Man muss etwas nur genug wollen, um es auch zu schaffen – das suggerieren hunderttausende Motivationssprüche auf bunten Instagram-Kacheln. Unsere Autorin findet: Das kann nicht nur ziemlich naiv, sondern allem voran auch ignorant sein – besonders in den herausfordernden Zeiten, in denen wir gerade leben.
Es ist wichtig, zu träumen. Das lässt sich nicht leugnen und ist auch mehrfach wissenschaftlich belegt. Eine britische Langzeitstudie beispielsweise zeigt: Träume und Ziele, die man bereits in der Kindheit hat, haben einen positiven Einfluss auf den späteren Erfolg im Erwachsenenalter. Und trotzdem: Die Haltung, dass man nur lange genug an einem Traum festhalten muss, damit er sich auch erfüllt, geht nicht auf. Vielmehr noch: Manchmal reicht es nicht einmal, hart zu arbeiten, damit man seine Ziele erreicht.
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Ein positives Mindset – schon die halbe Miete?
Denn äußere Einflüsse erschweren das oft. Aktuelles Beispiel: die Inflation. Einer aktuellen ARD-Umfrage zufolge bereitet die wirtschaftliche Lage vielen Deutschen gerade große Sorgen. 66 Prozent der Befragten gaben an, sie hätten Angst, dass sie aufgrund der Preissteigerungen ihre Rechnungen nicht bezahlen könnten. Wenn viele Menschen sich Sorgen um dasselbe Thema machen, sorgt das für gesellschaftliche Spannungen. Auch das belegt die Umfrage. 76 Prozent halten die Schere zwischen Arm und Reich hierzulande für ein großes Problem.
Und trotzdem wird an dem Wunschdenken, dass "ein positives Mindset" schon die halbe Miete auf dem Weg zum Super-Erfolg ist, festgehalten. Vor dem Hintergrund, dass viele aktuell darum kämpfen, ihre tatsächliche Miete zu bezahlen, erscheint diese Haltung fast schon höhnisch.
Einfache Lösungen für komplexe Themen – zu schön, um wahr zu sein
Natürlich ist es nicht unmöglich, Träume wahr werden zu lassen. Aber wer behauptet, dass man per se alles erreichen kann, was man sich in den Kopf setzt, ignoriert schlichtweg, dass es in vielen Fällen auch eine Portion Glück und Privilegien braucht, um das zu schaffen. Das betrifft nicht nur den finanziellen Hintergrund, sondern auch immer noch Aspekte wie Gender, sozialer Hintergrund, Ethnizität und Herkunft. Das soll natürlich keine Aufforderung sein, sich von diesen Faktoren klein halten zu lassen – im Gegenteil! Aber zu leugnen, dass sie leider immer noch eine Rolle spielen, wäre schlichtweg ignorant.
Wer denkt, für ein komplexes Thema wie dieses eine verhältnismäßig einfache Lösung parat zu haben, belügt sich meist selbst – und in diesem Fall andere gleich dazu. Denn wem helfen Binsenweisheiten und Sprüche wie "Just do it" schon wirklich weiter? "No risk, no fun" – das sagen vielleicht viele, aber nur Menschen, die es sich tatsächlich leisten können, berufliche Risiken einzugehen, meinen es auch wirklich so.
Der "Du kannst alles schaffen"-Mentalität fehlt Empathie
Dass besonders jetzt, in Zeiten von Rekord-Inflation und vielen Unsicherheiten, nicht jede:r die finanzielle oder psychische Grundlage hat, ein eigenes Business zu gründen oder Kraft, Zeit und Geld zu investieren, um der eigenen beruflichen Erfüllung nachzujagen, sollte sich mit einem Fünkchen Empathie eigentlich von selbst verstehen. Genau die fehlt der "Du kannst alles schaffen"-Mentalität neben einer gesunden Portion Realismus allerdings.
Diese Haltung ist außerdem ein knallhartes Beweisstück dafür, dass es in unserer Gesellschaft viel angesehener ist, nach unten als nach oben zu treten. Denn nach der Logik, an der Motivations-Coach:innen und selbsternannte Karriere-Gurus sich festklammern, ist die Abwesenheit von Erfolg, beruflicher Erfüllung oder finanzieller Sicherheit immer die Schuld desjenigen, der seine Ziele eben nicht erreicht hat.
Misserfolge sind keine Schande
Das führt zu einem fatalen Trugschluss: dass Misserfolge etwas sind, wofür man sich schämen müsste oder etwas, gegen das man dauernd ankämpfen muss. Die Wahrheit ist: Manchmal lässt man nichts unversucht und scheitert trotzdem. Sich das einzugestehen und damit abzufinden ist viel schwieriger, als einen Instagram-Post mit einem Herzchen zu versehen, natürlich. Aber in einer Gesellschaft, in der Leistung alles ist, ist es auch viel mutiger.
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