Häusliche Gewalt erlebt eine von drei Frauen in Deutschland. Die Journalistin und Autorin Antje Joel spricht darüber, was sie selbst erlebt hat.
In Deutschland werden jede Stunde 13 Frauen Opfer von Gewalt in Partnerschaften. Jede dritte Frau ist statistisch gesehen mindestens einmal in ihrem Leben betroffen. Häusliche Gewalt gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Um darauf aufmerksam zu machen, wie strukturell das Problem ist, hat das Nachrichtenmagazin "Focus" diese Woche 45 Frauen auf seinem Cover abgebildet, die ihr Schweigen brechen – von der Sozialarbeiterin über die Angestellte bis zur Geschäftsführerin. Weil häusliche Gewalt, so schreibt es FOCUS-Chefredakteurin Franziska Reich, "weder ein Frauenthema noch privat" ist. Wir dürfen nicht wegsehen, sondern müssen als Gesellschaft über dieses Thema sprechen. Weil wir statistisch gesehen auch Frauen kennen, die Opfer häuslicher Gewalt sind – und Männer, die Täter sind. Die Journalistin und Autorin Antje Joel war selbst Opfer von häuslicher Gewalt. Hier erzählt sie von dem, was sie erlebt hat. Und mahnt dazu, die Verantwortung nicht auf die betroffenen Frauen zu schieben – sondern die Täter in die Verantwortung zu nehmen.
Ich bin jede dritte Frau. Eine von drei Frauen in Deutschland und überhaupt in unserem ganzen westlichen Kulturkreis, die von dem Mann, den sie liebte, missbraucht und misshandelt wurde. Isoliert. Gedemütigt. Mit Füßen getreten. Geschlagen. Mit den üblichen Unterbrechungen: über fünf Jahre.
Über die Autorin: Antje Joel (geb. 1966) ist Journalistin und Autorin. In ihrem Buch "Prügel. Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt" erzählt sie offen und ehrlich ihre eigene Geschichte und analysiert darüber hinaus den gesellschaftlichen Kontext des Themas häuslicher Gewalt.
Gewalt in Beziehungen erleben Millionen von Frauen
Jede dritte Frau. Das sind allein in Deutschland mehr als 12 Millionen Frauen ab 15 Jahren, die einmal im Leben in einer Beziehung Gewalt erfahren. Auch ich muss mich dieser Zahl jedes Mal, bevor ich sie nenne, neu versichern. So unfassbar ist sie. Und diese Zahl bedeutet auch, dass eine ungeheuerlich große Zahl der Männer bei uns glaubt, sie hätten das Recht, ihre Partnerin zu misshandeln. Und sie tun das auch. Es sei denn, wir wollen uns weismachen, dass diese 12 Millionen Frauen an immer dieselbe Handvoll ungewöhnlich kaputter Typen "geraten". Doch auch der deutsche Frauenschläger ist ein gewöhnlicher Mann. Meine Geschichte begann, wie die meisten dieser Geschichten beginnen: als die große, einzigartige Liebe. Mit einem Mann, der belesen war, witzig und gut aussehend. Und einer Frau, die wusste, dass sie sich glücklich schätzen durfte, diesen großartigen Kerl "abbekommen" zu haben. P. war der Mann meines Lebens. Das wusste ich auf Anhieb. Beziehungsweise: Er wusste es. Und er ließ es mich wissen. Nie hatte er für eine Frau so gefühlt wie für mich! Wir waren ein Traumpaar!
Häusliche Gewalt: Wie solche Geschichten beginnen
Ich konnte noch Jahre später nicht fassen, was "danach mit uns passiert" war. Wie es mit uns "so weit hatte kommen können". Heute weiß ich: Genau so! So beginnen solche Geschichten. Seine Versicherungen, dass du die Tollste, die Einzige bist, und damit seine Abwertung aller anderen Frauen, all das Gerede von sofortiger, unsterblicher Liebe – das ist keine von seiner späteren Gewalt losgelöste Episode. Es ist ein Teil von ihr. Es sind die ersten Fäden des Netzes, das er um dich spinnt. In dem er dich gefangen hält. In beidem hat er Verbündete.
Die britische Internetseite "Hidden Hurt", also "Versteckter Schmerz", listet 20 früheste Warnhinweise, dass der neue Partner gewalttätig werden wird. Seine augenblickliche, absolute "Gewissheit", dass man "die Richtige" sei, gehört dazu. Ich dachte auch, dass es das sei, was ich für P. fühlte. Und wenn ich (unausgesprochene) Zweifel hatte, fühlte er für mich über sie hinweg. In der Liebeskomödie "Frankie and Johnny" stellt ein "liebestrunkener" Al Pacino über 90 Minuten einer abweisenden Michelle Pfeiffer nach. Und wir werden angehalten, das lustig zu finden. Rührend. Romantisch. Johnny weiß einfach, was das Beste für Frankie ist, nämlich: Er. Der Film endet damit, dass sie sich in den Armen liegen.
Die Angst wurde zu einem Teil von mir.
Antje Joel, Journalistin und AutorinTweet
Wie ein gewalttätiger Mann fühlt
Ich bin sicher: Ihre Geschichte endet so nicht. Lügen gewalttätige Männer, wenn sie ihren Partnerinnen gegenüber von Liebe sprechen? Lundy Bancroft, der in den USA seit über 30 Jahren mit Tätern arbeitet, schreibt in seinem Buch "Warum macht er das? – Wie zornige und kontrollsüchtige Männer denken": "Für gewöhnlich nicht. Die meisten von ihnen tragen tatsächlich ein starkes Gefühl in sich, das sie Liebe nennen. Für viele von ihnen ist es das einzige Gefühl, das sie jemals gegenüber einer Frau empfunden haben. Sie wissen also nicht, dass es nicht Liebe ist." Was ein gewalttätiger Mann fühlt, sei das Verlangen, dass die Frau ihm ihr Leben opfert, um ihn glücklich zu machen. Dass sie ihm jederzeit sexuell zur Verfügung steht. Das Verlangen, andere mit dieser Frau zu beeindrucken. Sie zu besitzen und kontrollieren. Dieses Verlangen ist das, was ein gewalttätiger Mann für Liebe hält. Und oft genug verwechseln wir es mit ihm. Wir alle.
Wie gewalttätige Beziehungen oft ablaufen
Experten und Expertinnen sprechen und schreiben oft vom "Kreislauf der Gewalt in gewalttätigen Beziehungen" (wobei nicht die Beziehung gewalttätig ist, sondern, in 85 Prozent der Fälle, der Mann): Auf eine initiale Phase der Glückseligkeit folge eine Phase wachsender Spannung mit gewalttätiger Eruption und anschließender Reue, auf die dann eine neue, immer kürzer werdende Glücksphase folge.
So fühlte es sich auch für mich an. Oberflächlich. Heute weiß ich: Diesen Kreislauf gibt es nicht. P. war gewalttätig. Immer. Mein dominierendes Lebensgefühl mit ihm war Angst. Ich fürchtete mich. Ständig. Ich weiß nicht, ob mir das damals bewusst war. Ich glaube nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich fünf Jahre – mit Unterbrechungen – überlebt hätte in andauernder, bewusster Angst. Ich glaube, ich überlebte, indem die Angst zu einem Teil von mir wurde.
Angst vor Angriffen: Alltag in einer Beziehung mit gewalttätigem Partner
In den Ruhephasen, den vermeintlichen, fürchtete ich mich davor, dass "es wieder losgeht". Ich hielt nach den Anzeichen dafür Ausschau, nach Veränderungen in kleinsten Nuancen. Ich nahm Witterung auf, wie ein verschrecktes Tier. Ich wachte furchtsam über die Art, wie er sprach, lachte, wie er sich bewegte. Ich versuchte, mein Verhalten dem seinen anzupassen. Manchmal sah ich den Angriff kommen. Öfter sah ich es nicht. Abwenden konnte ich ihn nie. Damals sah ich das brav als mein "Unvermögen". Heute weiß ich, es ist der Beweis dafür, dass auch diese Botschaft, die unsere Gesellschaft misshandelten Frauen vermittelt, ein hinterhältiger, bisweilen lebensgefährlicher Unfug ist.
Frauen sind nicht selbst schuld an den Misshandlungen
Richtig ist: Frauen sind nicht an den Misshandlungen selbst schuld. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Gewalt gegen sie zu verhindern. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Gewalt gegen sie zu beenden. In den Prügelphasen fürchtete ich mich vor P.s Schlägen und Tritten. Ich fürchtete mich, was "ich meinen Kindern antat", indem ich mich "schlagen ließ". So hörte ich es von meiner Familie, von Freunden und von anderen, die über mein "Verhalten" entsetzt waren: "Was tust du deinen Kindern damit an!"
Ich fürchtete mich vor den Nachbarn, vor ihrem Klopfen gegen die Zimmerdecke. Ich fürchtete mich vor der Polizei, die jemand rufen könnte. Und der ich mich dann erklären müsste. Wenn ich, was selten vorkam, selbst um Hilfe rief, fürchtete ich mich vor erhobenen Augenbrauen. Stirnrunzeln. Kopfschütteln. Vor den immer gleichen Fragen: Wie war ich "an so einen Mann geraten"? Warum ließ ich mir das gefallen? Was tat ich, um ihn zu provozieren? Und warum tat ich nichts, um "da wieder rauszukommen"?
Das Problem sind die gewalttätigen Männer
Diese Fragen verschieben den Fokus. Sie verzerren das Bild häuslicher Gewalt. Sie vermitteln die Botschaft: "Das Problem sind die Frauen, die sich misshandeln lassen!" Richtig ist: Das Problem sind die gewalttätigen Männer. Die fallen nicht vom Himmel. Sie sind das Produkt einer Gesellschaft, die der Gewalt gegen Frauen auf vielfältige Art Vorschub leistet. Die sie entschuldigt. Und die sie, so oder so, für Recht erklärt.
Wenn Frauen gehen, wird das Problem in seinem ganzen scheußlichen Ausmaß sichtbar
Damals wusste ich nicht, dass Gehen nicht das Allheilmittel ist. Nicht für die betroffene Frau. Und nicht für unsere Gesellschaft. Wenn Frauen gehen, wird das Problem oft in seinem ganzen scheußlichen Ausmaß sichtbar. Wenn wir es sehen wollen: 75 Prozent der schwerwiegendsten Übergriffe, Mord inklusive, werden von den Gewalttätern verübt, nachdem die Frau gegangen ist. Oder während sie Pläne schmiedet, zu gehen, und der Partner Wind davon bekommt. Und Wind von den Plänen ihrer Partnerin bekommen gewalttätige Männer nahezu immer. Sie sind ausgezeichnet darin, so etwas zu erspüren. Sie sind großartige Gefühls- und Gedankenleser. Das müssen sie sein. Ihre Macht, das Maß an Kontrolle, das sie über die Partnerin haben, hängt davon ab. Wehe der Frau, die sich entziehen will! Oder, fürs Erste, entzogen hat. Es ist ein auch von Experten gern kolportierter Irrsinn, dass die Frauen es in der Hand haben, die Gewalt gegen sie zu beenden, indem sie gehen. Oft wissen die Frauen es besser.
Zu gehen kann den Tod bedeuten.
Antje Joel, Journalistin und AutorinTweet
Die Gesellschaft steht den Männern in nichts nach
Das ist einer der Gründe, warum ich mich bisweilen frage, ob es eine gute Idee war, dieses Buch zu schreiben. Der andere ist, dass die Gesellschaft, dieser große anonyme Nenner, den Männern in ihrer Gewalt gegen Frauen oft in nichts nachsteht. Christine Blasey-Ford, die 2018 gegen den US-Richter Brett Kavanaugh wegen Vergewaltigung aus- sagte, steht seither mit ihrer Familie unter Schutz des FBI. Und während ich dieses schreibe, fordert eine Petition gegen Johnny Depps Exfrau Amber Heard, dass sie wegen ihrer Misshandlungsvorwürfe gegen Depp von der Darstellerliste des neuen "Aquaman"- Films gestrichen wird. Hunderttausende haben bereits unterschrieben. Auch Heard erhält, wie Christine Blasey-Ford, Morddrohungen. Und doch, und genau darum: Schweigen ist keine Option (mehr).
Ich floh vor seinen Schlägen und Tritten die Treppen runter
Der Abend, an dem ich ging, unterschied sich nicht von so vielen anderen Abenden, die ähnlich verlaufen waren. Die Schläge waren nicht härter, als sie an anderen Tagen, in den anderen Jahren gewesen waren. Mir erschienen sie längst normal. Ich hatte meine Flucht nicht geplant. Schon gar nicht plante ich, ihn dauerhaft zu verlassen. Ich floh vor seinen Schlägen und Tritten die Treppen unseres Mietshauses hinunter. Auf der Straße angekommen, ging ich immer weiter. So oder ähnlich muss es Tina Turner gegangen sein, als sie an einem Juniabend 1976 in einem Hotel in Dallas auflief. Mit Kopftuch, blutverschmiert, ohne Geld.
Frauen müssen sich der Gewalt erwehren
Meine Kinder ließ ich zunächst zurück. Ich holte sie nach zwei Wochen, nachdem ich eine Wohnung für uns gefunden hatte. Auch das machten mir Familie, Freunde, Sozialarbeiter zum Vorwurf. Was war ich nur für eine Frau, was war ich für eine Mutter! Sie wählten dieselben Worte und sprachen im selben Tonfall wie der Mann, vor dem ich in Todesangst geflohen war. Ich brauchte 30 Jahre, um das zu erkennen.
Heute wie damals kostet es Frauen ein geradezu übermenschliches Maß an Kraft, sich der Gewalt, der sie ausgesetzt sind, zu erwehren. Von ihren gewalttätigen Partnern, von ihren Expartnern. Und von einer Gesellschaft und ihren Institutionen, die sich zu Verbündeten dieser Männer machen. Tag für Tag. In Deutschland. Und überall in Europa und in den USA. Ich bin jede dritte Frau. Eine von wenigstens 12 Millionen. Wir sind so unfassbar viele. Wir müssen uns erheben. Wir alle.
Hilfe gibt es hier:
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" (https://www.hilfetelefon.de) ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Nummer: 08000 116 016. In bedrohlichen Situationen gilt: Sofort den Notruf der Polizei 110 wählen. Dabei muss es noch nicht zu körperlicher Gewalt gekommen sein. Es reicht, dass die Situation als bedrohlich empfunden wird.
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