Endlich frei sein von allen Zwängen. Wider dem Selbstoptimierungswahn: Für ein erfülltes Leben müssen wir unsere Schattenseiten akzeptieren.
Innerlich frei werden – so gehen wir entspannter mit uns selbst um
Wie befreit man sich eigentlich von allen gesellschaftlichen Zwängen und trotzt dem Selbstoptimierungswahn? Wir haben Psychologin Ulrike Scheuermann gefragt.
EMOTION.DE: Warum wollen wir eigentlich alles optimieren?
Ulrike Scheuermann: Viele von uns meinen, nur möglichst perfekt seien sie wertvoll, liebenswert und attraktiv. Diese Idee entsteht unter anderem dadurch, dass wir eine Fülle von Möglichkeiten der Selbstoptimierung haben. Zum Beispiel helfen immer mehr Menschen ihrem attraktiven Aussehen nach – vor 20 Jahren war das keine Option.
Auch meine Klienten verurteilen sich teilweise dafür, dass sie nicht allzeit gelassen, entspannt und liebevoll sind. Dass sie immer noch nicht den Traumpartner haben, nicht erfolgreich, schlank oder reich genug sind. Dieses "Nicht genug" nehme ich in allen möglichen Varianten wahr.
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Was ist falsch daran, glücklich sein zu wollen?
Wir alle wollen glücklich sein, daran ist bestimmt nichts falsch! Ein Irrtum ist lediglich die Idee, dass wir die unglücklichen Zeiten vermeiden könnten. Das Leben hält immer auch schwierige, traurige und anstrengende Zeiten für uns bereit. Für manche mehr, für andere weniger. Wenn wir nun aber meinen, wir sollten im Dauerglück ankommen – und schaffen es nicht, dann sind wir frustriert, hadern mit dem Schicksal oder uns selbst. Das macht unglücklich, und es müsste nicht sein. Wenn wir unsere Haltung ändern und akzeptieren, dass gute und schlechte Zeiten zum Leben dazugehören, dann können wir gelassener und zufriedener sein.
Was unterscheidet ein erfülltes von einem glücklichen Leben?
Ein erfülltes Leben bedeutet für mich, dass wir Tiefs und Krisen als wertvolle Bestandteile unseres Lebens ansehen. Wir blicken gleichmütiger auf den Lauf unseres Lebens und können auch Sinn in schwierigen Lebensphasen erkennen. Unser Leben wird reich, wenn wir Krisen bewusst durchleben. Wir gewinnen Weisheit und Lebenserfahrung, wenn wir aus ihnen lernen und uns dadurch persönlich weiterentwickeln.
Wie werde ich "innerlich frei"?
Zuerst einmal können wir uns bewusst machen, was uns innerlich gefangen hält: Vielleicht der eigene Anspruch, möglichst perfekt zu sein? Dann können wir uns fragen: Will ich wirklich so viel Energie und Zeit in die Selbstoptimierung investieren oder kann ich meine Energie in Wichtigeres investieren? Und schließlich können wir beginnen, uns mit Themen jenseits von Selbstoptimierung und dem Verstecken der ungeliebten Seiten zu beschäftigen. Zum Beispiel: Was ist für mich im Leben sinnvoll? Was will ich bewirken in der Welt? Mit einem Mal ist viel mehr Energie frei, um sinnerfüllt das Wesentliche zu leben, weil die innere Freiheit wächst.
Warum sind in Ihrem Buch gerade unsere ungeliebten Seiten so wichtig?
Die ungeliebten Seiten tragen wir immer mit uns, häufig aber als Schatten – tief verborgen vor unseren eigenen und anderer Menschen Blicken. Das kostet viel Kraft. Nehmen wir diese Seiten an, können wir das Potenzial sehen und leben, was in ihnen steckt: Wer von seinen Schwächen und Fehltritten erzählt, wird plötzlich urkomisch und alle lachen gemeinsam. Wer auch mal stottert anstatt perfekt zu präsentieren, wirkt nahbarer und sympathischer. Wer sich seinen Ärger nicht mehr verbietet, kann Grenzen besser aufzeigen und sagt leichter mal "Nein".
Warum geben uns vor allem schlechte Zeiten wieder neue Kraft?
Die schwierigen Zeiten stärken uns, wenn daraus etwas ganz Neues entsteht. Vielleicht hat jemand jahrelang einen quälenden Zustand ausgehalten. Dann kam eine Krise, die das Leben auf den Kopf gestellt hat. Und nun ist die kräftezehrende Beziehung zu Ende oder der langweilige Job gekündigt: Daraus kann eine ungeahnte Power entstehen.
Wie lerne ich, mich selbst besser zu verstehen und mit allen Facetten zu akzeptieren?
Der erste Schritt ist immer das Bewusstmachen: Was mag ich an mir nicht? Danach geht es ums Akzeptieren, zum Beispiel, indem man anderen davon erzählt. Sinnvoll ist aus meiner Sicht auch immer, die Hintergründe zu verstehen: Woher kommt es, dass ich mich mit dieser Schattenseite nur schwer aussöhnen kann? Durfte ich vielleicht nie "Nein" sagen, mäkelte jemand an meiner Figur herum oder wurde ich ausgelacht, wenn ich mit falschen Tönen gesungen habe?
Was bewirkt ein besseres Selbstverständnis?
Wenn wir uns mit all unseren Seiten annehmen, entwickeln wir ein stabileres Selbstwertgefühl bzw. eine gelassenere Haltung zu den eigenen Schattenseiten: Wer sich mit seinen Stärken und Schwächen kennt und beides akzeptiert, steht stabiler da und lässt sich durch nichts so leicht umpusten. Außerdem gewinnen wir mehr Selbstliebe: Man muss sich nicht schämen, schlechtmachen und verurteilen für die eigenen Schwächen – die dann keine mehr sind.
Ulrike Scheuermann ist Diplom-Psychologin und begleitet in ihrer Coaching- und Seminartätigkeit seit 20 Jahren Menschen dabei, sich selbst und das Leben mit all seinen Seiten anzunehmen. "Innerlich frei" ist bereits das siebte Buch der Bestsellerautorin.