Vater, Mutter, Kind? Dieses Familienmodell passt für viele Menschen nicht mehr. Sie suchen und finden neue Formen des Miteinanders. Welche Herausforderungen es dabei gibt – und warum "Solidaritätsnetzwerke" besser funktionieren können als Kleinfamilien.
Nur ein Mädchen in meiner Grundschulklasse wurde alleine von seiner Mutter erzogen. Bei allen anderen: berufstätige Väter, die Mütter meist Hausfrauen und (fast immer) zwei Kinder. In dem konservativ geprägten Vorort von Hamburg, in dem ich groß geworden bin, war das damals so. Mein Bruder und ich fielen schon fast aus der örtlichen Statistik, weil unsere Mutter auf einer 80-Prozent-Stelle arbeitete. Bei Mitschüler:innen bewunderte ich fast ehrfürchtig die Doris-Day-haften Haushalte, in denen manche von ihnen lebten. Bei uns sah es anders aus, improvisierter.
Als Erwachsene stand für mich dennoch außer Frage, dass ich auch mit Kindern berufstätig sein würde. Wie anstrengend das zeitweise sein würde, hatte ich jedoch nicht erwartet. Mein Mann und ich teilen uns die Hausarbeit, kümmern uns beide um unsere zwei Kinder. Trotzdem: Egal wie gut man organisiert, es bleibt viel Hetze, Druck und ein seufzendes Gefühl von "Es muss halt jetzt so gehen".
Work-Family-Balance – zum Scheitern verurteilt?
Es gibt Momente, da kann ich die neuen Opting-out-Mütter verstehen: gut ausgebildete Frauen, die sich nach der Geburt ihrer Kinder für ein Leben als Hausfrau entscheiden. Das wäre nichts für mich, aber ja, ich kann nachvollziehen, wie man auf die Idee kommt. Es ist eine radikale Antwort auf die andauernde Überlastung, die viele berufstätige Eltern erleben. Wissenschaftler:innen wie die Politologin Mariam Tazi-Preve sprechen gar von einem Versagen der klassischen Kleinfamilie, die – alleingelassen von Staat und Gesellschaft – im Privaten die Lösungen für alle beruflichen und familiären Probleme finden soll. Und die davon überfordert ist.
Für viele Menschen ist das Prinzip der Kleinfamilie allerdings überhaupt keine Option mehr, weil das Konzept für sie gar nicht passt: In jeder fünften Familie gibt es nur einen Elternteil, Scheidungen und Trennungen sind normal. Es entstehen Patchwork-Familien, die neue Wohn- und Betreuungsformen entwickeln. Immer mehr Menschen fordern, Beziehungsformen abseits der klassischen Modelle gleichberechtigt leben zu dürfen (und damit nicht nur geduldet zu werden). Die Poly-Community wächst, die Berliner Anwältin Lucy Chebout kämpft beispielsweise für queere Eltern und protestierte lange dagegen, dass gleichgeschlechtliche Partnerinnen lediglich über einen Adoptionsantrag zur Mit-Mutter werden können. Auch der Bildband "Come Together" aus dem Gestalten Verlag zeigt, dass es eine Sehnsucht nach anderen Formen des Miteinanders gibt: Die Mehrgenerationenhäuser darin sehen nicht mehr aus wie Kitas für Erwachsene, sondern begeistern mit architektonischer Raffinesse und Coolness.
Ist Blut wirklich dicker als Wasser?
Die heteronormative Kleinfamilie mag zahlenmäßig zwar immer noch dominieren, aber wir sollten uns bewusst machen, dass sie kein Naturgesetz ist – und auch nie war. Diese Form des Miteinanders hat sich in den westlichen Staaten erst seit dem 18. Jahrhundert zum Ideal entwickelt. Indigene Kulturen kennen seit jeher andere Modelle von Familie und Gemeinschaft. In der Antike wiederum galt die Freundschaft als erstrebenswerteste Form der Zusammengehörigkeit. In Zeiten sinkender Geburtenzahlen und großer Mobilität (plus erschöpfter Kleinfamilien) knüpfen heute wieder mehr Menschen Solidaritätsnetze jenseits von Liebe und Verwandtschaft. Sind Freund:innen also bald die neue Familie?
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz rät Frauen dazu: "Macht euren Kinderwunsch nicht abhängig vom Wunsch nach romantischer Liebe. Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie allein – oder in einer Gemeinschaft mit anderen Frauen, die ebenfalls Kinder wollen. Oder mit Männern, die Kinder wollen, aber nicht eure Partner sind. Es braucht keine traditionelle Familienstruktur, um Kinder aufzuziehen."
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Für die deutsche Gesetzgebung existieren solche Beziehungen (noch) nicht. Wer Freundschaft verbindlich leben möchte, muss die Regeln selbst definieren und individuelle Verträge abschließen. Ob Erbrecht, Pflege, Versorgungsansprüche und Ehegattensplitting, vor dem Gesetz zählt bislang allein Verwandtschaft.
Das Sprichwort "Blut ist dicker als Wasser" scheint diese Bewertung zu bestätigen. Es wird heute so verstanden, dass man sich im Zweifel besser auf die Familie als auf Freund:innen verlässt. Ursprünglich war es aber genau andersherum gemeint, erklärt der Freundschaftsforscher und Soziologe Janosch Schobin: "Die Redewendung ist alttestamentarischen Ursprungs. Ausgedrückt werden sollte damit: Die Beziehungen, die durch Blutschwüre entstehen, sind stärker als die Beziehungen, die der Geburt im gleichen Geburtswasser geschuldet sind."
Familie neu definiert – auch bei uns
In der Politik tut sich dahingehend tatsächlich etwas. Es werden zwar keine Blutsbrüder- oder -schwesternschaften angestrebt, aber dafür Verantwortungsgemeinschaften. Das etwa schlägt die Heinrich-Böll-Stiftung vor. Über eine amtliche Registrierung sollen Menschen ähnliche Rechte und Pflichten wie Ehepaare erhalten können – egal, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie stehen oder ob sie miteinander ins Bett gehen oder nicht.
Im Mehrgenerationenhaus, mit Freund:innen, zu viert im Vorort oder Patchwork in zwei Wohnungen: Was passt und stimmig ist, kann sich individuell im Laufe des Lebens verändern. Sicher ist: Jeder Entwurf von Gemeinschaft und Familie hat am Ende auch seine speziellen Vorzüge und Herausforderungen. Seit Anke Stellings Roman "Bodentiefe Fenster" etwa wissen wir um die Abgründe von Baugemeinschaften. Die Autorin, selbst Teil einer Baugemeinschaft in Prenzlauer Berg, verarbeitete darin ihre Erfahrungen mit dieser Lebensform – nicht unbedingt zur Freude ihrer Mitstreiter:innen, die sie wegen ihres Romans nun für eine Nestbeschmutzerin halten. Auch bei zwei Freundinnen, die mit ihren Kindern eine "Moms-WG" gründeten, ging es nicht lange gut. Was im Urlaub super passte, war im Alltag instabil, zu unterschiedlich die Vorstellungen von Erziehung, Engagement und finanziellem Einsatz. Was nicht heißt, dass dieses Modell bei zwei anderen Menschen nicht klappen kann. Und es bedeutet vor allem nicht im Umkehrschluss, dass Familienverbände oder die oft verklärte Großfamilie die weniger störanfälligen Alternativen sind. Wie beklemmend diese Art der Verbundenheit im Extremfall sein kann, beschreibt die US-Autorin Deborah Feldman, 35, in ihrem Memoir "Unorthodox". Sie wuchs in einer streng religiösen Gemeinde auf. Mit 23 brach sie mit der Familie, um ihren Traum von einem freien selbstbestimmten Leben in Berlin zu verwirklichen.
Vielleicht liegt die Kunst darin, zu akzeptieren, dass jede Form von Familie und Gemeinschaft auf wunderbare Weise Bindung, Halt und Geborgenheit schenken, aber genauso auch Reibung, Frustration und Begrenzung bedeuten kann. Und auch, dass das Zusammenleben mit Menschen, die wir mögen oder lieben, oft viel Arbeit, Ausprobieren und eine Menge Toleranz und Flexibilität erfordert. Die wachsende Freiheit, die wir dabei heute haben, ist aber ein Glück, eine Chance. Daraus sollten wir etwas machen.
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