Großraumbüro: Wie es Psyche und Körper zusetzt – und was wir dagegen tun können. Überlebenstipps für den Arbeitsplatz im Großraum.
Großraumbüro: Wenn der Arbeitsplatz und krank macht
Stress im Job hat viele Gründe: Erfolgsdruck, eine immer höhere Taktung, blöde Vorgesetzte. Ein unterschätzter Faktor aber ist der Ort selbst, an dem wir Tag für Tag arbeiten. Wie das Großraumbüro Psyche und Körper zusetzt – und was wir dagegen tun können.
Immer unbeliebter: Das Großraumbüro
Es war gut gemeint: eine Idee, die alle zusammenbringen sollte, ein Raum für Miteinander, Austausch und Kreativität. Das Großraumbüro. Allerdings ist "gut gemeint" ja bekanntlich das Gegenteil von "gut". Und so scheint es auch hier. Laut einer Studie des Fraunhofer Instituts verliert das Großraumbüro bei deutschen Arbeitnehmer*innen immer mehr an Popularität. Nicht etwa, weil Austausch und Gemeinschaft nicht zu kreativem Output geführt hätten. Sondern weil das Großraumbüro buchstäblich nicht den richtigen Raum für effektive und effiziente Arbeit bietet, eher im Gegenteil. Australische Forscher*innen prüften diverse Studien zum Thema Arbeitsplatz: Im Schnitt werteten 90 Prozent der Befragten das Großraumbüro als negativ für Psyche und Gesundheit. Dabei haben wir in Deutschland noch Glück: Laut einer Umfrage des Jobportals Indeed von 2017 saßen nur gut 15 Prozent der Befragten im Großraum (mit mehr als fünf Personen), Tendenz steigend. In den Vereinigten Staaten waren es schon fast 70 Prozent.
Lies auch:
- Krank zur Arbeit: Was gegen Präsentismus hilft
- Stress abbauen: 3 psychologische Methoden für Büro und Alltag
- Die Chefin oder den Chef vom Homeoffice überzeugen – so kann es funktionieren
- 10 subtile Anzeichen für einen toxischen Arbeitsplatz
Lärmbelastung erhöht das Stressniveau
Stressverursacher Nummer eins in Mehrpersonen- und Großraumbüros ist die Lärmbelastung. Und als Lärm zählt nicht nur übertriebene Lautstärke, sondern schon eine ständige Präsenz von akustischen Signalen. Die Ergo Versicherung schreibt: Bereits nach vier Stunden Arbeit bei einem Geräuschpegel von maximal 55 Dezibel sei das Belastungslimit einer Person erreicht. Bei 61 Dezibel schon nach zwei Stunden. Der Sprechpegel bei mittlerer Stimmlage in einem Meter Entfernung liegt bei 55 bis 60 Dezibel. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im März 2019 stellte sich heraus, dass ausgerechnet Gespräche zwischen Kolleg*innen die größte Störquelle am Arbeitsplatz sind.
Damit Lärm störend wirkt, muss er nicht übermäßig laut sein.
Dr. Wiete Schramm, Fachgebietsleiterin Arbeitsmedizin beim TÜV RheinlandTweet
Die größte Störquelle: Gespräche unter Kolleg*innen
Ein Paradoxon, wenn doch das Großraumbüro ebensolche kollegialen Gespräche fördern und Kommunikation erleichtern soll. Aber: „Damit Lärm störend wirkt, muss er nicht übermäßig laut sein. Oftmals nehmen die Betroffenen die Beeinträchtigung gar nicht bewusst wahr. Auf Dauer fühlen sie sich jedoch gestresst“, weiß Dr. Wiete Schramm, Fachgebietsleiterin Arbeitsmedizin beim TÜV Rheinland. Das ist alarmierend, denn gerade in offenen Büros sind neben persönlichen Gesprächen dazu noch klingelnde Telefone, Druckergeräusche, brummende Smartphones und Tastaturklappern an der Tagesordnung. Diese Geräusche können zusammen leicht 70 Dezibel erreichen (Vergleich: ein Presslufthammer kommt etwa auf 90 Dezibel).
Lärm setzt Körper und Psyche zu
Beschäftigte fühlen sich belästigt und genervt, Kräfte schwinden und die Nervosität steigt. Der Körper reagiert auf diesen Stress meist sehr schnell: Blutdruckanstieg, erhöhte Herzfrequenz, Muskelverspannungen, erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen – alles Symptome, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magen-Darm-Beschwerden und natürlich psychische Erkrankungen fördern oder gar auslösen können. Aber noch bevor das alles zu Buche schlägt, verlieren Angestellte laut Forschung etwa 30 Prozent ihrer Leistungskraft. Zwischendurch Zeit im Homeoffice zu verbringen, kann ein Ausgleich zur Dauerbeschallung sein. Den meisten Betroffenen bleibt aber nur die Option, sich selbst im Großraum so gut wie möglich zu schützen.
Rund 7 Millionen Arbeitnehmer*innen sind durch Lärm im Großraumbüro gesundheitsgefährdet, schätzt der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte.
Reizüberflutung vermindert Konzentration
Eine Studie der Universität Stockholm verzeichnet doppelt so viele Fehltage bei Beschäftigten im Open Space wie bei solchen mit privateren Arbeitsplätzen. Die Stressbelastung sei deutlich höher. Weil im Großraum dauernd Bewegung herrscht, ist das Auge ständigen Reizen ausgesetzt und die Konzentration wird regelmäßig gestört. Und: In vielen (Großraum-)Büros herrscht ein buntes Durcheinander. Kabelsalat am Boden, vollgestopfte Regale – optische Erholung wie Kunst und Pflanzen sind längst dem Platz für neue Mitarbeiter*innen gewichen. Auf den Tischen stapeln sich Ablagefächer, auf den Stuhllehnen hängen Mäntel und Schals, Einkaufstüten und Regenschirme liegen als Stolperfallen im Gang. Das ist Stress fürs Auge und fürs Gemüt.
Unordnung und Chaos verursachen Stress
Eine Studie der Princeton Universität hat nämlich herausgefunden, dass auch Unordnung die Leistung des Gehirns einschränkt. Sie wirkt ein wenig wie Multitasking: Zu viele Stimuli gleichzeitig erlauben weniger Konzentration auf eine konkrete Sache. Dass ein Durcheinander auch Prokrastination begünstigt, haben die meisten wohl schon am eigenen Leib erfahren. Ein Studie der UCLA bestätigte zudem, dass Unordnung den Cortisolgehalt im Blut ansteigen lässt, also ganz unmittelbar Stress verursacht.
Angestaute Luft senkt die Leistungsfähigkeit
Wer kennt ihn nicht, den Fensterkrieg? Tageslicht und direkte Frischluftzufuhr machen Fensterplätze im Großraum heiß begehrt. Aber dann wechselt sich die Bitte nach „Können wir mal eben lüften?“ bald mit „Es zieht, bitte macht das Fenster zu!“ ab. Logisch – nicht nur, dass Frauen und Männer ein von Natur aus vollkommen unterschiedliches Wärmeempfinden haben – alle haben doch ihre ganz eigenen Vorlieben. Dabei ist die Frage der Frischluftzufuhr elementar. Das menschliche Hirn, heißt es, verbraucht schon im Ruhezustand ein Viertel des körperlichen Energiebedarfs. Um diese Energie umzuwandeln, braucht es Sauerstoff – und ist der nicht mehr vorhanden, sinkt die Leistungsfähigkeit. Man wird unkonzentriert und macht Fehler. Zudem macht schlechte Luft krank. Neurodermitis, trockene Augen, Migräne, Spannungskopfschmerzen werden dadurch verstärkt. Auch die Ansteckungsgefahr steigt enorm, denn: Wenn alle dieselbe schlechte Luft atmen, sind Tröpfcheninfektionen programmiert.
Die SBiB-Studie, eine Schweizer Befragung zu Beschwerden im Großraum, ergab: 38 Prozent der Befragten leiden an Müdigkeit und 17 Prozent an Schlafstörungen.
Fehlende Privatsphäre und Rückzugsorte
Wenn der berühmte kreative Flow nicht entstehen kann, ist die Produktivität des Unternehmens in Gefahr. Das wissen viele Firmen und investieren in die Entwicklung von Lärm- und Sichtschutz und schallisolierte Telefonzellen für Großräume. Wie schwer die Belastung für einige Menschen wiegt, gibt eine Studie des US-Herstellers "Room" wieder: Eine*r von sechs Befragten würde für ein kleineres Büro sogar auf Fenster und Tageslicht verzichten, einer von acht auf seinen Jahresbonus oder fünf (!) Urlaubstage. Denn selbst wenn man Lösungen für mehr Ordnung, bessere Luft und weniger Lärm geschaffen hat, fehlen im Open Space immer noch zwei ganz elementare Faktoren: Privatsphäre und Rückzugsräume. Und so menschelt es im Großraum, Stimmungen und Konflikte lassen sich hier nicht gut verstecken. Wer hat nicht schon mal ein privates Gespräch in der Toilette geführt oder ist beim vertraulichen Gespräch mit der Kollegin in der Kaffeeküche gestört worden?
Multispace statt Großraumbüro
Ja, es kann nützlich sein, wenn Themen, die in der Luft liegen, im Open Office schnell adressiert werden. Aber genauso kann es kontraproduktiv sein und wie ein Brandbeschleuniger wirken, wenn jeder ungefragt seinen Senf dazugibt. Es ist toll, dass ein gemeinsames Büro ermöglicht, dass Ideen von vielen Mitarbeiter*innen gehört werden. Es ist toll, wenn so jede*r die Chance bekommt, sich in laufende Überlegungen einzubringen. Aber es schwächt die Motivation und die Ergebnisse, wenn dann weder der gedankliche noch der architektonische Freiraum zur Verfügung steht, um neue Ideen in der Tiefe konzentriert auszuarbeiten. Das bestätigt auch die Forschung des Fraunhofer Instituts: Wer gesundes, kreatives und effizientes Personal haben möchte, der schafft statt Open einen Multispace.
Lies auch: Burnout - Symptome, Ursachen, Therapien
Mit diesen Tipps kann man sich die Arbeit im Großraumbüro erleichtern
Wer im Großraumbüro arbeitet und sich gestresst fühlt durch Geräusche, Reizüberflutung oder schlechte Luft, kann mit diesen Tipps seinen Arbeitsalltag erleichtern.
Tipp 1: Kopfhörer
Kopfhörer mit Active Noise Cancelling (ANC) blenden Gespräche der anderen angenehm aus. Manchen hilft auch leise Musik auf den Ohren, dann dominiert nur eine Geräuschquelle. Beschließen Sie gemeinsame Regeln und Routinen:
- Smartphones immer stumm schalten
- Festnetz auf dreimal klingeln programmieren
- Meetings mit einer zweiminütigen Schweigepause beginnen, damit alle geistig ankommen und präsent sein können
- Wir bei EMOTION meditieren nachmittags zehn Minuten.
Tipp 2: Aufräumen
Also ausmisten und Archive auslagern, um Raum für Pflanzen, Kunst und freie Flächen zu schaffen. Geschlossene Schränke sind optisch ruhiger, versteckte Kabelläufe auch. Wo Investitionen in Möbel oder Stauraum keine Option sind, hilft nur:
- den eigenen Tisch so aufgeräumt wie möglich gestalten
- oft rausgehen
- regelmäßige Pausen und Spaziergänge einlegen (beruhigt Augen, Ohren und Geist)
- selbst eine Minute von drinnen in den Himmel schauen
Tipp 3: Lüften
Lüften, lüften, lüften und am besten für viel Luftzirkulation sorgen.
- Wasserschüsseln auf Heizungen sorgen für mehr Luftfeuchtigkeit
- Topfpflanzen verwandeln CO2 in Sauerstoff und sind gut für die Seele
Der EMOTION Women's Day wurde auf den 19. Oktober 2020 verschoben. Die wichtigsten Fragen und Antworten findest du hier.