Die Wahrheit hat es momentan ganz schön schwer. Was machen Fake-News mit uns? Und wie behalten wir die Kraft, selbst aufrichtig zu sein?
Faken ist das neue Schwarz. Passt immer. Geht immer. Jedenfalls im Internet. Dort lässt sich heute einfacher und ungestrafter denn je schummeln und übertreiben. Die anderen tun es – und wir selbst eigentlich auch. Ehrlichkeit ist in der digitalen Welt keine soziale Norm mehr, die mit biblischem Ernst befolgt wird. Auf Facebook machen wir uns mit Zitaten aus Büchern wichtig, die wir nie gelesen haben. Tinder-Profilbilder werden mit Apps so getunt, dass es beim ersten Treffen drollige Überraschungen gibt. Die Bearbeitungsfilter aus Instagram machen aus normalen Körpern attraktive, lassen Yoga-Übungen eleganter und Clean-Eating-Bowls frischer erscheinen. Alles ist möglich. Es gibt Bilder, bei denen nichts mehr echt ist. Und selbst offenherzige "No Make-up"-Postings sind in der Regel "gestaltete Wirklichkeit".
Faken ist das neue Schwarz. Passt immer. Geht immer. Jedenfalls im Internet.
Almut SiegertTweet
Ist das schlimm? Anscheinend nicht. Entweder wird es gar nicht mehr wahrgenommen. Oder es gefällt, oder stört zumindest niemanden. Den meisten der mehr als 2,5 Millionen Follower von Insta-Stars wie Pamela Reif stößt es auch nicht unangenehm auf, dass vieles von dem, was als persönlicher Style präsentiert wird, bezahlte Produktwerbung ist. "Na und? Das weiß doch jeder", sagt meine sechzehnjährige Tochter.
Fake-News
Erkennt sie auch die Fake-News, die im täglichen Mitteilungsstrom des Netzes mitfließen? Eine wie diese: Die Grünen-Politikerin Renate Künast soll über den Freiburger Mädchenmörder, einen minderjährigen Flüchtling aus Afghanistan, gesagt haben: "Der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen". Angeblich ein Zitat aus der "Süddeutschen Zeitung". Viele werden es zunächst geglaubt haben, bei manchen wird auch irgendwas hängen geblieben sein: Da war doch was!
Und willkommen in der Realität: Trump und seine Leute haben, digital und analog, in den vergangenen 14 Monaten so konsequent gelogen, dass diese Art der Kommunikation inzwischen auf eine seltsame, kranke Art normal geworden ist. Es stört das Trump-Team auch kein bisschen, dass ihre Brezel-Logik für jeden durchschaubar ist. Unwahrheiten sind seit Januar 2017 "alternative Fakten", wie es Trumps Beraterin Kellyanne Conway kreativ formulierte.
Brauchen wir noch eine Wahrheit?
Man könnte zu dem Schluss kommen: Wahrheit? Wozu noch? Wir leben schließlich in "postfaktischen" Zeiten. Aber jeder, der nur einen Moment innehält, weiß, dass es nicht so ist. Wenn wir dem Ehrlichen im Alltag begegnen, nehmen wir es sehr wohl als etwas wahr, das wir uns wünschen, woran wir glauben, worauf wir weiter hoffen möchten: Es beglückt uns, wenn der Mann aus der Mobilfunk-Hotline tatsächlich zum versprochenen Zeitpunkt zurückruft und später einen Vertrag schickt, der genauso lautet, wie es im Gespräch vereinbart worden war. Es versetzt uns in beschwingte Laune, dass die Frau vor uns in der Schlange den Schein, den die Kassiererin herausgegeben hat, ohne Zögern zurückgibt. Wir hoffen auf aufrichtige Politiker. Wir vertrauen NGOs, die sie überprüfen. Wir führen Partnerschaften, pflegen Freundschaften und gründen mit Kollegen eine GbR, weil wir daran glauben, dass unser Gegenüber uns nicht betrügt und hintergeht. Ehrlichkeit scheint als Wert tief in uns verankert zu sein. Wahrscheinlich weil uns klar ist, dass ein Zusammenleben, ob in einem Land, einem Büro oder in einer Beziehung, ohne dieses Vertrauen nicht möglich ist.
Bei einer repräsentativen Erhebung gaben 83,1 Prozent der Befragten an, dass sie die Wahrheit sagen, weil sie selbst nicht belogen werden wollen. Und 68,8 Prozent tun es auch, weil sie sonst ein schlechtes Gewissen hätten. Dass wir "unerklärlich ehrlich" sind, davon ist auch der amerikanische Psychologe Dan Ariely überzeugt. Allerdings – jetzt kommt die harte Nuss – hängt es von den Umständen ab. Denn: Wir sehnen uns zwar nach Wahrheit. Aber wir lügen auch. Manchmal auch häufiger. Im Gegensatz zu Trump ist es uns nur nicht egal, ob es rauskommt oder nicht. Die selbe Umfrage, in der sich so viele Menschen klar für die Ehrlichkeit aussprachen, ergab jedenfalls, dass 58 Prozent der Menschen täglich lügen. Oder wie Dan Ariely sagt: "Wir sind weit davon entfernt, vollkommen zu sein."
Gründe, warum wir lügen
60,4 %: "Weil die Wahrheit auch verletzend sein kan.n"
52,6 %: "Ich will andere schützen."
49,5 %: "Ich will mir Ärger ersparen."
27,3 %: "Um meine Ziele zu erreichen."
25,2 %: "Weil ich auch nicht immer die Wahrheit hören möchte."
21,3 %: "Alle lügen. Würde ich es nicht tun, wäre ich im Nachteil."
19,3 %: "Weil ich eine andere Unwahrheit aufrechterhalten muss."
17,6 %: "Ich habe Angst, sonst nicht gemocht zu werden,"
Wir schwindeln, weil wir uns eine teure Tasche gekauft haben, es aber nicht sagen mögen. Wir tun geschäftigt, weil wir keine Lust auf eine Verabredung haben. Männer lügen im Beruf eher, um sich selbst besser darzustellen; Frauen, um Kollegen zu schützen. Am häufigsten lügen wir aus Höflichkeit, weil wir niemanden verletzten wollen. "White Lies" nennt das die Wissenschaft, aber Lügen bleiben es trotzdem.
Aber, da ist Ariely sich sicher, wenn die richtigen Kräfte auf uns wirken, sind wir sehr bereit, ehrlich zu sein. Der Verhaltensökonom hat in vielen Experimenten herausgefunden, dass es beim Thema Ehrlichkeit immer darum geht, die heikle Balance zwischen zwei sich widersprechenden Wünschen zu bewahren. Einerseits wollen wir die Vorteile, die uns das Schwindeln bringt, nicht missen (weniger Stress, weniger Konflikte, weniger Arbeit, mehr Geld, mehr Bewunderung und die Chance, Gutes zu tun, weil wir andere schonen). Andererseits möchten wir uns weiter für einen ehrlichen und untadeligen Menschen halten können. Kurz: Wir wollen auf zwei Hochzeiten tanzen. "Ich glaube, dass wir alle fortwährend testen, bis zu welchem Punkt wir von Unehrlichkeit profitieren können, ohne unser Selbstbild zu beschädigen", sagt Ariely und zitiert Oscar Wilde: "In der Moral wie in der Kunst geht es darum, irgendwo einen Strich zu ziehen." Das ist genau die Frage: Wo ziehen wir diesen Strich? Wie unehrlich dürfen wir sein, ohne ein schlechter Mensch zu werden?
Unser moralischer Kompass
Man muss wohl davon ausgehen, dass Fake-News, Bildbearbeitungs-Apps und ein lügender Präsident durchaus beeinflussen, was wir noch okay finden und wo unser moralischer Kompass klar in eine andere Richtung zeigt. "Wir beobachten andere und gleichen ständig ab, wo die akzeptierten Grenzen liegen", sagt Ariely. Eine einfache Lösung dieses Dilemmas gibt es nicht. Es bleibt nicht mehr, als sich bewusst zu sein, dass ständig eine solche Kosten-Nutzen-Analyse in uns abläuft. Und dann jeden Tag aufs Neue zu versuchen, das Richtige zu tun – und dabei manchmal über sich selbst hinauszuwachsen.
In der Moral wie in der Kunst geht es darum, irgendwo einen Strich zu ziehen.
Oscar WildeTweet
Das ist möglich. Denn unsere Welt besteht ja nicht nur aus Fake-News, Photoshop und Pinocchio-Präsidenten. Viele Menschen halten dem etwas entgegen – und sind damit ein Vorbild. Sie ziehen den Strich: bis hierhin und nicht weiter. Auf einmal wollten so viele Amerikaner George Orwells "1984" lesen, dass der 1948 verfasste Roman über ein totalitäres Regime, das Geschichte umschreibt und Fakten verändert, in den USA im Januar ausverkauft war. Die französische Tageszeitung "Le Monde" wiederum hat die Dokumentationsabteilung "Les Décodeurs" (auf Deutsch: die Dekodierer) ins Leben gerufen, die eine Liste von 600 Websites zusammengestellt hat, deren Inhalte als nicht durchweg glaubhaft gelten. Auch die berüchtigte Nachrichtenseite Breitbart.com steht auf dieser Liste (deren Ex-Chef von Trump einen Platz im Nationalen Sicherheitsrat bekam). Ob diese Art der Kontrolle funktionieren wird? Unklar. Aber es ist ein Zeichen: Wir lassen uns nicht den Schneid abkaufen.
In seinen Studien hat Ariely zudem herausgefunden, was uns hilft, bei der Wahrheit zu bleiben: Egal ob man gläubig ist oder nicht – in einer kritischen Entscheidungssituation bringt es viel, an irgendwas mit Religion zu denken: die Zehn Gebote, Buddha-Worte, egal was. Das führt uns erstaunlich oft auf den Pfad der Tugend zurück. Es fällt uns auch leichter, moralisch anspruchsvolle Probleme zu lösen, wenn wir ausgeruht sind. Heißt: Wer gestresst ist, neigt mehr zur Lüge. Ehrlich zu sein, war eben schon immer anstrengend. Und möglicherweise wird es uns künftig sogar noch mehr Kraft abfordern. Aber die Frage "Wo ziehen wir den Strick?" hilft uns dabei.