Vergesst den Selbstoptimierungswahn! Wir sind längst gut genug. Autorin Isabell Prophet gibt Tipps, wie wir uns vom Perfektionsdrang befreien.
Selbstoptimierung nervt! Wir sind gut genug!
Besser werden, immer besser, ist zum Motto unserer Zeit geworden. Wir wollen unser Potential nutzen, nichts vergeuden, uns niemals selbst verschwenden. Doch der Drang zur Selbstoptimierung schadet uns. Wir brauchen eine neue beste Freundin, die uns davon abhält: uns selbst.
Ich könnte alles Mögliche sein, ich müsste mich nur mehr anstrengen…
Schlagfertiger wäre ich gern, fitter in Debatten über Außenpolitik und Fonds-Investment, ein paar Kilo könnten weg, ich sollte viel erfolgreicher in meinem Job sein, mehr Zeit für meine neuen Bekanntschaften aus dem Rückbildungskurs haben, Abends noch auf ein Bier zu den Nachbarn statt mit Hörbuch in die Badewanne und eigentlich hatte ich doch mal vor, viel schneller zu schwimmen? Puh. Jeder Freundin, die sowas zu mir sagt, würde ich einen Vogel zeigen. Zu viele Baustellen an einer Frau, an der es doch eigentlich nichts zu bauen gibt.
Gedanken, die uns alle quälen
Glücklicherweise kommen mir diese Gedanken sonst nie alle gleichzeitig. Sie so aufgeschrieben vor mir zu sehen, macht mir eines klar: Es ist zu viel. Das geht nicht alles gleichzeitig, das geht nicht alles jetzt und – das muss auch alles gar nicht sein.
Doch diese Gedanken kommen einzeln. Und dann wirken sie so wahnsinnig wichtig. Ich möchte besser sein. Und ich bin damit nicht allein: Die meisten von uns wollen gerade irgendwie besser sein. Selbstoptimierung ist eine Volkskrankheit geworden.
Im Leben geht es um Veränderung – die Suche nach dem besten Ich ist endlos
Der Grundgedanke: Ich, das ist eigentlich jemand anderes. Ich lebe nicht so, wie ich wirklich bin. Ich bleibe hinter meinen Möglichkeiten zurück. Wir haben Angst, langweilig-durchschnittlich zu sein, das treibt uns in die Extreme. Und Extreme sind anstrengend.
Kritisch wird es, wenn die Suche nach dem perfekten Ich uns unglücklich macht. Wer sich ständig selbst verbessern will, der legt einen Filter auf seine Wahrnehmung: Woran muss ich arbeiten? Dieser Filter liegt wie eine eisblaue Brille vor unserer Realität. Wir sehen nicht mehr, wie gut wir längst sind, weil wir darauf gar nicht mehr achten. Wir übersehen uns selbst. Und das kostet uns Kraft, die wir im – echten – Alltag doch dringend gebrauchen könnten.
Wir ergehen uns in Vorbereitung, Optimierung, Krisenvermeidung. Und verlieren vollkommen aus dem Blick, dass wir Schwierigkeiten aushalten können. Und dass sie uns stark machen. Sie lehren uns, dass wir das Leben, wenigstens zeitweise, überleben können, auch wenn wir nicht auf alles vorbereitet sind. Weil niemand jemals auf alles vorbereitet ist, oder sein kann. Der Ärger lohnt sich also nicht.
Wir müssen herausfinden, was wir wollen. Und was nicht.
Bitte nicht missverstehen: Es geht nicht darum, weniger zu streben.
Das Streben nach mehr bringt unsere Welt, unsere Gesellschaft voran. Aber wir müssen das nicht die ganze Zeit machen.
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Wenn es um das Ich geht, sollten wir mal unsere Handlungsmotivation klären. Wir müssen wissen, was wir wollen. Und wir müssen erkennen, warum wir es wollen. Viel zu oft stehen wir vor einem Ideal, das zwar nicht passt, aber gut aussieht. Und wenn wir etwas wollen, weil wir überzeugt sind, dass wir es wollen sollten, oder weil wir fest daran glauben, dass andere es von uns wollen, dann sollten wir uns mal fragen, ob wir das eigentlich wirklich wollen wollen.
Selbstoptimierung, so wie sie uns verkauft wird, ist Betrug
Sie füllt unsere Köpfe, leert unsere Konten, beschäftigt unsere Körper und raubt uns unseren Schlaf. Wenn es uns nicht gut geht, suchten und suchen wir nach mehr. Wenn wir das Selbstoptimierung nennen, dann liegt dem ein grandioses Missverständnis zugrunde. Es ist zu viel. Und deshalb schadet es uns. Statt uns besser zu machen, beuten wir uns aus und halten das auch noch für eine gute Idee.
Selbstoptimierung ist ein Produkt
Bei unserem Neid können die Heilsbringer perfekt ansetzen. Werbung machen deshalb eher zarte und sehr elegante Frauen oder durchtrainierte Männer mit sehr schönen Haaren. Das Versprechen: Diese Dinge sind ganz einfach zu haben. Kauf ein Produkt (Diät-Drink, Koffein-Shampoo, Gesichtscreme) und schon siehst du genauso aus und das Leben wird dann viel besser sein, wie auch diese Menschen in der Werbung doch ein viel besseres, leichteres Leben haben. Natürlich klappt das nicht. Einfach, schon, besser, leichter: Das sind die Zauberworte unserer Zeit.
Wir sehnen uns so sehr nach einer einfachen Lösung, nach der das anstrengende Streben ein Ende findet.
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Das Scheitern ist vorprogrammiert
Aber Muskelmasse gibt’s nicht zum Trinken und Eleganz nicht zum Draufschmieren, so weit ist die Wissenschaft einfach noch nicht. Also scheitern wir. Am neuen Produkt, an der neuen Morgenroutine, die uns früh aus dem Bett getrieben, aber schon wieder nicht zu entspannteren Menschen gemacht hat. An einem Versprechen, das uns verführt hat, uns dann aber wieder nicht befriedigen konnte. Mir war das nie bewusst, bis ich begann, der Selbstoptimierung auf den Grund zu gehen. Plötzlich waren die Signale überall. Leicht, einfach, schön, fit, das perfekte Leben lächelt mich jeden Tag an und ich stehe davor und bin einfach nur – ich.
Deshalb ist Selbstoptimierung das perfekte Produkt, das perfekte Geschäftsmodell. Es funktioniert, so lange wir unzufrieden sind. Und so lange wir nach fremden Idealen streben, werden wir unzufrieden bleiben – und weiter kaufen.
Der Selbstoptimierungswahn macht uns dauerhaft unzufrieden
Übrigens gibt es Studien, nach denen Menschen deutlich spendabler sind, wenn es ihnen schlecht geht.
Alles, was die Selbstoptimierungsindustrie also braucht, sind ständig neue Ziele, die sie uns vorsetzen kann. So lange wir darauf reinfallen, wird es uns niemals besser gehen.
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Das Schlimmste, was dieser Industrie passieren kann, ist dass sie uns egal wird. Das Schlimmste, was passieren kann, ist dass wir uns selbst begegnen wie eine gute Freundin.
Sei dir in Gedanken eine Freundin!
Doch genau diese Freundin sollten wir sein. Nicht unsere schärfste Kritikerin, nicht unser eigener Antrieb. Keine Sorge, der Antrieb geht nicht weg, wenn wir netter zu uns selbst sind. Doch wir müssen Schluss machen mit den übertriebenen Ansprüchen an das Ich. Erst, wenn weniger von außen kommt, haben wir mehr Energie für uns selbst.
Selbstoptimierung schadet uns, denn wir verlieren den Blick für unsere Stärken. Genau den bräuchten wir aber, um den Herausforderungen des Alltags zu begegnen. Und das können wir schon längst, das haben wir jahrelang bewiesen. Eine gute Freundin würde genau das sagen. Es wird Zeit, dass wir Freundschaft mit uns selbst schließen, dann hat die Selbstoptimierung keine Chance mehr.
Über unsere Autorin:
Isabell Prophet ist Journalistin und schreibt Bücher, die uns dabei helfen sollen, wieder glücklich zu werden. Ihre Themen sind Künstliche Intelligenz, moderne Arbeit und ein schöneres Leben. 2017 erschien "Die Entdeckung des Glücks: Dein Leben fängt nicht erst nach der Arbeit an". Ihr neues Sachbuch heißt "Wie gut soll ich denn noch werden?", es räumt auf mit dem Zwang, uns selbst zu perfektionieren. Goldmann Verlag, ca. 14 Euro.
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