Krank zur Arbeit: Zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten trotz Krankheit. Warum "Präsentismus" die Gesundheit gefährdet und was dagegen hilft.
Krank zur Arbeit: Was gegen Präsentismus hilft
"Was ist schon eine Erkältung?", "Das bisschen Schnupfen kann doch nicht schaden", "Ich bin doch gar nicht richtig krank!" Kommen dir diese Gedanken bekannt vor? Wir neigen dazu, körperliche Symptome runter zu spielen, um weiterhin leisten zu können. Bei Schnupfen im Bett bleiben, bei Kopfweh ausruhen und hinlegen? Solche Ruhezeiten gönnen sich die meisten Arbeitnehmer*innen nicht - auch wenn sie es lieber tun sollten.
Präsentismus: gefährdet nicht nur das eigene Wohlergehen
Anwesenheit auf der Arbeit trotz Krankheit – auch Präsentismus (von Präsenz, Anwesenheit) genannt – wird in manchen Kreisen sogar gefeiert: Stolz wird die Hausapotheke in der Schreibtischschublade präsentiert, Aspirin unter Kolleg*innen ausgetauscht. Wer Held*in spielt, gefährdet jedoch nicht nur das eigene Wohlergehen, sondern bringt unter Umständen die Mitarbeiter*innen in Ansteckungsgefahr.
Zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten trotz Krankheit
Erkältung, Schnupfen, Kopfschmerzen – für die meisten Arbeitnehmer*innen sind diese körperlichen Symptome kein Grund zu Hause zu bleiben. Rund zwei Drittel aller Beschäftigten schleppte sich im Jahr 2019 trotz Krankheit zur Arbeit, wie der DGB-Index "Gute Arbeit" zeigt. Und das sogar, wenn sich die Erkrankung über einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen zog (13 Prozent). Außerdem kam heraus, dass Frauen häufiger zu Präsentismus neigen: 69 Prozent der weiblichen Befragten gaben an, trotz Krankheit zu arbeiten, bei Männern waren es nur 62 Prozent.
Langfristige Konsequenzen für Gesundheit und Leistung
Dabei kann Präsentismus langfristig die Gesundheit gefährden und sich negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken. Eine aktuelle Studie bei Ärzten zeigt, dass Belastungen das Fehlerniveau um bis zu 60% erhöhen. Außerdem besteht Gefahr, die Krankheit zu verschleppen, was meist zu längeren Ausfällen führt und den Körper schwerwiegend belastet, so dass sich harmlose Krankheiten zu schlimmen Erkrankungen entwickeln können.
Mit Verschleppungen ist nicht zu spaßen
Dr. Tatjana Reichhart, promovierte Fachärztin und Coach, gibt zu, dass sie selbst Anfang des Jahres krank zur Arbeit gegangen ist. Da sie als Selbstständige auf keine Vertretung zurückgreifen kann, gibt es Termine, die sie trotz Krankheit nicht absagt. Dass mit einer Verschleppung nicht zu spaßen ist, erlebte sie bei einem Kollegen, der nach einer nicht auskurierten Grippe mit einer Herz-Muskel-Entzündung ins Krankenhaus musste.
Wir sehen meistens Krankheit und Gesundheit als Gegensätze, tatsächlich ist der Übergang aber fließend.
Nele Groeger, Agentur für psychische GesundheitTweet
Die subjektive Schwelle der Gesundheit
Es gibt keine allgemeingültige Definition für das eigene Wohlbefinden. Ab wann man sich krank fühlt, ist höchst individuell und hängt von vielen Faktoren ab. "Wir sehen meistens Krankheit und Gesundheit als Gegensätze, tatsächlich ist der Übergang aber fließend", erklärt Nele Groeger, Mitbegründerin der Agentur für psychische Gesundheit. Die subjektive Schwelle ist häufig erst dann erreicht, wenn man körperlich nicht mehr kann. Solange der Kopf noch funktioniert, verlockt die geistige Kapazität dazu, trotzdem weiterzuarbeiten. "Wir sind eher dazu bereit uns psychisch zu belasten, bis wir körperliche Symptome entwickeln," so Nele Groeger. "Aber wenn ich Regenerationszeit für mein körperliches und mentales Wohlbefinden brauche, ist es Zeit zu Hause zu bleiben und nach den Ursachen zu forschen."
Nele Groeger, Mitbegründerin der Agentur für psychische Gesundheit SHITSHOW, ist für Consulting und Communications zuständig. Sie berät und befähigt Unternehmen, nachhaltiger mit den psychischen Ressourcen der Mitarbeiter*innen umzugehen.
Wie gesellschaftliche Veränderungen unsere Arbeitsmoral prägen
Nele Groeger erklärt, dass wir häufig das Gefühl haben, dass unsere Arbeit wichtiger sei als unsere eigene Gesundheit, weil wir uns extrem stark mit unserer Arbeit und unserer Leistung identifizieren. Kritisch seien dabei vor allem Unersetzbarkeitsphantasien mit der Annahme: "Ohne mich läuft gar nichts." Wenn nur eine Person alles Nötige weiß, um die Aufgaben zu erledigen, kann sich das Individuum kaum zurückziehen. Die Zusammenarbeit mit anderen Menschen, besonders in sozialen Berufen, erschwert es persönliche Grenzen zu setzen, weil das Zwischenmenschliche unser Verantwortungsgefühl füreinander erhöht. Das könne sich nur mit einer neuen Arbeitskultur ändern.
Warum sich die Kommunikation über Krankheit ändern muss
Wer sich aus psychischen Gründen krank meldet, wird eher als leistungsunfähig angesehen. Das zeigt eine aktuelle Studie von Dr. Tatjana Reichhart. Führungskräfte trauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Burnout oder einer Depression weniger für die Zukunft zu, als Menschen mit körperlichen Krankheiten wie einer Schilddrüsenerkrankung. Transparenz und Entstigmatisierung stellt die Ärztin zwar an oberste Stelle, aber dafür braucht es auch ein Arbeitsumfeld, dass offen mit der Thematik umgeht. „Der offene Umgang mit Belastungen und Erkrankungen kann dazu führen, dass wir uns langfristig gesünder fühlen und gemeinsam dafür sorgen können, dass es uns gut geht,“ so Nele Groeger.
6 Tipps, um die auf die eigene Gesundheit zu achten
Jeder Mensch braucht in seinem Leben mal Unterstützung aus dem sozialen Netzwerk, ob privat oder beruflich. Ein ganzheitlicher Blick kann das schlechte Gewissen beruhigen, wenn man mal zu Hause bleibt. Wie wichtig es ist, die körperlichen Signale ernst zu nehmen, weiß Dr. Tatjana Reichhart aus ihrer langjährigen Praxis als Ärztin. In ihrem Buch "Das Prinzip Selbstfürsorge" (Kösel Verlag, 20€) beschreibt sie, wie wir Verantwortung für unsere Gesundheit übernehmen können: „Selbstfürsorge ist in dem Sinne nicht egoistisch, sondern führt dazu, dass wir am Ball bleiben und später andere unterstützen können." Für EMOTION fasst sie 6 elementare Tipps gegen Präsentismus zusammen:
Tipp 1: Bewusst innehalten
Der erste Schritt beginnt mit einem kurzen Innehalten. So wie wir täglich morgens und abends Zähneputzen, ist eine regelmäßige Routine wichtig, um nach dem eigenen Wohlbefinden zu fragen: Wie geht es mir heute? Wie fühle ich mich?
Tipp 2: Bedürfnisse wahrnehmen
Im Arbeitsmodus ist es wichtig, wachsam mit sich umgehen und die eigenen Grundbedürfnisse zu befriedigen: Ausreichend Wasser trinken und am besten eine große Flasche griffbereit haben, Lüften oder die Heizung anstellen, gesunde Mahlzeiten zu sich nehmen und auf Toilette gehen. Kurze Pausen sorgen für Entspannung und erhöhen die Konzentration.
Tipp 3: Veränderungen erkennen
Dr. Tatjana Reichhart betont die Gefahr, dass wir kleine Veränderungen schnell als neue Gegebenheiten annehmen. Dann werden Rückenschmerzen auf einmal als Normalzustand angesehen und man arrangiert sich mit Verdauungsproblemen. Wenn sich Freunde und Kollegen sorgen und erkundigen, warum man nicht mehr mit zum Mittagessen geht oder weniger lacht, ist es Zeit sich zu fragen: Wie habe ich mich verändert?
Tipp 4: Warnzeichen ernst nehmen
Welche Signale sendet mein Körper? Angefangen von Hörgeräuschen, Kopfschmerzen, Migräne, Bauchschmerzen, Nackenverspannungen, Rückenschmerzen, bis hin zu Schlafstörungen und weniger Antrieb weisen körperliche Signale darauf hin, dass wir Regenerationszeit brauchen.
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Tipp 5: Ärztliche Unterstützung holen
Wenn man die Symptome eine Zeit lang beobachtet hat und sich fragt, ob es noch normal ist, dass man zwei Wochen lang nicht schlafen kann oder Erkältung und Fieber nicht weggehen, ist es ratsam einen Arzt aufzusuchen und unter Umständen zu Hause zu bleiben.
Tipp 6: Angemessen kommunizieren
Den persönlichen Krankheitsgrund braucht niemand zu nennen. Man kann immer sagen: „Im Moment geht es mir nicht so gut, aber über die Details möchte ich nicht reden.“ Und den Wunsch ans Team äußern: „Ich wünsche mir, dass ihr in den nächsten Wochen etwas nachsichtiger mit mir seid, damit es mir wieder besser geht." Sich selbst kann man daran erinnern: „Wenn ich mich jetzt verausgabe und nicht rechtzeitig darauf achte, zu regenerieren, dann werde ich am Ende gar nichts mehr können."
Dr. Tatjana Reichhart ist promovierte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, EMOTION-Coach & Gründerin von Kitchen2Soul. In ihrem Buch "Das Prinzip Selbstfürsorge" gibt sie weitere Tipps für das eigene Wohlergehen (Kösel Verlag, 20€).