einem guten Selbstwertgefühl und Freude an Genuss. Zu erkennen, wo es mangelt und welches Ziel sich daraus ableiten lässt, ist ein entscheidender Schritt. Für mich ist es derzeit dieser Wunsch: Ich möchte Zeit, nur für mich allein. Dafür muss ich üben, sie mir zu nehmen, mir diese Zeit zu gestatten. Und zum Beispiel morgens joggen gehen, statt Schulbrote zu schmieren.
Wer konkrete Ziele setzt, kann eher etwas verändern
"Mit unserer seelischen Fitness ist es ähnlich wie beim Sporttreiben", schreibt die Psychotherapeutin Alice Romanus-Ludewig in ihrem Buch "Workout für die Seele" (Junfermann, 20€). "Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen setzen wir uns selten in Bewegung. Wenn wir eine Sportart erlernen, haben wir zumindest eine Vorstellung, was wir können und erreichen möchten. Wir sehen uns Gewichte stemmen oder leichtfüßig durch den Wald laufen. Auf der seelischen Ebene ist es nicht anders. Ohne konkretes Ziel sind wir nicht bereit uns zu verändern." Bei der Formulierung des Zieles ist wichtig, sich nicht mit anderen zu vergleichen, sondern in Ruhe zu schauen: Was brauche ich jetzt? Was tut mir gut? Was ist für mich wichtig? Welche Veränderungen wünsche ich mir? Genauso gibt es übergeordnete Kompetenzen, die jeden Menschen gleichermaßen stärken und uns helfen, Herausforderungen zu meistern. Dazu gehört zum Beispiel Know-how über unsere Art zu denken. Man muss kein:e Hirn-forscher:in sein, um gut durch den Alltag zu kommen, aber es macht vieles leichter, wenn wir ein paar grundlegende Dinge wissen. Zum Beispiel, dass die Evolution unser Gehirn nicht entstehen ließ, damit es uns glücklich macht.
Heiteres Glück ist nie dauerhaft – und das ist völlig normal
Unser Gehirn soll Probleme lösen, kurz: uns helfen, zu überleben. Deshalb fällt es unserem Kopf eher schwer, zuzulassen, dass wir gedankenlos und happy das Hier und Jetzt genießen. Himmelhochjauchzende Verliebtheit, der Kick nach einer bestandenen Prüfung, der erste Ferientag – wunderbar. Aber heiteres Glück erleben wir nie dauerhaft. Statt das Leben zu feiern, geht das Gehirn bei den meisten Menschen bald wieder dazu über, Vergangenes (vorzugsweise Schiefgegangenes) auszuwerten: Wie konnte das passieren? Kann ich daraus lernen? Oder es denkt über Zukünftiges nach, spielt Möglichkeiten durch: Wie wird das wohl werden? Was könnte schiefgehen?
Diese Neigung zum Sorgenvollen und Negativen darf man ihm wirklich nicht übel nehmen. Es ist einfach eine evolutionäre Erfolgsgeschichte; denn in der Steppe haben nicht die fröhlich Pfeifenden überlebt.
"Diese Funktionsweise hat nichts mit einer psychischen Erkrankung zu tun", sagt Psychologe Andreas Knuf. "Es kann allerdings zu 'Übertreibungen' kommen, wie Zwangsgedanken oder Gesundheitsängste, die Krankheitswert haben." Wenn wir um die Arbeitsweise unseres Gehirns wüssten, nähmen wir dunkle Gedanken gelassener und könnten im Fall, dass unser Gehirn etwas zu übereifrig arbeitet und beim Grübeln heißläuft, das entschlossener beenden: "Schluss, das bringt mich nicht weiter."
Die Betrachtung aus der Metaebene schafft Distanz
Aber es geschieht noch etwas, wenn wir darüber nachdenken, was in unserem Kopf vor sich geht, wenn wir das Ganze von der Metaebene aus betrachten. Mit der Überlegung "Aha, solche Sachen macht mein Gehirn also" gewinnen wir wohltuende Distanz zu schwierigen Gedanken und Gefühlen. Das ist ein regelrechtes Zaubermittel, eine Schlüsselkompetenz für innere Stabilität.
Seit einigen Jahren arbeiten Psychotherapeut:innen dafür an neuen Therapieformen, die speziell die Mentalisierungsfähigkeit fördern. Mentalisieren, so lautet das Fachwort dafür, wenn wir uns selbst beim Denken zuschauen und unser Fühlen wahrnehmen und präzise benennen, unsere eigenen (und auch die anderer Menschen) mentalen Zustände deuten können. Im Prinzip lernen wir das alle von Kindheit an. Nur unterschiedlich gut. Wenn wir gestresst sind oder Angst haben, nimmt diese Fähigkeit dummerweise meist rapide ab, bekannt als Tunnelblick. Doch je öfter wir es üben, desto besser gelingt es uns. Das kann man mit Sporttraining vergleichen. Gedanklich einen Schritt zur Seite treten – am besten jeden Tag zehnmal!
Neubewertung – Übung macht den Meister
Wer so zu denken lernt, bekommt eine weitere "Stärkungspille": Neubewertung! Was immer uns im Leben geschieht, Ungerechtigkeiten, Schicksalsschläge, Fehlentscheidungen, eigene Irrtümer, Pech – daran können wir oft nichts (mehr) ändern. Aber wie wir es für uns einordnen, ob wir damit ab- schließen oder das Leid festhalten, das bleibt unsere Freiheit – und die können wir dann bewusst nutzen, wenn es uns gelingt, etwas Abstand zu nehmen. Oder frei nach Neil Armstrong gesagt: "Es ist ein kleiner Schritt für den Körper, aber ein riesiger Sprung für die Psyche." Jedes Mal, wenn wir ihn tun, geht es uns besser.
HILFT! JETZT!
Manchmal funkt unsere Psyche SOS. Zum Glück können wir sofort was dagegen tun.
Etwas im Griff haben
Kontrollverlust, Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit lösen Angst und Unruhe aus. In solchen Momenten aktiv etwas zu tun, was sich kontrollieren lässt, besänftigt erstaunlich gut, etwa den Balkon bepflanzen, kochen, ein Instrument spielen (wenn man’s kann) oder Online-Yoga machen.
Krisen anders einordnen
Die Forschung weiß: Widrigkeiten zu durchleben führt zu mehr Wohlbefinden als ein gänzlich unbelastetes Leben. Natürlich kommt es aufs Maß an.
Den aufgedrehten Geist ablenken
Besonders effektiv ist es, dafür Konzentration und Körperkontrolle gleichzeitig zu trainieren, etwa zu jonglieren oder mit YouTube-Videos Tanzschritte zu üben. Gut für den Körper sorgen: Schlafen, in Ruhe essen, wenig Alkohol, Bewegung an der frischen Luft, die Muskeln lockern, all das gibt auch der Psyche neue Kraft.
Weniger Informationen
Das Leibniz-Institut für Resilienzforschung rät speziell Pandemie-Gestressten, bewusste News-Pausen einzulegen. Starke Sinneserfahrungen. Intensive Gewürze wie Ingwer und Chili, ein Lavendelbad, kalte Güsse, das Kneten eines Massageballs oder der Blick ins Grüne: Die Sinne (und damit andere Hirnareale) bewusst anzusprechen, hilft aus Grübelspiralen heraus.
Expressives Schreiben ausprobieren
Die Methode, die der US-amerikanische Psychologieprofessor James W. Pennebaker entwickelt hat, dämpft schnell und wirkungsvoll Stress. In 20 bis 30 Minuten runterschreiben, was belastet. Stil, Kommasetzung: egal. Hauptsache ehrlich. schreibenwirkt.de
Dieser Artikel erschien erstmals in EMOTION 4/22.
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