Keine will die Fehler ihrer Eltern wiederholen – doch manche Verhaltensweisen werden trotzdem immer weitervererbt. Wie man diesem Teufelskreis entkommt, erklärt Psychologin Stefanie Stahl.
Fünf Jahre in Folge Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste zu belegen ist eine Leistung – und dann auch noch jedes Mal mit demselben Buch! Mit "Das Kind in dir muss Heimat finden" hat Stefanie Stahl offensichtlich bei vielen Menschen einen empfindlichen Punkt getroffen. In ihrem Ratgeber legt die Psychotherapeutin auf nachvollziehbare und einfühlsame Art dar, wie das, was wir in unserer Kindheit erlebt haben, unseren Charakter formt – und wie wir diese Erkenntnis für uns nutzen können. Heute ist Stefanie Stahl Deutschlands Guru in Sachen psychische Gesundheit und erste Anlaufstelle für alle, die Frieden mit ihrem inneren Kind schließen möchten. Dazu gehören auch Stars wie Nora Tschirner, Diana zur Löwen oder Atze Schröder, die der gebürtigen Hamburgerin alle schon in ihrem Podcast "Stahl aber herzlich" das Herz ausschütteten. Stefanie Stahls neues Werk "Wer wir sind" ist eine bahnbrechende Abhandlung über die menschliche Psyche, quasi ein Lehrbuch, um zu verstehen, warum wir handeln, wie wir handeln. Denn erst durch dieses Verständnis sind wir in der Lage, unser Mindset zu verändern – und uns von den Traumata zu befreien, die unsere Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern an uns weitergegeben haben.
EMOTION: Frau Stahl, wieso sind wir unseren Eltern oft charakterlich so ähnlich? Liegt das in den Genen oder an der Erziehung?
Stefanie Stahl: Es liegt an beidem. Es gibt Charakterzüge, die eine hohe Vererblichkeit haben, Intelligenz zum Beispiel. Andere Merkmale wie Ehrlichkeit sind eher anerzogen.
Wie sehr prägt uns unsere Kindheit?
Man sagt, dass das, was man in den ersten zwei Lebensjahren erlebt, irreversibel ist. Je jünger das Kind, desto mehr Verantwortung tragen die Eltern, denn es hinterlässt Spuren, wie man in den Anfangsjahren behandelt wird. Wird man zum Beispiel vernachlässigt, kann das zu Prägungen führen, die ein Leben lang bleiben, wenn man nicht gegen sie vorgeht. Negative Glaubenssätze wie "Ich genüge nicht" oder "Ich falle zur Last" verknüpfen sich in jungen Jahren sehr stark im Gehirn, da es noch gar nicht richtig entwickelt ist.
Welche Auswirkungen hat das auf das Erwachsenenleben?
Unser Gehirn berechnet von morgens bis abends Erwartungen, was passieren könnte. Wenn ich zutiefst davon überzeugt bin, dass ich nicht genüge, dann erwarte ich, dass andere Menschen das genauso sehen. Ich rechne mit Ablehnung und verhalte mich dann auch dementsprechend.
Hat die Liebesbeziehung unserer Eltern wirklich so einen starken Einfluss auf unsere eigenen Beziehungen?
Absolut. Das Schlimmste für Kinder ist, wenn die Eltern sich ständig streiten. Das ist noch viel schlimmer als eine Trennung, denn durch die lernen Kinder wenigstens, dass man aus Krisen herauswachsen kann. Beim Dauerstreit gibt es keine Konfliktlösung, kein Happy End. Die Kinder, die aus zerstrittenen Elternhäusern kommen, haben später meist große Beziehungsprobleme, das haben Studien ergeben.
Inwiefern werden solche Prägungen über Generationen weitergegeben?
Das merkt man stark an der Nachkriegsgeneration in Deutschland. Wenn zum Beispiel eine Mutter im Krieg mitbekommen hat, wie ein Kind stirbt, kann es sein, dass sie später vom Weinen ihrer eigenen Tochter getriggert wird. Sie verfällt in eine Schockstarre, weil sie traumatisiert ist, und kann nicht mit der Trauer ihres Kindes umgehen. Dieses wiederum lernt dadurch ebenfalls nicht, was Trauer ist und wie es sich verhalten soll. Wenn die Tochter dann selbst Mutter wird und diese Prägung nicht reflektiert, kann sie ihrem eigenen Kind nicht vermitteln, was Trauer ist, und so wird das Trauma immer weitergetragen. Im Nachkriegsdeutschland fand auch keine Volkstrauer statt. Die Leute haben lange nicht über das Geschehene gesprochen, was dazu beigetragen haben könnte, dass hier heutzutage so viele Menschen an Depressionen leiden.
Wieso fällt es uns so schwer, uns aus diesem Teufelskreis zu befreien?
Wir haben eine wahnsinnig enge Bindung zu unseren Eltern, denn sie sind unsere ersten großen wichtigen Liebespersonen. Das ist ein Band, das sich so stark einprägt, dass es ein Leben lang erhalten bleibt. Bei vielen Menschen sitzt die Loyalität zu ihren Eltern so tief, dass sie lieber an ihren negativen Glaubenssätzen festhalten, als sich einzugestehen, dass die Eltern ein paar Dinge ziemlich vermasselt haben. Die Frage, die mir am häufigsten gestellt wird, ist: Sind die Eltern denn wirklich an allem schuld? Das zeigt doch schon, wie groß unser Bedürfnis ist, unsere Eltern zu schützen.
Sind die Eltern denn nun an allem schuld?
Eltern haben eine hohe Verantwortung, aber sie sind nicht an allem schuld. Wir treffen letztendlich unsere eigenen Entscheidungen und gestalten unseren Lebensweg selbst.
Wie schafft man es auf eigene Faust, negative Glaubenssätze und Prägungen aus der Kindheit loszuwerden?
Nur wenn ich mein eigenes Muster erkenne, kann ich einen gewissen Abstand dazu gewinnen und mich daraus befreien. Der erste Schritt ist, zu hinterfragen: Haben diese negativen Glaubenssätze überhaupt mit mir zu tun? Oder eher damit, wie ich aufgewachsen bin? Es muss klar innerlich visualisiert werden, dass nicht ich versagt habe, sondern partiell meine Eltern.
Wie geht's dann weiter?
Damit geht auch ein Teil der Identität verloren. Also muss man sich erstmal fragen: Was will ich stattdessen glauben? Es ist wichtig, sich mit positiven Glaubenssätzen zu identifizieren, die realistisch sind: "Ich bin so gut, wie ich bin", zum Beispiel. Dann sollte man anfangen, diese Glaubenssätze auch zu leben und in Verhaltensweisen umzuwandeln.
Wie ratsam ist es, den Kontakt zu Eltern abzubrechen, die einem nicht guttun?
Wenn es Eltern sind, die einen fortlaufend herabsetzen, benutzen, manipulieren, die immer wieder das Messer in dieselbe Wunde stechen, dann ist es durchaus ratsam, den Kontakt abzubrechen und zu sagen: Ich muss mich selbst schützen.
Sind wir letztendlich unseres eigenen Glückes Schmied?
Es ist so, dass wir gewissen Schicksalen unterworfen sind, in welche Familie wir hineingeboren werden, in welches Land, in welche Kultur. Ich gehöre nicht zu diesen Fundamentalisten, die sagen, man ist komplett für sein eigenes Glück verantwortlich. Aber man hat vor allem hier in unserer westlichen Welt doch auch viele Möglichkeiten, sich aus alten Mustern zu befreien. Dafür muss man aber eben verstehen, wie die menschliche Psyche funktioniert. Genau diese Grundstrukturen versuche ich in meinem neuen Buch zu vermitteln.
Und dann können wir uns selbst heilen?
Wenn man die Struktur unserer Psyche versteht, kann man sie mit den richtigen Werkzeugen auch reparieren – das ist genauso wie bei einem Auto. Man kann sehr viel in Eigenverantwortung machen, dafür braucht man nicht immer eine:n Psychotherapeut:in. Die sind den Leuten vorbehalten, die echte psychische Störungen haben. Viele kämpfen mit Beziehungsproblemen, ihrem Selbstwertgefühl oder moderaten depressiven Verstimmungen. Da kann man sich sehr gut selbst helfen! Aber es geht nicht nur darum, für sich selbst zufrieden zu sein.
Sondern?
Es geht auch darum, sich gegenüber anderen Leuten richtig zu verhalten. Ganz viele Probleme, die ich mit mir herumtrage, wirken sich automatisch auf die Menschen in meinem Umfeld aus. Ich kann hinter mir auch eine Spur des Unglücks und der Verwüstung hinterlassen, wenn ich mich nicht um mich selbst kümmere. Wenn jeder Mensch auf der Welt reflektiert wäre, dann gäbe es so Leute wie Putin, Trump und wie sie alle heißen gar nicht. Selbstreflexion ist eine gesellschaftliche und politische Notwendigkeit, die weit über das eigene Glückserleben hinausgeht!
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 12/22.
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