Die Pandemie hat unser Bewusstsein für Viren und Keime gestärkt – und bei vielen Menschen damit auch die Angst vor einer Ansteckung. Macht uns Corona zu Mysophobiker:innen?
Mysophobie – die neue Panik vor Keimen
Der Desinfektionsmittel-Markt boomt in der Corona-Pandemie: Ende Oktober 2020 war der Absatz an Desinfektionsmitteln im Vergleich zum Vorjahresdurchschnitt laut Statistischem Bundesamt mehr als doppelt so hoch. Virolog:innen geben uns vor, wie häufig wir unsere Hände waschen sollen und der Griff zum Nasen-Mund-Schutz erfolgt beim Verlassen der Wohnung mittlerweile automatisch. Denn wir wissen, dass sie überall lauert, die unsichtbare Gefahr: mikroskopisch kleine Keime und Viren, durch die wir uns mit Corona anstecken könnten.
Die Angst vor Schmutz und Viren
Die Angst vor Berührung mit Schmutz, Keimen oder Bakterien kann sogar krankhaft sein. Dann spricht man von einer „Mysophobie“ (oder auch: Germophobie). Die Betroffenen fokussieren sich im Alltag so sehr auf möglichen Dreck oder Viren, dass sie ein zwanghaftes Verhalten entwickeln – und zum Beispiel viel zu häufig duschen oder Hände waschen. Denn egal ob auf Türgriffen, Bargeld, Stühlen oder Tastaturen: die Viren könnten ja überall lauern. Deswegen verbringen Mysophobiker:innen ihre Zeit auch am liebsten in ihrem (sauberen) Zuhause und meiden es, vor die Tür zu gehen. Dafür nehmen sie sogar in Kauf, soziale Beziehungen und Kontakte einzuschränken.
Wenn Betroffene Situationen ausgesetzt sind, in denen sich der Kontakt mit vermeintlich verunreinigten Gegenständen oder Personen nicht vermeiden lässt, dann erleben sie manchmal sogar bestimmte körperliche Symptome wie Panik, erhöhter Herzschlag, Übelkeit, Atemnot oder Schweißausbrüche.
Mysophobie und Corona: Entwickeln wir Zwangsstörungen?
In einigen Verhaltensweisen von Mysophobiker:innen dürfte sich der/die ein oder andere vielleicht wiederfinden, denn die Auseinandersetzung mit Schmutz und Keimen begegnet uns ja in der Pandemie täglich: Mittlerweile gehört das ständige Desinfizieren und Händewaschen zu unser aller Normalität. Einer forsa-Umfrage der KKH Kaufmännischen Krankenkasse zufolge reinigen sich 93 Prozent nach dem Nach-Hause-Kommen die Hände.
Auch Isolation und das Meiden von sozialen Kontakten ist zu unserem Alltag geworden. Wie wahrscheinlich ist es aber, dass sich die allgemeine Angst vor einer Ansteckung zu einer Mysophobie entwickelt? Sind wir alle übersensibel im Umgang mit Keimen und Viren geworden? Julia Völker, Beraterin bei der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. gibt aus ihrer Erfahrung heraus Entwarnung. In ihrer täglichen Arbeit habe sie eher weniger davon gehört, dass Waschzwänge durch die Pandemie entstehen. Meist waren die bei den Betroffenen ohnehin schon latent vorhanden. Vorstellen kann sie es sich aber: "Es ist natürlich möglich, dass manche Menschen das ständige Händewaschen dann doch nicht mehr sein lassen können, auch wenn es gar nicht mehr so erforderlich sein wird".
Eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt zumindest, dass es einen "ganz leichten Anstieg über die ersten drei Monate der Pandemie" gab – "speziell für Waschzwangssymptome, aber auch für Symptome von Sammel- und Ordnungszwängen", wie Studienleiterin Prof. Lena Jelinek erklärt. Dieser sei aber so gering, dass er nicht von klinischer Relevanz sei. "Inwieweit psychische Störungen zunehmen, wird man erst im Langzeitverlauf sagen können", erklärt Jelinek.
Waschzwänge werden in der Pandemie verstärkt
Einen verstärkenden Effekt gibt es allerdings bei Patient:innen, die ohnehin schon von einer Zwangsstörung betroffen sind. Das konnte eine andere UKE-Studie aus dem Jahr 2020 nachweisen. "Wir konnten hier zeigen, dass zu Beginn der Pandemie die Belastung bei Menschen mit Zwängen subjektiv zugenommen hat", erklärt Jelinek. Auch eine zweite Befragung im weiteren Verlauf der Pandemie gab es bereits, allerdings sind die Daten noch nicht veröffentlicht. Dabei soll sich aber gezeigt haben, dass die Belastung generell eher wieder abnahm, bei Menschen mit Waschzwängen aber anhalte.
Diesen Eindruck hat auch Völker: "Zwänge, die bereits vorhanden waren oder die Betroffene bereits im Griff hatten, wurden wieder verstärkt". Denn plötzlich gehen tatsächlich reelle Gefahren davon aus, wenn man nicht auf ausreichende Hygienemaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen oder Desinfizieren achtet – das triggert natürlich zusätzlich.
Was löst eine Mysophobie aus?
"Generell sind es häufig junge Erwachsene, bei denen die Erkrankung ausbricht – also so im späten Jugendlichenalter, wenn es auch um Umbruchsituationen geht. Da spielen häufig auch Unsicherheiten und Angst eine Rolle", erklärt Völker. Aber auch genetische Faktoren, Erziehung oder traumatische Lebensereignisse können Mysophobie verursachen. Wenn Kinder zum Beispiel überbehütet aufwachsen, dann neigen sie später eher zu Zwangsstörungen.
Die Angst vor Ansteckung mit Schmutz und Keimen loswerden
Mysophobie und die damit verbundenen Waschzwänge lassen sich mit einer kognitiven Verhaltenstherapie behandeln. Dabei werden begleitete Expositionsübungen gemacht: Die Patient:innen fassen dabei zum Beispiel eine Türklinke an, ohne sich danach die Hände zu waschen. So setzen sie sich Schritt für Schritt ihren Ängsten aus, um sie dann überwinden zu können.
Es gibt noch keine Zahlen darüber, wie viele Menschen in Deutschland an Mysophobie leiden. Bekannt ist aber, dass Wasch- und Kontrollzwänge die am häufigsten auftretende Art von Zwangsstörungen sind. Völker vermutet aber auch eine hohe Dunkelziffer. Denn häufig seien die Grenzen fließend, viele Personen mit Waschzwang würden häufig einfach als überaus hygienisch wahrgenommen.
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