Die Grünen-Politikerin Renate Künast wurde im Netz als "Drecksfotze" und "Stück Scheiße" beschimpft. Beleidigungen, die sie laut Landgericht Berlin hinnehmen muss. Wir haben die Juristin Nina Straßner gefragt, wie es zu dem Beschluss kommen konnte und was es für Frauen bedeutet.
Es ist ein Gerichtsbeschluss, der viele Menschen empört: Die Politikerin Renate Künast wollte sich gerichtlich dagegen wehren, dass sie in sozialen Netzwerken von Usern schwer beschimpft worden war. Auslöser für die Hasstiraden waren Künasts Äußerungen zum Umgang mit Pädophilen von 1986. Rechtfertigen die damaligen Äußerungen die schweren Beleidigungen, die sie jetzt ertragen musste? Und welche Folgen hat der Beschluss für die Netzkultur, insbesondere für Frauen? Wir haben darüber mit der Anwältin und Bloggerin Nina Straßner gesprochen.
EMOTION.DE: Nina, was ging dir als erstes durch den Kopf, als du von dem Beschluss gehört hast?
Nina Straßner: Ich hielt es für einen Postillion-Artikel. Dann dachte ich, da hat mal wieder Klickbaiting-mäßig eine Zeitung etwas verdreht. Und dann hab ich's gelesen. Und mich geschämt. Als Juristin. Meinem Mann ging es genauso, der schrieb mir: "Ich geb' die Zulassung zurück. Ich bin auch Jurist, was denken die Leute, was wir machen?". Seltsam egozentrische Erstreaktion, aber wenn Journalist*innen an Relotius denken, versteht man vielleicht was ich meine. Es gehört eigentlich ja dazu, dass man in unserem Beruf mit Urteilen oder Beschlüssen nicht einverstanden ist. Das kennen wir, es ist Alltag. Aber dieses ist schon, gerade in den Zeiten in denen sich der öffentliche Diskurs so viel um Hate Speech dreht, ganz weit weg von dem, was man sonst so erlebt. Ich hab dann noch im Zug angefangen, einen Artikel zu tippen.
"Der Kommentar 'Drecksfotze‘ bewegt sich haarscharf an der Grenze des von der Antragsstellerin noch Hinnehmbaren" – so steht es unter anderem in dem Beschluss. Wie genau begründet das Landgericht diese Entscheidung?
Damit, dass Frau Künast provoziert habe. Es ist nicht zu fassen. Aber von vorne: Es ist so, dass wir nicht einfach alles als Beleidigung bestrafen können. Emotionen gehören dazu. Das Recht war da bisher auch ganz schlau unterwegs und hat über die letzten Jahrzehnte ganz viele Kriterien geschaffen, die das gut voneinander abgrenzen. Jurastudenten können da ein Lied von singen, das ist ganz diffizil und in der mündlichen Prüfung ein Grauen. Aber deswegen so beliebt, weil man daran juristisches Handwerkszeug super abprüfen kann.
Steht zum Beispiel eine Meinungsäußerung noch im Vordergrund in einer hitzigen Debatte, dann soll niemand fürchten, vor das Strafgericht gezerrt zu werben, etwa weil er oder sie im Eifer des Gefechts um einen Unfall "Sind Sie blind oder taub oder haben Sie Ihren Führerschein gewonnen, Sie verdammter Bruchpilot?" gesagt hat. Das LG Berlin hat das nun aber alles so weit aufgedreht, dass man eigentlich alles raushauen darf, so lange man gedanklich an etwas anknüpft, von dem man sich eben irgendwie provoziert gefühlt hat. Hier war es eine Aussage von Renate Künast 1986 während einer Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus. Offenbar findet das Landgericht Berlin, dass man dann 33 Jahre später im Internet, etwas das damals noch gar nicht erfunden war, ganz tief in die frauenverachtende Kiste greifen darf und sie "Drecksfotze", "Stück Scheiße" und "Schlampe" nennen darf, denn dies sei "zwar geschmacklos" aber von ihr hinzunehmen, denn sie habe "provoziert". Wer da nicht an den berühmten kurzen Rock und die provozierten sexuellen Übergriffe denkt, denkt zu langsam.
Wie erklärst du dir die Entscheidung der Richter?
Ganz ehrlich: Es ist nicht zu erklären. Es waren übrigens zwei Richterinnen und ein Richter, die den Beschluss erlassen haben. Ich erkläre mir das teilweise mit Sexismus. Der ist ja nicht nur Männern vorbehalten. Und mit persönlicher politischer Einstellung. Richter*innen sind ja - auch wenn sie das nicht gerne hören - nie neutral.
Gerade Frauen, die mutig ihre Meinung im Netz sagen, werden oft verbal unglaublich angegangen und bedroht. Trotzdem raten viele Anwälte den Opfern davon ab, eine Anzeige zu erstatten. Haben sie denn juristisch gar keine Möglichkeit, sich zu wehren?
Hier muss man den strafrechtlichen Weg von dem abgrenzen, was Renate Künast wollte. Sie wollte von Facebook erst mal nur die Stammdaten haben, damit sie überhaupt erfolgversprechend Anzeige erstatten kann oder zivilrechtlich gegen diese Leute vorgehen kann. Die Polizei bzw. die Staatsanwaltschaft kann auch Stammdaten erfragen, aber meist läuft das ins Leere und wird eingestellt, weil man die anonymen Hater nicht ermitteln kann. Hier haben wir ein riesiges rechtliches Problem. Jeder popelige App-Anbieter kann unsere Daten samt Bewegungsprofil kommerziell auswerten und an wen auch immer verkaufen. Aber der Staat kommt bei Straftaten nicht ran? Da stimmt was ganz erheblich nicht.
Erst 2017 wurde ja mit dem "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" versucht, mehr gegen den Hass im Netz zu tun. Wirkt das neue Gesetz nicht?
Wie man an dem Beschluss aus Berlin sieht: Nein. Wenn "Drecksfotze" nicht beleidigend genug ist, was soll dann noch Hass sein? So viel Luft ist da nicht mehr.
Wie reagieren andere Juristen aus deinem Bekanntenkreis?
Hier sind sich ausnahmslos alle einig. Und das habe ich eigentlich noch nie erlebt: Alle sind entsetzt und emotional aufgebracht. Normalerweise ist das deutlich weniger der Fall.
Was bedeutet der Beschluss für Frauen und uns als Gesellschaft insgesamt?
Die Richter*innen haben gesagt, die Äußerungen waren von der Meinungsfreiheit geschützt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Meinungsfreiheit aller anderen massiv eingeschränkt wird, wenn sie befürchten müssen, straflos so angegangen, bedroht und beleidigt zu werden. Das Netz hat zu ganz viel Gutem geführt, unter anderen dazu, dass Menschen und Anliegen eine Stimme bekommen, die sonst nie gehört wurden und die man Jahrzehntelang schön ignorieren konnte. Das geht heute nicht mehr, und das bringt die Machtapparate total durcheinander. Das Netz ist mächtig. Wenn wir das Netz aber Straftätern und dem Hass überlassen, landen wir in ganz, ganz dunklen Zeiten.
Tipp: Wenn ihr noch mehr Erhellendes über Recht und Unrecht lesen (auch über den Fall Renate Künast) und dabei auch noch hervorragend unterhalten werden wollt, lest Nina Straßners Blog Juramama.de oder ihr Buch "Keine Kinder sind auch keine Lösung" (Bastei Lübbe).