Berge von Krimskrams, zu viele Klamotten und im Keller noch Kisten, deren Inhalt keiner mehr kennt? Warum macht uns das so unglücklich und wie kriegen wir es hin, endlich dauerhaft Ordnung zu schaffen?
Ordnung macht glücklich – da sind sich alle einig. Aber warum eigentlich?
Tobt um uns herum das Chaos, hat das auch mit uns zu tun. Aufräumen ist längst nicht mehr nur ein Ordnen unserer Besitztümer. Es geht tiefer. Millionen Menschen auf der ganzen Welt glauben inzwischen an die reinigende Wirkung des Aufräumens für die Psyche. Wie sind die Erfahrungen hierzulande? Wir fragen eine, die es wissen muss: Rita Schilke ist Aufräumcoach in Berlin und Umgebung. Seit über zehn Jahren hilft sie anderen, zu entrümpeln und so eine Ordnung zu schaffen, die glücklich macht und bleibt.
EMOTION: Frau Schilke, warum stresst uns Unordnung so sehr?
Rita Schilke: Chaos und Unordnung um uns herum bedeuten oft eine große Belastung für uns, weil wir immer ein zu viel an Dingen ausblenden müssen, um zu dem Wesentlichen zu kommen, das wir „eigentlich“ tun wollen. Wenn zum Beispiel die Ablageflächen in der Küche mit Lebensmitteln, Töpfen und Tassen vollgestellt sind, können wir gar nicht das Gericht kochen, das uns vorschwebt. Das Chaos um uns herum bedeutet Ballast und macht uns Druck. Wir haben immer das Gefühl „Ich muss noch aufräumen“.
Wenn wir doch eigentlich wissen, dass Unordnung und Anhäufen von Dingen unser Leben so schwermachen, warum tun wir es dann doch?
Viele haben das Aufräumen schlichtweg nicht gelernt. Sie leiden an der Unordnung, bringen es aber nicht fertig, sie zu beseitigen.
Also der sprichwörtliche Berg, vor dem man dann steht.
Ja, ein Zuviel an Dingen bedeutet auch, dass der Berg zu hoch ist, um anzufangen. Manche sind außerdem beruflich und familiär extrem eingespannt. Schließlich gibt es Menschen mit körperlichen oder mentalen Beeinträchtigungen, denen es schwerfällt, selbst aufzuräumen oder die nicht loslassen können.
Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Menschen in unaufgeräumter Umgebung eher dazu neigen, ungesund zu essen – wie ist das zu erklären?
Die Sorgfalt und das Bewusstsein für meine Wohnung oder mein Haus sind oft ein Spiegelbild dafür, wie ich mit mir selbst umgehe. Die eigene Gesundheit wird vernachlässigt. Menschen sorgen nicht für sich. Sie sind immer in Eile und wollen eher für andere etwas erledigen als für sich selbst etwas zu tun.
In meinem Keller steht ein altes Rennrad und seit Jahren nehme ich vor, mal wieder damit zu fahren, tue es aber nicht. Sollte es lieber weg?
Länger nicht genutzte Sportgeräte, Küchenmaschinen oder auch Musikinstrumente finde ich oft bei meinen Kunden. Das provoziert meine Fragen: „Wie lange haben Sie denn auf dem Instrument nicht mehr gespielt oder das Sportgerät nicht mehr genutzt? Haben Sie vor, wieder damit anzufangen? Wenn ja, wann?“ Meine Fragen regen an, ehrlich darüber nachzudenken. Meine Empfehlung ist: ja, das Sportgerät oder Musikinstrument soll weg, vor allem wenn du den Platz für Dinge benötigst, die du jetzt aktuell verwendest. Wenn genügend Platz ist, können die Dinge bleiben. Zu bedenken ist immer: Ballast abwerfen ist gut für die Seele.
„Wie möchte ich, dass es nach der Aufräumaktion aussieht? Wie werde ich mich fühlen? Was werde ich besonders genießen?“ – diese Vorstellungen motivieren beim Aufräumen ungemein!
Rita SchilkeTweet
Sie meinen den emotionalen Ballast?
Richtig. Viele Dinge, an denen wir hängen, stammen aus vergangenen Tagen. Sie stehen für eine ganz bestimmte Zeit in unserer Vergangenheit. Zum Beispiel ruft die heute mir nicht mehr passende superschicke Jeans die Zeit zurück, als ich jeden Abend ausging und die Partyzeit genoss. Das Loslassen, sich Verabschieden, sich Trennen ist mit Verlust verbunden und tut weh. Dabei sind es aber nicht die Sachen an sich, sondern die Erinnerungen, die damit verbunden sind. Es kann also hilfreich sein, ein Teil noch einmal bewusst zu würdigen, sich zu erinnern und dann loszulassen. Festhalten an Vergangenem bedeutet nämlich oft auch, für die Gegenwart und neue Erfahrungen, eine neue Liebe, nicht bereit zu sein.
Wenn ich mich endlich entschließe zu entrümpeln, wie gehe ich dann am besten vor, um Frust zu vermeiden und vielleicht aufzugeben?
Hilfreich ist, sich zunächst bewusst zu machen, was einen am meisten stört, wo der Schuh am meisten drückt. Dann rege ich dazu an, eine Zielvorstellung zu entwickeln: „Wie möchte ich, dass es nach der Aufräumaktion aussieht? Wie werde ich mich fühlen? Was werde ich besonders genießen?“ Das motiviert ungemein. Kleine, realistische Ziele helfen, dass man sie auch umsetzen kann, und motivieren zum Weitermachen. Das wiederum macht uns glücklich, denn unser Gehirn schüttet zur Belohnung Dopamin aus! Wesentlich ist, schon positiv zu starten. Statt einem negativen „das schaffe ich nie“ besser denken „nach der ersten Schublade nehme ich mir noch eine vor“. Dann folgt der konkrete Plan, wie man vorgehen will. In meiner Praxis hat sich ein Zeitraum von drei Stunden sehr bewährt. Einen bestimmten Bereich, etwa eine Schublade, einen Schrank räume ich komplett aus und prüfe bei jedem Teil, was damit geschehen soll. Im Team zusammen mit einem Freund, einer Freundin oder mit Unterstützung eines Aufräumcoaches macht es noch mehr Spaß.
Muss denn alles weg oder gibt es Dinge, die bleiben dürfen?
Bei den Dingen, die aussortiert werden, kommt es immer auf die Beantwortung der folgenden Fragen an:
- Gefällt es mir noch? Mag ich es?
- Wann habe ich es zum letzten Mal benutzt oder angezogen?
- Ist es intakt? Oder muss es repariert werden?
- Habe ich einen guten Platz dafür?
- Würde ich es vermissen?
Alles, was am Herzen liegt, kann bleiben. Es kommt dann darauf an, für die ausgewählten Dinge einen guten Platz zu finden. Denkbar ist auch eine Schatzkiste, die mit ausgewählten, lieb gewonnenen Erinnerungsstücken eingerichtet wird, wie etwa der erste Liebesbrief, oder ein schönes Foto meiner verstorbenen Mutter oder der Oma, der erste ausgefallene Milchzahn. So kann ich mich an den Dingen, die mir wirklich wichtig sind, erfreuen.
Und wann wird das Festhalten an alten Dingen problematisch?
Viele Menschen tun sich schwer mit dem Loslassen, weil die Dinge für sie vergangene Erlebnisse und Beziehungen repräsentieren. Statt sich mit Freude und Elan der Gegenwart zu stellen, verharren sie in der Vergangenheit, das lähmt und kann schwermütig machen. Oft führt das dazu, dass Regale und Schränke überquellen und kein Platz für gegenwärtige Aktivitäten da ist. Im schlimmsten Fall muss sogar das Bett oder das Sofa freigeräumt werden. Problematisch wird es also dann, wenn wir Sachen behalten, die wir gar nicht benutzen und sogar immer mehr kaufen.
In einer aufgeräumten Wohnung kann ich mich auf die Gegenwart konzentrieren und bin frei für Neues.
Rita SchilkeTweet
Aber oft hält die Freude über Neues ja gar nicht so lange an und wir kaufen wieder was.
Ja und so verstopft allmählich alles. Immer wieder höre ich die Überlegung „ich könnte es ja nochmal brauchen“. Das ist schwierig, wenn zu wenig Platz ist. Meine Devise: nur Sachen aufbewahren, die man auch gut verstauen kann.
Mehr Platz heißt auch mehr Raum für positive Gedanken und Kreativität?
Ja, auf jeden Fall. In einer aufgeräumten Wohnung kann ich mich auf die Gegenwart konzentrieren und bin frei für Neues. Meine Gedanken können frei schweifen und bleiben nicht an herumliegenden Zeitungsstapeln oder Kleidungsstücken hängen.
Jeder Mensch ist ein anderer Ordnungstyp, manch einer behauptet, das Chaos für Kreativität zu benötigen – welche Unterscheidungen gibt es da?
Worauf es einzelnen Menschen bei der Ordnung besonders ankommt, kann ganz unterschiedlich sein. Prinzipiell lassen sich aus meiner Erfahrung folgende Ordnungstypen unterscheiden:
- Der Sicherheitstyp: Einer Person mit großem Sicherheitsbedürfnis kommt es darauf an, alles im Zugriff zu haben, zu wissen, was im Besitz ist und wo es sich befindet. Dann ist es auch wichtig, Daten zu sichern und immer erreichbar zu haben
- Die Minimalist:innen: Minimalist:innen geht es darum, ihr Umfeld möglichst spartanisch einzurichten und zu ordnen. Nichts Überflüssiges steht herum. Sie umgeben sich nur mit dem wirklich Notwendigem
- Die Ästhet:innen: Ästhet:innen kommt es vor allem auf eine ansprechende Gestaltung an. Ausgewählte Objekte werden wirkungsvoll arrangiert und bekommen einen besonderen Platz. Der Gesamteindruck ist wichtig. Das Zusammenspiel von Farben und Formen steht im Vordergrund. Auch hier liegt nichts Überflüssiges herum
Bei Menschen, die behaupten, Chaos für die Kreativität zu benötigen ist die Grenze dann erreicht, wenn sie die benötigten Dinge nicht mehr finden.
Wie schafft man es, die Ordnung zu halten, die Leichtigkeit und so vielleicht auch das Glück?
Einige Prinzipien und Rituale helfen dabei, eine einmal hergestellte Ordnung beizubehalten. Das kann auch Spaß machen! Es entsteht Leichtigkeit. Hilfreich ist, wenn alle Dinge ihren festen Platz haben: der Schlüssel am Schlüsselbrett, die Kaffeedose im Küchenschrank über dem Wasserkocher, die Fernsehzeitung im Regal etc. Dann wandern die Dinge nach ihrem Gebrauch immer gleich zurück an ihren Platz. Rituale mit kleinen, regelmäßigen Aufräumaktionen belasten wenig und stellen die Ordnung immer wieder neu her: vor dem Schlafengehen räumen Eltern und Kinder (oder diese alleine, wenn sie schon größer sind) die Spielsachen zurück ins Kinderzimmer usw. Es gilt also, Dinge gleich zu erledigen. Voraussetzung ist, dass eine schöne, harmonische Grundordnung hergestellt ist.
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