Der rassistische Terroranschlag in Hanau jährt sich zum zweiten Mal. Serpil Temiz Unvar verlor damals ihren Sohn Ferhat. Im Interview erzählt sie, wie sie gegen Rassismus kämpft und was sie hoffen lässt.
Vor zwei Jahren, am 19. Februar 2020, hat ein Rassist in Hanau neun Menschen erschossen. "Woher kommt dieser Hass? Ich verstehe das nicht", fragt Serpil Temiz Unvar, als wir im vergangenen Jahr an einem Sonntagabend telefonieren. Ihr Sohn Ferhat ist bei dem Anschlag ermordet worden. "Es ist eine Katastrophe", sagt die vierfache Mutter über den Tod ihres Ältesten tonlos.
Und dann nachdrücklich: "Unsere Kinder dürfen nicht vergessen werden." Die sozialen Medien sind in diesen Tagen voll von #SayTheirNames – gegen das Vergessen: Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov und Mercedes Kierpacz, acht Männer und eine Frau, die ihr Leben verloren, weil, wie Tobias R. in seinem Bekennerschreiben schrieb, ganze Völker "komplett vernichtet" werden müssten. Nüchtern fantasierte er darüber, Milliarden von Menschen zu "eliminieren". Ferhat Unvar ist in Hanau zur Welt gekommen und aufgewachsen. Sein deutscher Pass hat ihn nicht vor Rassismus geschützt.
Am 14. November 2020, dem Tag, an dem er 24 Jahre alt geworden wäre, hat Serpil Temiz Unvar in seinem Namen die antirassistische "Bildungsinitiative Ferhat Unvar" gegründet. Darum soll es in unserem Interview, das wir vor einem Jahr mit Serpil führten, vorrangig gehen. Sie hat gebeten, die Fragen schriftlich beantworten zu können. Ihr Deutsch sei nicht so gut, sagt die 45-Jährige, als wir danach sprechen. Aber vor allem ist zu spüren, was für ein ungeheurer Kraftakt diese Tage für sie sind. Sie sagt: "Ich mache weiter für ihn."
EMOTION: Wie haben Sie die Kraft gefunden weiterzumachen?
Serpil Temiz Unvar: Dass ich die Bildungsinitiative gegründet habe, gibt mir Kraft. Zu wissen, dass ich anderen mit meinen Erfahrungen helfen kann. Zu sehen wie die Jugendlichen sich beteiligen und eigene Idee entwickeln. Dass sie mit mir das Ziel teilen, etwas verändern zu wollen.
Sie haben früh gemerkt, dass Ihr Sohn in der Schule nicht die gleichen Chancen hat wie "deutsche" Kinder, also Kinder ohne offensichtlichen Migrationshintergrund. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich habe immer zu ihm gesagt: "Du musst mehr arbeiten, mehr arbeiten." Ich habe nicht auf meine Gefühle geachtet und auch nicht auf Ferhats Gefühle. Ich dachte damals, das ist normal, dass wir immer mehr leisten müssen. Dass meine Kinder nicht die gleichen Chancen haben wie die deutschen Kinder. (Anm. d. Red.: Sie hat drei weitere Kinder und ist alleinerziehend: Mirkan, ihr zweitältester Sohn, studiert in Gießen, ihre Tochter Nesrîn Unvar macht dieses Frühjahr Abitur, Mirza, der Jüngste, ist acht.)
Sie haben mal gesagt, Sie hätten Ihre eigene Angst an Ferhat weitergegeben.
Ja, meine Angst war, wenn er die Schule nicht schafft, dass er sich keine Zukunft aufbauen kann. Ich hatte immer Angst, dass er es nicht schaffen könnte. Damit habe ich ihm viel Druck gemacht. Er hat diesen Druck akzeptiert und dadurch selbst immer sehr viel Stress gehabt.
Ihr Sohn hatte oft Ärger in der Schule, einer seiner Lehrer hat mal zu Ihnen gesagt: "Entweder Ferhat geht von der Schule, oder ich gehe." Wie haben Sie solche Momente erlebt?
Das war wie ein Weltuntergang für mich. Ich dachte, wir schaffen das nicht, niemand gibt uns eine weitere Chance. Wir haben immer weiter probiert, eine andere Schule gesucht. Ferhat hat trotzdem weitergemacht. Aber für ihn war das auch sehr traurig. Das tut mir immer noch weh, dass er es so schwer hatte. (Anm.d.Red.: Zwei Wochen vor seiner Ermordung hatte er seine Ausbildung als Installateur abgeschlossen und hatte vor, berufsbegleitend zu studieren.)
Sie haben im Namen Ihres Sohns die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Der erste Satz auf der Website lautet: "Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein." Welche Veränderungen wollen Sie bewirken?
Ich möchte einen positiven Einfluss auf die Schulen nehmen. Schulen müssen ein Ort sein, an dem Kinder sich sicher fühlen und gut aufgehoben. Schulen müssen ein Ort sein, an dem alle gleiche Chancen haben. Dafür brauchen wir gezielte Bildungsarbeit.
Was müssen Lehrerinnen und Lehrer wissen?
Sie brauchen mehr Verständnis für die Kinder. Sie müssen die Hintergründe der Kinder kennen, die sie unterrichten. Sie müssen jedes einzelne Kind ernst nehmen und Respekt haben. Sie sollten keinen Unterschied machen zwischen "die Deutschen" und "die anderen". Die Lehrer sollen einen anderen Blick auf diese Kinder entwickeln, sie nicht als Fremde sehen, sondern als ein Teil unserer Gesellschaft. Sie müssen daran glauben, dass diese Kinder auch die Zukunft von diesem Land sind. Das sind ihre Kinder, also auch ihre Zukunft. Gerade Lehrer müssen sich mit Alltagsrassismus auseinandersetzen und sich fragen, ob sie Schüler verletzen, ohne es selbst vielleicht zu wollen.
Was hilft, um Kinder antirassistisch zu erziehen?
Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie bereit miteinander zu leben und zu lernen. Keiner entscheidet, mit welcher Nationalität er geboren wird. Hass und Rassismus sind nichts Angeborenes, sondern werden weitergegeben. Ich möchte, dass unsere Kinder die Welt, die wir vergiftet haben, wieder verändern. Ich will, dass sie sehen, dass Hass nur vernichtet.
Wer unterstützt Sie bei der Initiative?
Wir sind noch am Anfang und arbeiten mit einem Team. Im Moment sind wir dabei, gemeinsam ein Konzept zu entwickeln. Ganz besonders freut mich, dass immer mehr Jugendliche bei der Initiative mitarbeiten und ihre eigenen Erfahrungen mitbringen.
Ihr Sohn Mirza ist acht. Wie stärken Sie ihn?
Ich glaube, dass es wichtig ist, mit Kindern offen über alles zu reden. Es ist wichtig, Kindern gegenüber offen zu sagen, dass es Gerechtigkeit nicht immer gibt, und Unrecht zu benennen. Ich will mit ihm gemeinsam und an seiner Seite kämpfen, wenn er Erfahrungen mit Rassismus machen muss. Er stellt viele Fragen, auch Fragen nach dem Warum, und oft fällt es mir schwer, ihm zu antworten.
2020 ist etwas in Bewegung gekommen, auch mit der "Black Lives Matter"-Bewegung. Trotzdem sehen viele, die wie ich Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft sind, Rassismus noch nicht als Problem von uns allen. Was muss sich dafür ändern?
Es geht dabei vor allem darum, zu sensibilisieren. Die Menschen müssen Verständnis entwickeln und Empathie wieder erlernen.
Was macht Sie wütend?
Die Politiker, die warme Worte sprechen, aber kalt sind in ihren Handlungen.
Was lässt Sie hoffen?
Die Jugendlichen. Und wie viele Rückmeldungen wir bekommen und wie viele Menschen fragen, wie sie helfen können. Das gibt mir Hoffnung.
Die Namen der Toten zu nennen, hat eine große Rolle gespielt. Sie haben sich mit den Familien früherer rassistischer Morde verbunden, etwa den Familien der Opfer von Mölln. Was hat das bewirkt?
Die Familien kennen unseren Schmerz. Deshalb waren sie die ersten, die da waren, um unseren Schmerz zu teilen. Das ist sehr wichtig, weil wir uns gegenseitig Kraft geben.
Am 19. Februar 2021 jährt sich der Tag der Morde zum zweiten Mal. Welchen Umgang wünschen Sie sich mit diesem Tag?
Die Namen unserer Kinder und ihre Geschichten dürfen nicht vergessen werden. Ich wünsche mir, dass Straßen nach ihnen benannt werden und dass der Tag ein Gedenktag wird, an dem Rassismus in Schulen, Behörden und überall thematisiert wird. Es ist unser gemeinsames Problem und unsere gemeinsame große Aufgabe, etwas zu ändern. Das sollte nicht nur an einem Tag passieren. Es ist eine alltägliche Aufgabe, die Gesellschaft zu verändern.
Weitere Informationen über die Bildungsinitiative Ferhat Unvar: hier oder auf Instagram
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Verwendungszweck: "Bildungsinitiative Ferhat Unvar"
Für ihr Engagement gegen Rassismus hat Serpil Unvar 2021 EMOTION.award gewonnen.
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