Ehrlich, emotional, bedrückend: In ihrem neuen Buch "Mein Sohn bleibt bei mir!" verarbeitet Meşale Tolu ihre Erlebnisse in türkischer Haft
Eines Nachts stehen sie plötzlich da, dringen in ihre Privatsphäre ein und nehmen ihre Wohnung auseinander. Ja, sie nehmen ihr Leben auseinander. Es ist Ende April 2017 als eine Sondereinheit der Antiterrorabteilung der Polizei die Istanbuler Wohnung der deutschen Journalistin Meşale Tolu stürmt, in der sie mit ihrem Sohn Serkan alleine ist. Zwei Wochen nachdem bereits ihr Mann Suat Corlu festgenommen worden war, wird auch Tolu verhaftet. Der Grund: angebliche Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Verbreitung von Terrorpropaganda. Überstürzt übergibt sie den Zweijährigen im Schlafanzug dem Nachbarn, kann ihm gerade noch Socken anziehen.
Lies hier auch unser Interview mit Meşale Tolu
Eine Welle der Solidarität
In Polizeigewahrsam muss sie eine erschütternde Gewalt mitansehen; im Frauengefängnis erlebt sie etwas Unerwartetes: eine Welle der Solidarität unter den Frauen. Eine Erfahrung, die sie sehr prägen soll. Doch ihre größte Sorge bleibt ihr Sohn. Und so beschließt sie, ihn zu sich zu holen. Die Frauen kümmern sich rührend um ihn, ermöglichen ihm mit den wenigen Dingen, die ihnen geblieben sind, eine möglichst unbeschwerte Zeit unter erschwerten Bedingungen, ohne Schnuller und ohne Milchflasche. Schnuller und Milch – dies erwähnt Tolu in ihrem Buch mehrfach. Es sind die essentiellen Dinge ihres Sohnes und doch stehen sie für so viel mehr: Sie symbolisieren die Grundbedürfnisse, die den Frauen entzogen wurden, und die undemokratische Art, den Inhaftierten mit ihren Familien zu drohen und sie so brechen oder umdrehen zu wollen. Die Autorin beschreibt eindringlich und emotional die Willkür des türkischen Rechtsstaats. Sie klagt das Rechtssystem an und verdeutlicht, wie wichtig es ist, eine Stimme zu behalten – selbst wenn man nicht immer gehört wird.
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Dennoch ist das Buch viel mehr als eine Gefängnisgeschichte. Es ist die Geschichte einer selbstbestimmten Frau, der in einem patriarchischen System die Kontrolle über ihr Leben entrissen wird. Eine Geschichte voller Stärke und zugleich voller Verletzlichkeit, immer schwebend irgendwo zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Tolu erzählt, wie sie für ihren Sohn und letztlich auch dank ihm stark geblieben und mutiger geworden ist. Es ist eine Geschichte einer Frau, die unter den unmöglichsten Bedingungen das gefunden und bewahrt hat, was sie schließlich freigemacht hat: ihre Werte, ihren Mut und ihren Willen, für ein besseres Leben und eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen.
Heute sind sie und ihre Familie wieder vereint und zurück in Deutschland. Doch, der Titel sagt es bereits, es ist noch nicht vorbei. Gerade vom dem Hintergrund der vielen weiteren laufenden Prozesse gegen ehemalige Häftlinge ist dieses Buch so wichtig. Nachrichten und Medienberichte haben Tolu bekannt gemacht, dieses Buch macht sie nahbar. Es beschreibt die menschliche Seite unmenschlicher Ereignisse. Und es ist ein Appell an alle Leser, dass das Thema aus ihren Köpfen nicht verschwinden darf.