Der jüdische Star-Pianist Igor Levit gilt als Jahrhunderttalent. Nicht nur die Musik entlockt ihm Begeisterung, er streitet sich leidenschaftlich gern im Kampf für eine gerechtere Welt.
Igor Levit – der politische Star-Pianist
Am Flügel gilt Igor Levit als Jahrhunderttalent. Die Musik fließt ihm geradezu aus den Fingern. Und ebenso schnell fließen seine Worte in die Tastatur seines Handys, wenn sich der jüdische Star-Pianist auf Twitter dafür einsetzt, für eine gerechtere Welt zu streiten.
Wenn es in mir brennt, muss das raus.
Igor LevitTweet
"Bürger, Europäer, Pianist" sagt Igor Levit über Igor Levit
Igor Levit kam 1987 im russischen Gorky zur Welt. 1995 siedelte die jüdische Familie nach Hannover über. Levit debütierte mit vier Jahren als Solist. Heute gilt er als einer der besten Pianisten der Welt – und als vielleicht der politischste. Er hat mehr als 21000 Tweets verschickt.
Igor Levit im Gespräch mit Bärbel Schäfer
Der 32-jährige Levit wird gefeiert als einer der besten Pianisten der Welt. Wir treffen uns vor seinem Solo-Konzert in Wiesbaden beim Rheingau Musik Festival, das 2019 unter dem Motto "Courage" steht. Bevor Levit sich über der Tastatur winden wird, mit ihr geradezu ringen wird, tritt er auf die Bühne und spricht über das Schweigen in der bürgerlichen Mitte, über Vielfalt und die Solidarität mit Leuten wie der "Sea Watch"-Kapitänin Carola Rackete. Das Publikum ist eher älter, weiß und sehr bürgerlich. Es gibt entnervte Zwischenrufe, eine aufgebrachte Dame fordert, mit dem Spiel zu beginnen, den Konzertsaal nicht als politische Bühne zu nutzen. Levit spricht weiter. Ruhig. Klar. Er stellt seine Kunst in den Kontext gesellschaftlicher Ereignisse unserer Zeit. Er mischt sich ein – und erhält Standing Ovations.
Herr Levit, gibt es analog zu den universellen Menschenrechten auch universelle Menschenpflichten?
Selbstverständlich. Solidarität mit Menschen, die sie brauchen, sehe ich als Menschenpflicht. Solidarität untereinander ist eine Menschenpflicht. Da bröckelt es gerade gewaltig. Leute, die demokratische Werte angreifen, agieren laut. Leute, die anderen eine Hand reichen, agieren eher leise. Warum sind die oft so still? Das frage ich mich auch! Allerdings wird heute oft auch das, was selbstverständlich sein sollte, mit Mut verwechselt. Aber wenn die einen für einen autoritären Rechtsruck kämpfen und laut schreien, dann ist das, worauf sie spekulieren, die stille Zustimmung der bürgerlichen Mitte. Und als genau solche interpretiere ich auch das Schweigen.
Wer schweigt, stimmt zu?
Wer in diesen Zeiten schweigt, der stimmt der Zersetzung von Demokratie und dem Abbau einer pluralistischen Gesellschaft zu.
Wovor muss man denn Angst haben in einer Demokratie wie unserer?
Unsereiner muss nicht fürchten, sich nicht frei bewegen zu können. Aber Menschen, die sich für Minderheiten einsetzen und damit für unser aller Rechte und unsere Demokratie, geht das schon jetzt anders. Die neuen Polizeigesetze haben ja Auswirkungen.
Unsereiner ist wer genau?
Nennen wir uns mal die Mitte der Gesellschaft. Dabei sollte genau die Angst davor haben, dass es die Demokratie bald nicht mehr in dieser Form gibt.
Sie äußern sich öffentlich gegen Missstände, vor Ihren Konzerten oder bei Twitter. Warum?
Ich versuche, nicht nur zu reden, sondern auch was zu tun. Ich unterstütze Menschen, wo, wie und soweit ich kann, öffentlich und privat.
Hat das Konsequenzen für Sie?
Ich könnte ein einfacheres Leben haben als das, was ich führe. Aber für andere da zu sein, ist mein Sauerstoff. Es hält mich am Leben.
Erleben Sie noch andere Konsequenzen?
Shitstorms, direkte Drohungen? Wenig. Ich erscheine nicht auf dem Radar der Rechten. Ich bin ja weder Publizist noch Politiker oder Journalist. Ich bin wie ein Alien. Ich bin ein Pianist, der den Mund aufmacht.
Aber Ihre Haltung eckt doch an. Es sind Freundschaften darüber zerbrochen, die auch nicht mehr zu kitten sind. Haben Sie ein Beispiel?
Als die TV-Serie "Unsere Mütter, unsere Väter" herauskam, sagte ein Freund zu mir, der Grund, weshalb mir die Serie nicht gefalle, sei ja eindeutig:
Ich käme als Jude nicht damit klar, dass diese deutsche Produktion – er sagte: "unsere Produktion" und zeigte dabei auf sich – dazu führe, dass "ihr", Fingerzeig auf mich, keine geschichtliche Deutungshoheit mehr "über uns" habt, wobei er wieder auf sich zeigte. Auch über der Flüchtlings- und der Seenotrettungsdebatte sind Freundschaften zerbrochen. Das passiert. Es sind aber auch neue Freundschaften entstanden.
Sie setzen stark auf Twitter. Wieso?
Bei Facebook kann dir jeder in Tolstoi-Länge irgendwelche Scheiße schreiben, das funktioniert bei Twitter nicht. Es gibt nur die 280 Zeichen.
Haben Sie sich gewundert, mit wem Sie Freundschaften gepflegt haben?
Ich wundere mich immer noch. Let’s face it: Hass ist tief verankert. Ich musste in den letzten Jahren lernen, eine Trennlinie zu ziehen zwischen Leuten, die konservativ oder sogar zutiefst konservativ denken, und denen, die richtig rechtsnational ticken.
In freundschaftlichen Beziehungen kann immer eine Verletzung lauern.
Ich lasse mich dennoch darauf ein. Nur wenn eine Begegnung von vornherein vergiftet ist, wenn der Kern von Menschlichkeit durch Hass tot ist, dann breche ich den Kontakt sofort ab. Ich diskutiere mit niemandem, der antisemitisch, sexistisch oder rassistisch ist. Dazu ist mir meine Zeit zu schade. Ich diskutiere mit niemandem, der der Meinung ist, es gäbe Menschen zweiter Klasse.
Wann springt Ihr humanistischer Seismograf denn an?
Ich reagiere auf mein Umfeld, ich kann nicht nicht reagieren.
Die Fridays for Future geben Hoffnung, sie sind Hoffnung
Igor LevitTweet
Zwei, die klare Worte lieben: Bärbel Schäfer traf Igor Levit und war von seiner Ansprache vorm Konzert so begeistert wie von der Musik beglückt
Worauf Sie reagieren, ist ein breites Spektrum. Das reicht von Greta Thunbergs Besuch im Hambacher Forst über die Diskussion zu Schweinefleisch in Kitas bis zu Konzerten.
Ich plane nicht, wann ich etwas sage. Ich beobachte, ich spüre eine Dringlichkeit, dann erst äußere ich mich.
Haben Sie sich schon mal über eine Ihrer eigenen Äußerungen geärgert?
Klar. Aber es ist ja mein Wort. Ich lösche wirklich selten Tweets.
Der Philosoph Dieter Birnbacher sagt: "Die Menschenwürde wird nicht erst durch eklatante Menschenrechtsverletzungen wie Kriegsgräuel, Folter, Unterdrückung von Minderheiten kompromittiert, sondern durch unsere gewohnheitsmäßige Praxis der alltäglichen Gleichgültigkeit." Er nennt als Beispiel den Hunger in der Welt.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wo beobachten Sie denn diese Gleichgültigkeit?
Ich beobachte die stille Zustimmung zu Umständen, die nicht normal sind. Es ist eben nicht normal, dass eine AfD- Politikerin twittert: "Ich verdamme den Tag der Geburt von Angela Merkel." Was vor fünf Jahren noch Entsetzen aus- gelöst hat, wird heute schon kaum noch registriert. Unsere Werte haben sich leider superschnell verschoben.
Ist Musik politisch?
Natürlich kann sie das sein. Wir Menschen sind Geschöpfe unserer Zeit und ihrer Umwelteinflüsse, das ist untrennbar miteinander verwoben. Es gibt politische Texte in der Musik und politisch agierende Musiker. Es gibt keine nicht politische Kunst. Jeder Künstler stellt sich der Frage: Wer bin ich in dieser Welt? Aber Musik kann diese Welt nicht retten, das ist Quark.
Versuchen Sie es dennoch?
Nein. Ich kann Emotionen triggern mit Musik und kann der Musik einen Raum geben, nicht mehr und nicht weniger.
Das heißt aber, dass der potenzielle Rechtspopulist in der Reihe hinter mir heute Ihre Beethoven-Sonaten genauso genießt wie ich als Humanistin.
Ja. Eines der berühmtesten Konzertdokumente des 20. Jahrhunderts zeigt den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, wie er vor den versammelten Granden der NSDAP Beethoven dirigiert. Selbstverständlich mochten auch Nationalsozialisten Beethovens Werk.
Aber Sie politisieren doch den Raum der klassischen Musik – als einer der wenigen neben Daniel Barenboim.
Es gibt immer welche, die das tun, was ich tue. Es ist eine Gratwanderung. Ich mache das auch nicht immer, es ist ja kein Selbstzweck. Ich nutze nicht jedes Konzert, um Menschen an Menschenrechte und Demokratie zu erinnern.
Wonach entscheiden Sie dann, wann Sie sich vor einem Konzert äußern?
Wenn es in mir brennt, dann muss es raus. Das geschieht ohne Taktik.
Aber jedes Statement im Konzertsaal hat eine geringere Reichweite als einer Ihrer Tweets. Warum entscheiden Sie sich ab und zu für diesen geschlossenen Raum?
Der Konzertsaal ist mein Arbeitsraum. Er ist ein Teil meiner Öffentlichkeit. Ich habe kein Parlament, keine Kamera, bin kein Autor. Hier wirke ich. Hier sehe ich direkt in die Gesichter, das ist nicht einfach.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen." Da ist der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es geht um das Recht auf Arbeit, Bildung, kulturelle Teilhabe, Religionsfreiheit ...
Wenn man sich die Zustände auf der Welt anschaut, muss man sagen: hehre, jedoch leere Worte. Leider. Genauso leer wie: Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland. Verkauft uns nicht für blöd. Autor*innen wie Anne Frank, Alexander Solschenizyn oder James Baldwin haben immer wieder beschrieben, wozu der Mensch fähig ist. Menschen treten Menschenrechte mit Füßen.
Entledigt sich Europa gerade seiner Verantwortung für die Menschenrechte, indem wir andere Länder wie die Türkei und den Libanon dafür bezahlen, Flüchtlinge in Lagern zu halten?
Wir kaufen uns eine Art Segregation. Um mit James Baldwin zu sprechen: „"Wir sehen nicht, was auf der anderen Seite der Mauer passiert." Wir spalten. Und das passiert nicht in Diktaturen, sondern in einer Staatengemeinschaft, deren Selbstverständnis auf Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basiert. Wenn die Europäer*innen vor diesen Werten abstumpfen, ist das beängstigend. Was es bedeutet, nicht abzustumpfen, das zeigt uns die Fridays for Future-Bewegung. Die, die sich da engagieren, geben nicht nur Hoffnung, sie sind Hoffnung.
2020 ist das offizielle Beethoven-Jahr. Was erwarten Sie davon?
Ich habe Befürchtungen, dass es eine plakative BeethovenDenkfaulheit geben wird. Viele werden meinen, wir müssen nur seine Stücke spielen, und gut ist. Ich erwarte nicht viel und werde dann bei Bedarf reagieren.
Im Sony-Trailer zu den 32 Klaviersonaten von Beethoven, die Sie eingespielt haben, sagen Sie, Sie lebten 24/7 mit Beethoven. Was bedeutet das?
Irgendwas hat immer, jeden Tag, mit seiner Musik zu tun. Seine Musik ist mein ständiger Begleiter, das ist einfach so.
Ich diskutiere mit niemandem, der meint, es gäbe Menschen zweiter Klasse.
Igor LevitTweet
Warum Beethoven und nicht Bach, Haydn oder Mozart?
Ich fühle mich in seiner Musik verstanden. Mit Beethoven kann ich sein, wer ich will. Ich darf sein, wer ich sein will, wenn ich seine Musik spiele. Niemand kann mir verbieten, eine musikalische Entscheidung zu treffen, ich ziehe in meinem Spiel nie eine Grenze. Ich muss in der Konsequenz nur mit den Folgen klarkommen. Menschen mögen, was ich spiele – oder eben nicht. An dieser Reibung habe ich Spaß. Internationale Popstars wie Lykke Li, Lady Gaga oder Ariana Grande pilgern zum Produzenten Mark Ronson, um Lösungen zu finden für die musikalische Umsetzung einer Textzeile oder um die perfekten Beats zu finden.
Zu wem gehen Sie, das Jahrhunderttalent?
Der Sandkasten, in den wir gerade unseren Finger stecken, der ist sehr tief. Ja, ich habe auch ein tiefes Vertrauensverhältnis zu einem meiner Lehrer, aber ich wünschte, es gäbe mehr davon.
Ich stelle mir die Suche nach Dialog sehr einsam vor, wenn man als Ausnahmetalent gilt.
Stimmt, das ist nicht leicht. Dabei dürste ich nach Dialog. Es ist oft schwer für mich, in Worten auszudrücken, was ich gezielt musikalisch will. Aber ich habe Menschen, bei denen ich andocken kann.
Mir fällt es schwer, nach dem Hören Ihrer Klaviersonaten den emotionalen Raum zu verlassen und zurück in den Alltag zu treten. Kennen Sie das auch?
Das ist manchmal ganz schlimm. Ich brauche den sofortigen Ausgang. Ich beherrsche das graduelle Zurückkommen nicht. Vor dem Konzert kann ich Ihnen nicht sagen, welchen emotionalen Raum ich betreten werde. Ein Konzert ist wie essen, danach ist der Teller leer. Ich habe keine Besitzansprüche an ein Konzert. Es gibt nur Erinnerungen, Ein drücke. Alles andere ist weg, wie Luft. Ich mache danach einen harten Cut und reiße schon wenige Minuten nach dem Ende des Konzerts irgendwelche schrägen Witze.
Sie haben sogar für Beethoven abgenommen, das habe Ihren Anschlag verändert, haben Sie erzählt. 32 Kilo sind viel, wie halten Sie Ihr Gewicht?
Mit 32 Kilo mehr ging es mir nicht wirklich schlechter. Aber ich war eitel, hatte Lust auf andere Mode. Das Gewicht halte ich mit Sport und der Sorge, wenn es langsam mehr würde, wäre ich schnell wieder, wo ich vorher war.
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