Eltern sind die erste große Liebe. Doch das Verhältnis zu ihnen ist oft kompliziert, ja schmerzhaft. Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru verarbeitet in ihren Büchern schonongslos ehrlich die eigene Bindung zu Vater und Mutter. Doch wie gehen ihre Eltern mit den Büchern der Tochter um? Lesen sie diese? Spoiler: ja! Für uns hat sie über ihre Familiengeschichte geschrieben.
Zwischen mir und meinen Eltern liegen in unserem täglichen Leben 4000 Kilometer. Ich in Tel Aviv, sie sind in Stralsund und auf Rügen an der Ostsee. Würde man die Strecke zwischen uns fahren wollen, müsste man auf dem Weg sieben Länder durchqueren – sieben Länder liegen zwischen uns, doch das alles verpufft, wenn ich an meine Eltern denke. Daran, wie sehr ich mir wünsche, von ihnen geliebt zu werden, und wie sehr ich hoffe, dass sie stolz auf mich sind.
Ich bin als Einzelkind aufgewachsen und wir drei waren uns immer sehr nah. Es gab sonst niemanden, die Großeltern waren weit weg und Freunde hatten meine Eltern kaum, als ich ein Kind war. Es waren nur wir drei, wenn wir abends zu Hause gemeinsam Abendbrot aßen. Mein Papa links außen am Tisch, meine Mama in der Mitte, dann ich. Es wurde immer viel geredet, viel diskutiert bei uns. Vor allem zwischen meinem Vater und mir gab es seit meinen jungen Teenagerjahren regelrechte Schlagabtausche.
Mein Vater liebt es, zu provozieren
Wir hatten schon früh grundsätzlich verschiedene Meinungen. Meist über Politik, aber auch über die deutsche Geschichte und die Konsequenzen, die wir daraus zogen. Mein Vater war mein bester Sparringspartner und mein größter Feind zugleich. Er unterstützte, was er toll fand (zum Beispiel, dass ich ursprünglich mal Schauspielerin werden wollte) und entzog seine Unterstützung auf radikale Weise, wenn er anderer Meinung war. Ich weiß nicht, wie oft sich meine Mutter in ihren Stuhl duckte, wenn sich mein Vater und ich mal wieder in der Öffentlichkeit (gern im Urlaub in Restaurants) so dermaßen in die Haare bekamen, dass er irgendwann nur noch schrie und ich irgendwann nur noch heulte. Mein Vater ist schlau, er hat als ehemaliger DDR-Bürger aus dem Nichts eine ziemlich imposante Existenz erschaffen, damals nach der Wende, und schon zu DDR-Zeiten war er Betriebsdirektor, Dozent an der Uni, ein Erfolgstyp. Mein Vater kann aber auch entsetzlich dumme Meinungen haben, egal ob es um Rassismus, Feminismus oder andere "-ismen" geht.
Er liebt es zu provozieren und seine Meinung lautstark kundzutun. Er ist Menschenfreund und -hasser zugleich. Ein Oxymoron. Er ist sensibel und brutal. Er liebt die Kunst, aber hasst die Künstler. Er verdammt den Kapitalismus, aber den Sozialismus verachtet er auch. Er ist links und rechts und ja, ich weiß, das ergibt keinen Sinn – willkommen in meinem Leben.
Er kann mir den besten Trost spenden und am härtesten nachtreten, wenn ich schon am Boden liege. Ich habe oft das Gefühl, er versteht mich viel besser als meine Mutter, weil wir uns ähnlicher sind, und dann wieder denke ich, er versteht gar nichts. Als ich mit Mitte Zwanzig beschloss, zum Judentum zu konvertieren und nach Israel zu ziehen, war das für meine Eltern hart. Ihr Einzelkind 4000 Kilometer entfernt. Aber meine Mutter sagte mir trotzdem ihre Unterstützung zu. Das ist bis heute ihr Mantra: "Mein Kind, ich verstehe dich oft nicht. Ich stimme oft nicht mit dir überein. Aber ich werde immer zu dir stehen und dich unterstützen."
Ich gehe meinen Weg, im Zweifel auch alleine
Mein Vater hingegen bekämpfte mich auf allen Ebenen. Bis ich ihm nach einer weiteren Eskalation sagte: "Hör zu, ich weiß, das ist nicht der Weg, den du dir für mich vorgestellt hast. Aber es ist mein Weg. Und du kannst ihn mit mir gehen oder ich gehe ihn alleine." Danach sprachen wir drei Monate lang nicht miteinander. Wir haben häufig wochenlang nicht gesprochen, zumindest nachdem ich mit 19 zu Hause ausgezogen war. Als ich noch zu Hause wohnte, wollte ich oft nicht mit ihm sprechen. Vor allem an den Abenden, als zu viel Schnaps zwischen uns stand und er komplett unberechenbar wurde.
Aber die Sache ist: Ich liebe meinen Vater trotzdem über alles, ich bewundere ihn, ich bin froh, ihn zu haben und seine Anerkennung bedeutet mir die Welt. In meinem ersten literarischen Roman "Alef" ist mein Vater in zwei Figuren eingeflossen – er hörte in der Mitte auf, das Buch zu lesen. Irgendwann las er es dann doch zu Ende, und vor ein paar Monaten sagte er am Telefon: "Ich habe 'Alef' jetzt schon dreimal gelesen und finde immer wieder etwas Neues, das ich an dem Buch liebe. Oft muss ich auch weinen", und ich muss nicht dazusagen, dass das eines der schönsten Dinge war, die er mir je gesagt hat. 4000 Kilometer liegen zwischen uns und ein Lob von ihm ist immer noch der Ritterschlag. Ich verarbeite in meinen Texten oft mein Leben und meine Eltern gehören dazu. Sie sind, 4000 Kilometer hin oder her, Quelle und Antrieb. Sie waren meine erste große Liebe und werden es immer bleiben. Ich weiß nicht, wo ich ohne sie wäre. Ich liebe sie und hadere mit ihnen. Und in meinen Büchern kann ich all die Dinge sagen, die ich im wahren Leben aus Angst davor, sie zu verärgern oder zu verletzen, nicht sagen kann.
Sind Familien einander zu nah?
Mein neuer Roman "Frei" handelt von einer jungen Mutter, die für zwei Wochen mit ihren Kindern zu ihren Eltern fährt. Dort heißt es: "Sie brachten einander alle aus dem Gleichgewicht. Hier in diesem Gestrüpp aus Familie. Familien waren "einander zu nah, es gab zu viel Ehrlichkeit und gleichzeitig zu viel Verschwiegenes, als dass sie sich bedingungslos hätten begegnen können. Es gab zu viel Liebe und auch zu viel Hass." Mein Vater hat das Buch nach zehn Seiten abgebrochen. Vielleicht wird er es eines Tages zu Ende lesen. Hoffentlich.
Über die Autorin:
Katharina Höftmann Ciobotaru wurde 1984 in Rostock geboren. Sie studierte Psychologie und deutsch-jüdische Geschichte in Berlin, ist freie Journalistin und hat bereits mehrere Kriminalromane und Sachbücher veröffentlicht, darunter Guten Morgen, Tel Aviv!. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Tel Aviv. Nach Alef erscheint 2023 mit Frei ihr zweiter literarischer Roman bei Ecco.
Dieser Artikel erschien zuerst in der EMOTION 12/22.
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