Lange hat unser Kolumnist gedacht, man müsse furchtlos sein, um mutig zu sein. Bis ihm klar wurde, dass es Mut ohne Furcht gar nicht gibt. Liebeserklärung an eine sehr, sehr mutige Frau
Jeden Morgen um Viertel vor sieben ging eine Frau hinter ihrem Hund die gutbürgerliche Straße entlang, in der ich aufgewachsen bin, einen Becher Kaffee in der einen Hand, einen Regenschirm in der anderen – auch wenn es nicht sein kann, so schlecht ist das Wetter nicht einmal in Hamburg, aber in meiner Erinnerung trug sie den Schirm immer – und eine Zigarette im Mundwinkel. Sie hatte einen Trenchcoat über ihrem Nachthemd an und Gartenpantoffeln an den Füßen, und wir hingen, wie alle Nachbarn, gebannt am Fenster, gleichzeitig fasziniert und leicht verstört ob des exzentrischen Auftritts dieser Frau, der ganz offensichtlich die Konventionen des Gassigehens so egal waren wie der Eindruck, den sie in dieser halbdörflichen Gemeinde am äußersten Rand der Stadt hinterließ. Wobei man sagen muss: Wir hingen nicht genauso am Fenster wie die anderen. Denn für die anderen war die Frau eine Nachbarin. Für mich war sie Mami.
Sie war mir oft peinlich, damals: Mami, die nach einer Straße suchend auf das genervte Hupen eines hinter ihr fahrenden Mannes ihr Auto mitten auf der Kreuzung abstellte, ausstieg, zu ihm ging und flötete: "Fahren Sie doch bitte mein Auto, ich bin ja nur eine Frau." Mami, die anstatt wie die Mütter meiner Klassenkameraden einen makellosen Haushalt zu führen, einen Zettel an den Haufen Dreckwäsche hängte, den meine Schwestern und ich auftürmten: "Textile Installation, aufgestellt Mai 1985". Mami, die bei Schulaufführungen so lachte, dass man auf der Bühne immer genau wusste, wo sie saß, die mit DDR-Zöllnern diskutierte, bis sie unser Auto komplett zerlegten und wir Angst hatten im Gefängnis zu landen, und die den Frauen aus dem griechischen Inseldorf, in dem wir die Sommer verbrachten, den Feminismus erklärte.
Wie gesagt, all das war mir peinlich, bis ich irgendwann alt genug war, stolz darauf zu sein. Ich habe zu lange dafür gebraucht. Aber das war noch mein kleinerer Fehler. Der größere – und ich war schon lange erwachsen, bis ich das verstanden habe – war meine Annahme, meine Mutter wäre furchtlos. Und als Folge davon: Frauen wären furchtlos. Dabei war sie es nie, so wie es niemand ist, sie war nur sehr, sehr mutig.
Ich weiß nicht, wie es funktionieren kann, dass starke Frauen Söhne erziehen, die Stärke so verstehen, wie sie ist: nicht naturgegeben, sondern als Ergebnis von Arbeit, Mut und dem Kampf um die eigene Freiheit. Ich habe keine Ahnung, ich habe nicht einmal einen Vorschlag. Aber was ich tun kann, ist das: Einmal, bevor es zu spät ist, will ich sagen, dass ich es sehe; dass Starksein schwer genug ist, wenn man es beigebracht bekommt, aber noch viel schwerer, wenn man eigentlich süß zu sein hätte. Und dass du nie warst, wie du bist, weil du nicht anders konntest, sondern im Gegenteil darum gekämpft hast, weil du es wolltest. Ich bin unendlich stolz auf dich.
Und manchmal denke ich: Wenn ich lernen kann, das zu sehen, kann es jeder.