Neue Studie zeigt: Bei fast 50 Prozent verschlechtert sich die Depression im zweiten Corona-Lockdown. Auch die Allgemeinbevölkerung fühlt sich zunehmend belastet.
Zweiter Corona-Lockdown und Depression
44 Prozent der Menschen mit diagnostizierter Depression berichten von einer Verschlechterung ihres Krankheitsverlaufs in den letzten sechs Monaten. Fast jeder zehnte hatten Suizidgedanken. Das zeigt eine Sondererhebung des "Deutschland-Barometer Depression" von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutsche Bahn Stiftung. Auch für die Allgemeinbevölkerung ohne psychische Erkrankung ist die Situation aktuell deutlich belastender als im ersten Lockdown. Immer mehr ziehen sich zurück, die Sorgen um die berufliche Zukunft und die familiäre Belastung nehmen zu.
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Fehlende Tagesstruktur und wenig Bewegung begünstigen Depression
Menschen, die sich gerade in einer depressiven Phase befinden, leiden besonders stark unter dem 2. Lockdown. Fast 90% berichten über fehlende soziale Kontakte (15 Prozentpunkte mehr als im 1. Lockdown) sowie Bewegungsmangel (7 Prozentpunkte mehr als im 1. Lockdown). Viele liegen länger im Bett (64%, +9 Prozentpunkte zum 1. Lockdown).
„Für Depressionspatienten sind Bewegung, ein geregelter Tagesablauf und ein fester Schlaf-Wachrhythmus wichtige unterstützende Bausteine in der Behandlung. Wenn diese wegbrechen, kann das den Krankheitsverlauf der Depression negativ beeinflussen“, sagt Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. „Längere Bettzeiten und ein Sich-tagsüber-Hinlegen führen bei den meisten depressiv Erkrankten zu einer Verschlechterung der Depression und zunehmenden Schlafstörungen“
Rückblick in den ersten Corona-Lockdown
Den ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 erlebten depressive Menschen als deutlich belastender als Menschen ohne psychische Erkrankungen (74% vs. 59%), das zeigen Zahlen der letzten Erhebung des "Deutschland-Barometer Depression". Menschen mit Depression litten fast doppelt so häufig unter der fehlenden Tagesstruktur (75% vs. 39%) und konnten dem veränderten Leben in der Corona-Krise seltener auch Positives abgewinnen (38% vs. 58%). Auch längere Zeit nach dem ersten Lockdown belastet die Situation depressiv Erkrankte stärker. Im Juli 2020 gaben 68% an, die Situation als bedrückend zu empfinden. In der Allgemeinbevölkerung waren es 36%.
Auch die Allgemeinbevölkerung inzwischen zunehmend psychisch belastet
Die heute vorgestellten Zahlen zeigen: Auch für die Allgemeinbevölkerung ist die Situation belastender als je zuvor. Inzwischen empfinden 71 Prozent der Bundesbürger die Situation als bedrückend. Fast die Hälfte (46%) der Deutschen erlebt seine Mitmenschen als rücksichtsloser (im 1. Lockdown 40%). Jeder dritte hat Sorgen um seine berufliche Zukunft. Familiär stark belastet fühlen sich im Februar 2021 25% der Befragten, im Sommer 2020 waren es nur 16%.
Wenn Strukturen wegbrechen: Betroffene berichten
Bei der Vorstellung der ersten Studienergebnisse im Herbst 2020 berichteten zwei depressiv Erkrankte, Frau Ulrich und Herr Kepkowski, wie die für sie so wichtige Struktur von einem auf den anderen Tag beinahe komplett wegbrach. Kontakte wurden reduziert, Sportstätten geschlossen, Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen in Einrichtungen und Krankenhäusern waren nicht mehr erreichbar. Hinzu kamen die Unsicherheit, wie lange dieser Zustand andauern würde, und zum Teil Existenzängste durch die abflachende berufliche Auftragslage. Beide berichten von Gefühlen der Hilflosigkeit und Isolation – und von einer starken und langen depressiven Episode in dieser Zeit.
"Eine schwere Depression ist die Hölle"
Häufig wird eine Depression als "Befindlichkeitsstörung" abgetan. Betroffene leiden unter der Stigmatisierung. "Depression zu beschreiben ist schwierig, wenn man nicht gerade in einer depressiven Phase ist", erklärt Frau Ulrich. Es sei "ein bisschen wie die kindliche Vorstellung der Hölle: es brennt, überall sind Flammen es ist ganz schrecklich." Auch Herr Kepkowski zieht eine klare Linie zwischen einem "Herbstblues" bzw. einer depressiven Verstimmung und einer schweren Depression: "Für uns ist das ein Dauerzustand. Da ist es dunkel, ich habe keine Lust an die frische Luft zu gehen, schränke soziale Kontakte ein, will mich niemandem aufdrängen, will mich nicht so zeigen. Das ist schrecklich, man möchte sich in diesem Zustand der Schwäche nicht der Welt zeigen.“
Depression ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern eine Erkrankung des Gehirns.
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Psychater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Tweet
Psychotherapie online hilft, ist aber kein Ersatz
Frau Ulrichs Psychotherapie konnte per Online-Therapie fortgesetzt werden. Insgesamt nutzten 14% der wegen Depressionen in Therapie befindlichen Patient:innen in der Corona-Zeit erstmalig ein Behandlungsangebot via Telefon oder Video (Stand November 2020). Ihre Erfahrungen waren dabei überwiegend positiv. Auch bei der Befragung im Februar 2021 bewerteten 83 Prozent der Menschen, die eine Videosprechstunde bei Psychotherapeut:innen wahrgenommen haben, diese als positiv.
Es finden wieder mehr Behandlungstermine statt
Während im ersten Lockdown noch jede:r Zweite (48%) von ausgefallenen Behandlungsterminen bei Fachärzt:innen oder Psychotherapeut:innen berichtete, sind es im zweiten Lockdown "nur noch" 22 Prozent bei den Fachärzt:innen bzw. 18 Prozent bei Psychotherapeut:innen.
Problematisch ist jedoch, dass es inzwischen schwieriger ist, überhaupt einen Behandlungstermin zu bekommen. 22 Prozent der Menschen in einer akuten depressiven Krankheitsphase geben an, keinen Behandlungstermin zu bekommen. Im 1. Lockdown waren es 17 Prozent. Hegerl erklärt dies mit dem steigenden Bedarf an Terminen durch die zunehmende psychische Belastung. Betont jedoch, wie wichtig es sei, sich auch jetzt Hilfe zu suchen wenn sie gebraucht wird. "Viele Menschen haben das Gefühl, sie müssten zurückstehen und ihnen stehe gerade keine Hilfe zu. Das ist falsch", so Hegert. Auch im Lockdown hätten Betroffene jedes Recht auf Behandlung und sollten diese nicht hinauszögern.
Mehr als zwei Millionen depressiv erkrankte Menschen haben eine Einschränkung ihrer medizinischen Versorgung durch die Corona-Maßnahmen erlebt. (Stand November 2020)
Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Psychater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Tweet
Mehr Diagnosen, aber kein Hinweis auf Zunahme von Depressionen
Eine häufigere Diagnose von Depressionen führt Hegerl nicht zwingend auf einen tatsächlichen Anstieg der Krankheitsfälle zurück. Das Thema rückt weiter in den Fokus, mehr Betroffene suchen sich Hilfe und mehr Ärzt:innen untersuchen auf und diagnostizieren schließlich eine Depression. Schon im Herbst 2020 erklärt Hegerl, die Krankheit entstehe nicht (nur) aufgrund äußerer Einflüsse, sondern die Veranlagung einer Person spiele eine entscheidende Rolle dabei, ob sie im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkrankt. Er erwartete daher nicht, dass die Zahlen der an Depressionen erkrankten Menschen durch die Corona-Pandemie ansteigen. Eine aktuelle Studie der Donau-Universität Krems zeigt jedoch, dass die Zahl derjenigen, die an depressiven Symptomen, Ängsten oder Schlafproblemen leiden, vor allem bei jungen Menschen seit Beginn der Pandemie deutlich gestiegen ist.
Tipps für die psychische Gesundheit
Um besser mit der belastenden Situation umzugehen empfiehlt Hegerl für Menschen mit und ohne Depression einen Wochenplan. Darin werden stundenweise die Aktivitäten für jeden Tag eingetragen, neben Pflichten sollte dabei auch Angenehmes eingeplant werden. „Manche können in der Corona-Krise auch Chancen entdecken und sich einem neuen Hobby, Sport oder einem dickeren Buch zuwenden. Wichtig ist auch ein geordneter Schlaf-Wachrhythmus mit Bettzeiten, die bei ca. 8-9 Stunden liegen sollten“, so Hegerl.
Wichtige Informationen:
Wenn du von Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen betroffen bist, solltest du dir gerade in der aktuellen Situation schnell Hilfe suchen. Hilfreiche Adressen und Tipps:
- Hausärzt:innen, Fachärzt:innen und psychiatrische Kliniken sind geöffnet und können qualifizierte Beratung geben.
- Wissen, Selbsttest und Adressen rund um das Thema Depression unter www.deutsche- depressionshilfe.de, spezielle Hinweise für die Corona-Zeit: www.deutsche-depressionshilfe.de/corona
- Die Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 ist jederzeit erreichbar.
- Das Online-Forum zum Erfahrungsaustausch diskussionsforum-depression.de wird fachlich moderiert
- Deutschlandweites Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33 (kostenfrei)
- Online-Therapie-Programme, die per Rezept verschrieben und von der Krankenkasse übernommen werden. Zum Beispiel Deprexis oder Selfapy
- Selbsthilfegruppen in der Nähe unter www.nakos.de
- E-Mail-Beratung für junge Menschen: u25-deutschland.de oder www.jugendnotmail.de
- Fachlich moderiertes Online-Forum für junge Menschen ab 14 Jahren: www.fideo.de
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