Stadtplanung war lange Männersache. Und wer durch eine dunkle Unterführung geht oder sich auf dem Weg zur Kita heiser schreit ("Halt, da kommt eine Straaaaße!"), spürt, dass Frauen und Familien oft nicht mitgedacht wurden. Gut, dass auch der Städtebau diverser wird. Wo geht es also hin?
Die letzte Bahn gerade noch erwischt. Nach einer kurzen, unbehaglichen Fahrt aus dem Wagen auszusteigen und durch eine schlecht beleuchtete Unterführung zu huschen: für Frauen ein Albtraum. Was wenn ich hinter mir Schritte höre? Gleich rennen? Ist es schlau, mich umzublicken, um zu checken, wie einschüchternd oder harmlos die Person aussieht? Reicht der Schlüsselbund in meiner Hand als Verteidigungswaffe? Auch die Architektin Safaa Charafi kennt diese Fragen. Dahinter sieht sie allerdings eine ganz grundlegende: "Wieso werden überhaupt solche Angsträume gebaut?"
"Städte wurden vorwiegend von Männern geplant"
Die Antwort gibt sie selbst: "Städte wurden in der Vergangenheit vorwiegend von Männern und mit dem Fokus auf männliche Bedürfnissen geplant. Und das hat deutliche Folgen für Frauen, Kinder und Minderheiten. Deren spezifische Ansprüche und Erfahrungen werden vernachlässigt." Oder, um bei der Unterführung zu bleiben: Wer die geplant hat, kennt vermutlich keine Tunnel-Angst.
Der feministische Blick auf Städtebau hat bereits eine gewisse Tradition. Bereits in den späten 1970er-Jahren begannen Stadtplanerinnen zu analysieren, für wen urbane Räume eigentlich gemacht sind. Ihr Ergebnis: für gesunde Männer mit gutem Einkommen, Fulltime-Job und eigenem Auto. In Wien organisierten Feministinnen Nachtspaziergänge, um sich die Straßen zurückzuerobern.
Stadtplanung als Mittel zur Gleichstellung
In den frühen 1990er-Jahren zeigte dann die Ausstellung "Frauenalltag in der Stadt", wie ungleich öffentlicher Raum verteilt ist. In der Folge wurde 1992 mit dem Wiener Frauenbüro eine städtische Institution geschaffen, die auch Stadtplanung als Hebel der Gleichstellung in den Blick nimmt.
Unter der Obersenatsrätin und Stadtplanerin Eva Kail hat sich Wien zum Vorbild für Gender Planning – so der Fachbegriff – entwickelt. Das beginnt im Kleinen etwa damit, dass Straßen in Neubaugebieten gezielt nach bedeutenden Frauen benannt werden, um hier ein Gleichgewicht zu schaffen. Oder indem Parks auch die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen berücksichtigen: Statt Fußballkäfigen, die sich schlimmstenfalls wie Fallen anfühlen können, wurden offene Spielflächen eingerichtet und Hängematten in die Bäume gehängt. Und im Großen: Straßen werden beruhigt und ganze Viertel so geplant oder umstrukturiert, dass alltägliche To-dos sich schnell erledigen lassen. Eine Grundidee, die bereits die feministischen Pionierinnen entwickelt hatten: eine Stadt der kurzen Wege.
Was das mit gendergerechter Planung zu tun hat? "Die Mobilitätsstrukturen von Frauen und Männern unterscheiden sich deutlich", erklärt Safaa Charafi. Während Männer statistisch kaum mehr als zwei Wege pro Tag machen – zur Arbeit und wieder zurück – sind Frauen auf komplexen Routen unterwegs: vor dem Büro schnell das Kind zur Kita bringen, auf dem Weg ein Paket abholen, nachmittags einkaufen, zurück zur Kita, zum Spielplatz, zurück nach Hause. Außerdem sind Frauen häufiger zu Fuß, mit dem Rad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.
Fortbewegungsmittel für eine gleichberechtigte Zukunft
Oft seien nicht einmal die Autos selbst auf Frauen und Familien ausgelegt, gibt Béatrice Foucher, CEO des französischen Autoherstellers DS Automobiles, zu bedenken. Sie ist selbst Mutter und legt einen besonderen Fokus darauf, dass ihr Unternehmen die unterschiedlichen Bedürfnisse von Frauen und Männern im Blick hat: "Bei der Konzeption unserer Autos sind drei Themen sehr wichtig: Design, Komfort und Sicherheit – die drei Dinge, auf die auch Frauen am meisten Wert legen. Wir wollen inklusive Fortbewegungsmittel erschaffen, für eine gleichberechtigte Zukunft."
Unsere Städte sind nicht für Fußgänger:innen, U-Bahnfahrer:innen oder Menschen im Rollstuhl, sondern für Autoverkehr optimiert. Das spürt man etwa, wenn der Kinderwagen nicht einmal auf die Verkehrsinsel passt oder der Fahrstuhl zur U-Bahn mal wieder wochenlang defekt ist. "Mehrspurige Straßen, sowie die Trennung von leben und arbeiten wurden in der Nachkriegszeit als großzügig und modern empfunden", sagt die Bauingenieurin Dr. Christine Lemaitre. "Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Fläche ja verfügbar. Die Städte wurden also oft vollkommen neu gebaut. Umwelt- und soziale Fragen standen dabei nicht im Mittelpunkt. Auch die Nachverdichtung der Städte wurde nicht bedacht. Die Folgen heute sind zum Beispiel lange Wegezeiten und immer knapper werdender Wohnraum."
Nachhaltigkeit an erster Stelle
Lemaitre ist Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Nein, der Titel wird nicht gegendert. Geschlechterthemen interessieren die dreifache Mutter auch nur am Rande. "Die größeren Herausforderungen sind aktuell Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Biodiversität, da müssten wir alle Kraft ins Handeln legen.“
Die Planungs- und Baubranche müsste dennoch inklusiver werden, meint sie: "Wir bauen ja in eine unbestimmte Zukunft. Die besten Lösungen finden wir, wenn wir unterschiedliche Blickwinkel, Disziplinen und Kompetenzen miteinbeziehen."
Diversität auf allen Ebenen
Und das bedeutet nicht nur, die unterschiedlichen Geschlechter und Herkünfte in den Blick zu nehmen, sondern auch die verschiedenen Altersstufen: "Wir sprechen schon seit Jahren über die drohende Überalterung unserer Gesellschaft, baulich passiert da relativ wenig. Wir bauen keine Angebote für die Ü50- und Ü60-Jährigen, bei denen die Kinder aus dem Haus sind, die aber mobil sind und vielleicht Lust hätten, in die Innenstädte zu ziehen, wo sie sozial und kulturell teilhaben können. Solange wir hier keine Angebote schaffen, werden aber große Familienhäuser und -wohnungen weiter von alleinlebenden Paaren genutzt. Ganze Siedlungen stehen damit relativ leer. Hier denken wir nicht mit, wie sich Menschen und ihre Bedürfnisse entwickeln." Dabei geht es ihr nicht nur um kleinere, bezahlbare Wohnungen, sondern auch um ein Umfeld, das ältere Menschen in die Stadtzentren lockt. "Spätestens in der Corona-Zeit haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, dass es auch draußen Orte gibt, die man gerne nutzt."
Eine Einschätzung, die Safaa Charafi teilt: Europa kann hier auch von afrikanischen Städten lernen, ist die Architektin überzeugt. Sie ist in Casablanca aufgewachsen und pendelt mittlerweile zwischen Brüssel und Toronto. Sie selbst vermisse hier die Basare und Straßenmärkte ihrer Heimat, auf denen sich Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft treffen. "Afrikanische Städte legen viel Wert auf soziale Kontakte und fördern lebendige Viertel, in denen Menschen aktiv miteinander interagieren. Dieses Gemeinschaftsgefühl stärkt den sozialen Zusammenhalt und verbessert die Lebensqualität."
Eine Stadt ohne Autos – ist das realistisch?
Aber wie gelingt es, dass Bürger:innen enger zusammenrücken? Barcelonas Vize-Bürgermeisterin Sanz Cid setzt das mit sogenannten Superblocks um. Hier werden neun Wohnblocks zusammengefasst und verkehrsberuhigt. Die Straßen werden zu Parks und Begegnungsräumen umgewidmet. Geschäfte für den täglichen Bedarf, Gastronomie und Kinderbetreuung finden die Bewohner:innen direkt im Superblock. Sie müssten das Quartier nur noch verlassen, wenn sie zur Arbeit fahren. Da ist sie wieder, die Stadt der kurzen Wege.
Aktuell prüft Cid, ob sich die gesamte Stadt zu einem gigantischen Superblock zusammenfassen lässt. Eine Stadt ganz ohne Autos? Ist das wirklich eine Utopie? In Barcelona gibt es jedenfalls viel Kritik an Cids großen Plänen. Auch Christine Lemaitre sieht solche extremen Szenarien kritisch: "Wir müssen davon wegkommen, diese Debatten so emotional zu führen. Es geht ja gar nicht darum, das Auto abzuschaffen. In Deutschland müssen wir erst mal eine Gleichberechtigung der unterschiedlichen Mobilitätsformen erreichen. Wenn die Angebote stimmen, steigen auch mehr Menschen um. Auf dem Land ist der Nahverkehr aber häufig einfach keine Option."
Béatrice Foucher befürwortet ebenfalls ein ausgeglichenes und sich ergänzendes Zusammenspiel verschiedener Formen von Mobilität – nicht nur aus eigenem Interesse. "Nur so können Städte inklusiver und nachhaltiger werden." Eine enge Zusammenarbeit zwischen Automobilherstellern, Stadtplaner:innen, Politiker:innen und Unternehmen sei dafür unerlässlich, glaubt die CEO von DS Automobiles. "Gemeinsam können wir innovative Ideen, Technologien, Nachhaltigkeitsrichtlinien und effiziente Transportsysteme entwickeln, um Städte zu bauen, die allen Menschen gerecht werden."
Beteiligen und Mitreden!
Am Ende bleibt eine Stadt für alle eben auch ein Aushandlungsprozess – bei dem bestenfalls alle mitreden dürfen. Ausschließlich Stadtplaner:innen, Architekt:innen oder politische Entscheidungsträger:innen mit in die Planung einzubeziehen sei nicht wirklich inklusiv, gibt auch Charafi zu bedenken und plädiert für eine integrative Beteilung der Anwohner:innen. In Brüssel ist auf diese Weise ein Skatepark speziell für Mädchen entstanden. Und, eins ist klar: Dunkle Unterführungen und Angsträume findet man in der Anlage keine.
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