21 Millionen Treffer spuckt Google aus, wenn man "Nein sagen lernen" sucht. Trotz der vielen Tipps ist es nicht gerade leicht. Weiß auch unsere Kollegin Sarah Schulz, der das Neinsagen sehr schwer fiel, als wir sie um einen Selbstversuch baten. Wie sie ihrer inneren Mutter Teresa den Kampf angesagt hat.
"Nein, das kannst du alleine." Mit fragenden Augen starrt mein 11-jähriger Sohn mich an. Er steht im Flur, hält mir seine Stiefel vor die Nase und es wirkt ein bisschen so, als hätte ich ihm verkündet, dass er zwar im Legoland wohnen, aber dort nicht spielen dürfe. Tatsächlich soll er sich nur selbst die Schuhe binden.
Morgens muss alles schnell gehen: Dusche, Frühstück, anziehen und los. Zugegebenermaßen beschleunigt meine Hilfe diese Vorgänge enorm. Immer gebraucht zu werden, nervt aber auch. Und so muss mein Kind heute Morgen herhalten und erlebt als erstes die Frau, die nicht mehr zu allem Ja sagt.
Ein Experiment
Der Einstieg in dieses Experiment fällt mir unerwartet leicht und ich ahne, dass sich das bald ändern wird. Ja sagen ist so schön schnell, zeitaufwendig ist es erst im Anschluss: Ich halte "nur kurz" bei der Post (für die Kollegin), besorge "kurz" im Biomarkt grünen Tee (für die Nachbarin) und schreibe mitten in der Nacht eine Hausarbeit, die als Gruppenarbeit einzureichen ist (allein).
Schluss damit! Gefühle der Aufregung gepaart mit Unwohlsein kommen in mir auf, mein Vorhaben bleibt geheim. Ich bin gespannt auf die Reaktionen.
"Nein, heute leider nicht, nächstes Mal wieder!", entgegne ich dem Obdachlosen und vermeide Augenkontakt. Ich werde schneller und mein Nein macht mir Unbehagen. Minutenlang zerdenke ich diese Situation. Wie weit will ich wirklich gehen? Ich entscheide, dass ich da jetzt durchmuss: raus aus der Komfortzone!
Habt ihr auch diese Nein-Schwäche?
Mit meiner Nein-Schwäche bin ich nicht allein: Über 21 Millionen Suchergebnisse findet Google, wenn ich "Nein sagen lernen" eintippe. Fachbücher, Übungen, Onlinekurse und Seminare sollen helfen, dem notorischen Ja-Sagen ein Ende zu setzen. Es gibt Motivationssprüche, die das Selbstbewusstsein stärken sollen: "Ein Nein zu anderen kann ein Ja zu dir sein." Oder Weisheiten wie "Die Fähigkeit, Nein zu sagen, ist der erste Schritt zur Freiheit" – das hat der Schriftsteller Nicolas Chamfort gesagt, und das schon im 18. Jahrhundert, es ist also kein Problem unserer Zeit. Aber: Warum fällt es mir und all den anderen mit derselben Suchanfrage dann so schwer, das umzusetzen? Eine Überschrift lautet: "Nein sagen tut nicht weh." Mir schon.
Am Abend im Supermarkt: Noch bevor die Frau hinter mir die Frage stellt, spüre ich ihre Blicke. Zu mir, in meinen Einkaufswagen, zurück zu mir. Sie trägt nur drei Teile. "Entschuldigung, kann ich bitte vor, ich habe es eilig!" Mir wird warm, weil ich weiß, was ich erwidern werde, erwidern muss: "Nein, tut mir leid." Ich schiebe hinterher: "Ich habe auch keine Zeit", was heute nicht stimmt. Eine Frage geht mir anschließend nicht aus dem Kopf: Fällt es mir etwa leichter, jemanden anzulügen, als eine Bitte abzulehnen?
Das Helfersyndrom
Der Organisationspsychologe Jörg Heidig spricht in diesem Zusammenhang von "Wunsch-Selbstbildern". Mein Verhalten ist klar dem Helfersyndrom zuzuordnen. Laut Heidig suche ich mir eine Rolle, in der ich einen gehobenen Status genieße. Helfer:innen ist man schließlich dankbar. Und da das Gehirn ja an viele Notlügen gewöhnt ist, fällt es mir leicht, Ausreden zu erfinden. Irgendwie erschreckend, aber es ergibt Sinn.
Später liege ich wach im Bett und versuche zu ergründen, wo mein Problem liegt. Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich mir eingestehen: Ich habe Angst vor Ablehnung! Und ich möchte gebraucht werden, dieses Gefühl macht mich glücklich. Ich fühle mich dann wertvoller.
Die Trainerin für Selbstmanagement Sonja Schneider-Blümchen unterteilt Ja-Sager:innen in Kategorien, um zu erkennen, aus welcher Intention heraus das Ja kommt. Unter anderem gibt es soziale Angsthasen (du gehst Konflikten aus dem Weg), bist der/die Unersetzliche (nichts läuft ohne dich) oder Mutter Teresa (liebst das Gefühl, gebraucht zu werden). Ich atme tief durch: Mutter Teresa ohne Nobelpreis, das bin ich.
Früh morgens ist mein Gym leer. Kein Anstehen vor Geräten, keine Warteschlangen vor den Duschen. Am Rückentrainer beende ich gerade den vorletzten Satz, als jemand fragt, ob ich fertig bin. Normalerweise wäre ich sofort aufgestanden: "Ja, klar!" Mein Puls wird noch schneller, mein Gesicht runzelt sich entschuldigend zusammen. Ich kann das Gefühl schwer aushalten, wenn auf mich gewartet wird. Meine Konzentration verschwindet und nimmt den Spaß am Training gleich mit. "Nein, tut mir leid, ein Satz noch!"
Challenge: ein Nein ohne Erklärung
Ich frage mich: Ist ein Nein ein echtes Nein, wenn immer eine Erklärung folgt? Schaffe ich es, dieses Wort für sich alleine stehen zu lassen? Challenge accepted.
Ich scrolle durch mein Smartphone, als eine WhatsApp-Nachricht erscheint. Gefühlte Minuten starre ich auf den Betreff "Umzug, 29.1." Mutter Teresa diskutiert mit der Experiments-Stimme und verliert: Ich tippe "nein" ins Handy. Am 29.1. wird entspannt. Keine Erklärung nötig. Das Neinsagen klappt. Das Nein auch wirklich zu meinen ist das Schwere. Der erhoffte Gewöhnungseffekt bleibt aus, dafür ist da die Einsicht: Jahrelanges Verhalten kann nicht so schnell abgelegt werden.
Endlich Platz für meine Bedürfnisse
Das Buch "Sei einzig, nicht artig" von Coach Martin Wehrle hilft mir, durchzuhalten. Wehrle geht davon aus, dass Ja-Sager:innen ihr Leben verlieren. Ich verstehe, worauf er hinaus möchte, die Ansätze gefallen mir: Wenn ich jeder Bitte nachgehe, ist der Tag mit der Wunscherfüllung anderer voll, dann ist kein Platz mehr für meine Bedürfnisse. Mein Leben ist nicht verloren – aber ich gebe einen Teil davon ab.
Ich liebe Apfeltee. Heute bestelle ich ihn in einem neuen Restaurant. Doch der Tee ist nicht dunkelbraun, wie ich ihn kenne, sondern giftgrün, und Krümelchen am Boden weisen auf Instantpulver hin. Nach ein paar Schlucken gebe ich den Kampf auf. Meinem Freund schmeckt der Tee auch nicht und so werde ich ganz hibbelig. Keine Ausrede, kein Runterzwingen.
Gleich werde ich der Bedienung antworten müssen, dass mir diese grüne Instantplörre nicht schmeckt. Ein kurzer, schmerzhafter Dialog: "Hat Ihnen der Tee nicht geschmeckt?" – "Nein." Ich muss trotzdem bezahlen, aber ich habe beim Gehen keine Bauchschmerzen.
Nein sagen ist wichtig - in den richtigen Momenten
Eine Woche voller Verneinungen liegt hinter mir. Vor Arbeitsbeginn flitze ich noch schnell in den Supermarkt. Die Schlange ist meterlang und Rufe nach einer zweiten Kasse laufen ins Leere. Schnell habe ich alles, was ich brauche, in den Einkaufswagen geworfen und muss jetzt warten. Als ich endlich meine Waren auf das Band lege, höre ich sie hinter mir. "Entschuldigung, ich muss gleich zur Arbeit, würden Sie mich vorlassen?" Ich lächle freundlich und halte Augenkontakt: "Nein." Ich fühle dieses Nein. Es fühlt sich gut an. Und diesmal meine ich es so. Mein Lächeln bleibt. Im Augenwinkel sehe ich die Frau, wie sie Münzen zusammensucht. Alles richtig gemacht.
Auf dem Weg zum Auto gebe ich dem Obdachlosen etwas Kleingeld und ein Laugenbrötchen. Nein sagen ist wichtig, aber in den richtigen Momenten. Wenn das Wasser bis zum Hals steht, die Akkus leer sind und die eigene To-do-Liste voll ist, kann ein kleines Nein Großes bewirken. Ich werde mich vermutlich auch in Zukunft nicht ganz von meiner Mutter Teresa trennen können, aber ihr hin und wieder nicht mehr zuzuhören – das bekomme ich hin. Ich habe jetzt ja jeden Morgen einen Moment Zeit, mich daran zu erinnern, nämlich immer dann, wenn mein Sohn sich alleine die Schuhe bindet.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 4/23.
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