Müssen Frauen beim Sex exakt wissen, was sie wollen? Zwei Feministinnen, zwei Meinungen.
Ann-Kristin Tlusty, 28, und Mirna Funk, 41, prägen die aktuelle feministische Debatte in Deutschland mit. In ihren viel beachteten Büchern "Süß" (Hanser, 18 €) und "Who cares" (dtv, 10 €) beziehen sie sich aufeinander. Ann-Kristin Tlusty wirft Mirna Funk vor, einen "Potenzfeminismus" zu propagieren, der so tue, als hätten Frauen die Gleichberechtigung selbst in der Hand, wenn sie sich nur genügend empowern würden. Sie fordert dagegen: "Wir müssen Strukturen ändern und nicht Frauen vorwerfen: Du übernimmst ja keine Verantwortung für dich" – und plädiert für eine radikale Aufwertung von Care-Arbeit. Mirna Funk kontert: "Frauen, die gar nicht oder in Teilzeit arbeiten, sind privilegiert und machen sich freiwillig abhängig." Und vor allem westdeutsch sozialisierte Frauen würden diese Abhängigkeit mit Care-Arbeit begründen. Doch weniger oder gar nicht zu arbeiten, müsste man sich erst mal leisten können. Für sie ist die Debatte rund um die Care-Arbeit Ausdruck eines "Privilegfeminismus". Das Streitgespräch könnt ihr in der aktuellen EMOTION (10/2022) lesen. Am Ende kamen wir auf das Thema Selbstverantwortung und Sexualität, den Schlagabtausch lest ihr hier:

EMOTION: Mirna, in deinem Buch forderst du, dass Frauen auch beim Sex die volle Verantwortung für sich übernehmen. Wer sich entscheide, betrunken Sex zu haben, müsse mit den Konsequenzen leben. Was ist mit Situationen, in denen Frauen Sex lieber bis zum Ende über sich ergehen lassen, weil sie fürchten, es könnte gefährlich werden, wenn sie aufhören wollen?
Mirna: Das grenze ich ganz klar ab. Es geht mir um freiwilligen Sex. Wenn Männer dabei jetzt die Verantwortung übernehmen sollen, zu entscheiden, ob eine Frau zu betrunken ist, um mit ihnen Sex zu haben, finde ich das paternalistisch und antifeministisch.
EMOTION: Die Machtverhältnisse sind doch oft ungleich. Selbst wenn etwas einvernehmlich anfängt, sich dann aber nicht mehr gut anfühlt, ist es für Frauen oft schwer zu sagen: Schluss jetzt! Weil sie Angst haben, es könnte ins Gewaltsame kippen. Hat die Frau dann eben Pech gehabt?
Mirna: Natürlich nicht! Wenn so etwas passiert, ist das total schrecklich. Mir geht es darum, dass ich mir als autonomes Subjekt in jedem Moment Gedanken darüber machen muss, was die Konsequenzen meines Handelns sind. Aber natürlich muss ich von einem Mann erwarten dürfen, dass er nicht aggressiv reagiert, wenn ich etwas nicht möchte.
Ann-Kristin: Dem muss ich widersprechen. Der Standpunkt, den du vertrittst, Mirna, entspricht der Parole "Ja heißt Ja", die das "Nein heißt Nein" der 70er-Jahre ersetzt hat. Sobald Menschen einer sexuellen Begegnung zugestimmt haben, ist demnach alles in Ordnung. Aber selbst wenn ich Ja zu etwas sage, sind die Begegnungen zwischen Menschen immer von Macht durchzogen. Geschlecht, Alter, Status prägen uns bis in unsere intimsten Momente. Auch die Situation, in der eine Person mehr und die andere weniger betrunken ist, lässt sich als Machtgefälle begreifen – und es ist fraglich, ob Konsens wirklich möglich ist, wenn eine Person zu viel im Tee hat. Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig, sogar, wenn es sich nicht um ein fremdes Gegenüber handelt, sondern um einen Mann, den eine Frau gut kennt. Es gibt so viel Partnerschaftsgewalt. Jeden dritten Tag wird eine Frau in Deutschland von ihrem Mann oder Ex-Partner umgebracht.
Mirna: Dass das, was Frauen ununterbrochen passiert, ein Albtraum ist, ist keine Frage. Aber die Idee, dass es Gut und Böse gibt, mächtig und ohnmächtig, dieses dichotome Denken, ist ein intellektueller Fehlschluss. Weder haben Männer nur Macht und Frauen sind ohnmächtig noch andersrum. Wir müssen diese Erwartungshaltung haben, damit Männer langfristig ihr Verhalten ändern. Wenn sich jemand mir gegenüber gewalttätig verhält, dann muss ich rechtliche Schritte gegen ihn einleiten. Aber deshalb kann es jetzt nicht die Erwartungshaltung an einen Mann sein, dass er keinen Sex mit mir zu haben hat, weil er mich zu besoffen findet. Das ist paternalistisch.
Ann-Kristin: Dass es weniger sexualisierte Gewalt geben wird, einfach nur, weil wir unsere Erwartungshaltung Männern gegenüber ändern, halte ich für einen Trugschluss, und das hat nichts mit Gut und Böse zu tun. Gleichzeitig, klar: Ich verstehe das Existenzialistische deiner Argumentation. Aber man könnte das, was du als paternalistisch beschreibst, auch verantwortungsvoll nennen.
Mirna: Das sage ich überhaupt nicht. Ich sage, wir müssen mit den eindimensionalen Zuschreibungen aufhören. Wenn ich diesen Sex will, und dann der Anspruch ist, dass er Nein sagen muss, dann ist das antifeministisch, nicht verantwortungsvoll.
Ann-Kristin: Es geht ja nicht ums Müssen. Das ist immer eine Abwägung, und die meisten haben sich sicherlich schon einmal in einer solchen Situation wiedergefunden. Sich gegen Sex mit einer Person zu entscheiden, an deren Zurechnungsfähigkeit man zweifelt, finde ich – unabhängig vom Geschlecht – schlicht rücksichtsvoll. Es gibt ja auch noch einen Morgen danach.
Mirna: Ja, klar, kann ich sagen, du bist mir zu betrunken. Das ist doch eine individuelle Entscheidung. Wüsste zwar nicht, wann das mal vorgekommen ist, aber yo, alle Männer nach vorne. Doch die Forderung, nicht mehr die freie Entscheidung des einen, sondern die persönliche Wertung des anderen habe Deutungshoheit, das ist doch fatal. Im Übrigen darf so ein Morgen danach auch komisch, verwirrend und unangenehm sein. Das ist Leben. Für beide Geschlechter. Ob man Sex hatte oder nicht. Die Verantwortung für mich und mein Wollen kann nur ich selbst übernehmen. Außerdem müssten wir sonst dasselbe von Frauen und in homosexuellen Kontexten erwarten.
EMOTION: Was spräche dagegen?
Mirna: Wenn ich mich entschieden habe, zehn Tequila zu trinken, und sage, ich möchte Sex, ich weiß schon, was ich mache – und der andere spricht mir ab, dass ich weiß, was ich will, dann ist das Gaslighting. Ich halte nichts davon, wenn wir jetzt alle – egal, ob Mann oder Frau – anfangen, die Verantwortung für die Gefühle und Bedürfnisse des anderen zu übernehmen. Das können wir gar nicht, weil wir diese überhaupt nicht kennen. Wir kennen den anderen doch gar nicht. Was ist das für eine selbstgerechte Annahme, man wisse besser, was der andere braucht? Was in Beziehungen passiert, ist ein ständiges Sich-entdecken. Eine Erwartungshaltung, die ich gerechtfertigt finde, ist, dass der andere klar kommuniziert, was er sich wünscht, was er braucht, was er will und was nicht. Und dass ich zuhöre und bewusst auf diese Wünsche eingehe oder nicht.
Ann-Kristin: Genau das ist so eine Erwartung, die jetzt gerade in sexpositiven feministischen Diskursen immer wieder an Frauen herangetragen wird: Findet raus, was ihr wollt, kommuniziert das und fordert das offensiv ein! Ich habe dazu ein zwiegespaltenes Verhältnis, weil ich denke: Ja, Selbstermächtigung ist gut – denn gerade auf weiblicher Seite mangelt es in Hetero-Beziehungen oft an Kenntnis, was denn wirklich die eigenen Bedürfnisse sind. Andererseits finde ich die Vorstellung, dass Menschen für sich letztgültig geklärt haben, was sie sich sexuell wünschen, das dann miteinander durchführen und fertig, weder realistisch noch sonderlich schön.
Mirna: Männer wissen auch in den seltensten Fällen, worauf sie eigentlich stehen, oder trauen sich nicht, es zuzugeben. Wir kommen nicht weiter, wenn wir Männer und Frauen gegeneinander ausspielen. Das hat auch nichts mit gelebter Gleichberechtigung zu tun. Diese Projektion, der Mann befinde sich in seiner sexuellen Kraft, die Frau wisse gar nicht, was ihr Lust bereitet – was soll das?
Ann-Kristin: Diese Vorstellung halte ich so pauschal auch für Schwachsinn. Trotzdem: Unsere Gesellschaft nimmt männliche Sexualität weiterhin wesentlich stärker in den Blick. Auch wer als Mann sozialisiert wird, ist nicht frei von sexuellen Konflikten, aber wer als Frau aufwächst, hat noch immer wesentlich mehr Bewertungen über die eigene Sexualität im Kopf. Deswegen ist doch dieser sexpositive Diskurs entstanden, all die Clit-Accounts auf Instagram, die Frauen ermächtigen sollen, ihre sexuelle Lust auszuleben und einzufordern. Einerseits finde ich gut, dass da was passiert.
EMOTION: Und andererseits?
Ann-Kristin: … finde ich die Vorstellung schwierig, als autonome sexpositive Frau ein für alle Mal klären zu müssen, was ich will, das dann zu artikulieren und einzufordern. Ich glaube, es geht ganz viel an Suchendem und Tastendem, wie man Sex auch entdecken kann, verloren, wenn so stark Selbstkenntnis gefordert wird.
Mirna: Wenn du vorher nicht weißt, was du möchtest, wie soll dann Consent möglich werden?
EMOTION: Also, die Einvernehmlichkeit geklärt werden können.
Ann-Kristin: Ich meine nicht, dass man grundsätzlich nicht weiß, was man will, sondern dass man es im Moment der Begegnung manchmal nicht gar nicht wissen kann. Alles ganz genau vorab zu wissen, durch Fragen und Ja-Nein-Antworten zu klären, diese Vorstellung finde ich sehr technisch. Trotzdem ist sexueller Konsens als Leitbild natürlich wichtig. Man muss auch berücksichtigen, dass es für Menschen, die Gewalterfahrungen erlebt haben, wichtig sein kann, vorab klare Absprachen zu treffen.
Mirna: Man entdeckt sich ja als sexuelles Subjekt durch den Sex, den man hat, und darüber versteht man zum Beispiel: "Aha, das macht mir besonders viel Spaß – und das nicht. Das finde ich interessant, das will ich noch mal mehr machen." Und ab einem bestimmten Punkt hat man ja dann schon relativ viel sexuelle Erfahrungen gemacht und weiß auch deutlich, auf was man steht und auf was nicht.
Ann-Kristin: Aber es wäre doch viel schöner, sexuelle Begegnungen anzustreben, in denen man gemeinsam rausfindet, was man will. Sex ist doch etwas, das zwischen Menschen stattfindet. Und jeder Sex ist anders, je nachdem, mit wem man ihn gerade hat.
Mirna: Wieso sollten sich denn das individuelle Herausfinden der eigenen Bedürfnisse und das gemeinsame Herausfinden ausschließen? Wir haben in den seltensten Fällen nur noch einen Sexualpartner fürs ganze Leben, sondern abwechselnde und mit denen finden wir unterschiedliche Dinge über uns selbst und über einander heraus. Das fordert mehr Selbstverantwortung, weil wir uns nie auf derselben Entwicklungsstufe treffen können. Auch die Energie einer Person macht was mit mir. Wenn man sich mal in ein Gruppen-Setting begeben hat und plötzlich merkt, dass man ja dieselbe Person ist, aber um 12:05 Uhr handelt man so und um 12:07 Uhr mit einem anderen total anders, dann stellt man fest, dass Sex immer, immer eine Begegnung von zwei unterschiedlichen Personen ist. Und ich glaube, es geht in den Begegnungen klar darum, über das Spektrum der Wünsche zu sprechen. Denn wenn wir das nicht tun, dann haben wir eben auch total lange voll schlechten Sex. Und zwar beide Geschlechter.
Ann-Kristin: Da stimme ich dir zu. Über Wünsche zu sprechen ist natürlich wichtig. Aber gerade um guten, befreiten Sex zu ermöglichen, finde ich es auch autonom, sagen zu können, ich weiß nicht immer hundertprozentig, was ich will. Es gibt nicht nur ein Ja und es gibt nicht nur ein Nein. Es gibt ganz oft auch einen Raum dazwischen und ein vages Vielleicht. Und ich finde, das ist ein viel schönerer Zugang zu Sex. Das würde auch den Performance-Druck nehmen, den ja besonders Frauen, die noch weitaus jünger sind als wir, verspüren. Diese Möglichkeitsräume sind etwas, was ich in diesen Debatten vermisse.
EMOTION: Vielen Dank für das Gespräch.
Ihr wollt mehr wissen? Hier verlosen wir die Bücher von Mirna Funk und Ann-Kristin Tlusty jeweils zehn Mal. Und hier geht's zu Teil 1 des Gesprächs!
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