Krieg in der Ukraine: Natalia Klitschko kämpft von Deutschland aus für Frieden, ihr Mann, Kyivs Bürgermeister Vitali Klitschko, vor Ort. Im Interview erzählt die Sängerin, woher die Ukrainer:innen ihre unglaubliche Kraft nehmen und welche Hilfe sie sich von uns erhofft.
Interview: Kasia Mol-Wolf
Redaktionelle Mitarbeit: Lea Birke, Laura-Marie Löwen
Kasia hat bei einem spannenden Abend im Club europäischer Unternehmerinnen die Chance, Natalia Klitschko kennenzulernen. Im Anschluss daran hat sie sich mit ihr zum Interview getroffen. Herzlichen Dank an den CeU und Kristina Tröger für das Vernetzen.
Kasia Mol-Wolf: Natalia, wir freuen uns sehr, dass du dir Zeit nimmst, mit uns zu sprechen – über die Situation in der Ukraine und auch deine persönliche. Du bist hier in Hamburg, dein Mann, dein Schwager und viele andere Menschen sind in Kyiv, mitten im Kriegsgebiet. Was geht dir in diesen Tagen, sechs Wochen nach Kriegsbeginn, durch den Kopf?
Natalia Klitschko: Ich habe gedacht, man kann sich anpassen, sich daran gewöhnen. Aber das ist kaum möglich, weil man ständig Berichte aus dem Krieg hört. Und besonders in den vergangenen Tagen war ich erschüttert von den Bildern aus Butscha, Irpin und Tschernigow. Ich war schockiert und in tiefer Trauer wegen dieser Unmenschlichkeit, die dort passiert. Das lässt niemanden ruhig. Ich hoffe, dass alle, die das verursacht haben, irgendwann vor Gericht gehen. Ich als Ukrainerin, die hier in Sicherheit ist, kann mir gar nicht vorstellen, wie es erst den Menschen, die vor Ort betroffen sind, ergeht. Es ist eine tiefe Trauer und trotzdem eine Hoffnung, dass die Menschen bei diesem barbarischen Angriff zusammenhalten und aufstehen und weitermachen. Davor habe ich einen großen Respekt und ich weiß nicht, woher sie diese Kraft schöpfen. Die einzige Erklärung für diese Kraft ist der unglaubliche Wille, frei zu sein und in einem demokratischen Land zu leben und ihr Land als Volk für sich zu haben. Das ist heldenhaft.
Stehst du, neben deinem Mann, mit vielen Personen vor Ort in Kontakt?
Mein Neffe mit seiner Familie ist noch dort. Gott sei Dank sind sie jetzt in Sicherheit im Westen der Ukraine. Aber ich habe auch Freunde, die direkt in Kyiv sind. Zum Glück ist dort gerade Ruhe, die russische Armee wurde zurückgedrängt. Das ist eine gute Nachricht, aber ob man sich nun entspannen kann… daran steht für mich ein großes Fragezeichen. Man weiß nie, was die russische Regierung noch plant. Remobilisieren sie sich oder ist es doch schon der Anfang des Kriegsendes? Das weiß man nicht. Aber ich weiß, dass schon einige Familien aus Deutschland in die Ukraine zurückgekehrt sind. Da habe ich zwei persönliche Kontakte, sie sind zum Glück heil angekommen. Mal schauen, wie das weitergeht… Das Einzige, das wir sicher bekommen, ist ein komplett zerstörtes Land. Und es wird Jahre dauern, bis es wieder aufgebaut sein wird. Und wie werden wir es schaffen, wie lange wird es dauern, dieses Trauma, das Leid, diese Tragödie zu heilen? Ich glaube nicht, dass diese Wunde jemals heilen wird. Und dass wir jemals vergeben können.
Für die Menschen, die nicht vor Ort sind, ist es so schwer einzuschätzen, wie es den Menschen in Russland geht. Auf der einen Seite gehen Menschen auf die Straße und riskieren ihr Leben, auf der anderen Seite frage ich mich, wie es sein kann, dass viele wirklich keine Informationen haben. Wie schätzt du das ein?
In der ersten Woche konnte ich noch glauben, dass sie überhaupt keine Informationen haben. Natürlich ist uns allen klar, dass es ein totalitäres Regime ist. Aber es gibt interne Informationen innerhalb der Familie, Familienmitglieder, die sich in der Ukraine befinden. Und da die Augen zu verschließen und die Berichte aus der Ukraine als Lüge zu bezeichnen – das ist eine Abgabe der Verantwortung. Nicht einmal zu sagen, wir glauben euch, es tut uns leid… Das macht mich ungläubig. Wenn man sieht, dass die ganze Welt aufsteht, dann kann es doch keine Lüge sein. Ich hoffe, dass noch viel mehr Menschen bald die rosarote Brille ablegen werden und sagen: Ja, unsere Regierung, die wir gewählt haben, unser Land hat (die Ukraine) angegriffen.
Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich, was Frieden bedeutet. Und ich wünsche mir, dass die Ukraine es weiterhin schafft, das unglaubliche Leid umwandeln zu können in die Stärke, das Land wieder aufzubauen.
Wie geht es den Menschen, die du in der Ukraine kennst?
Sie sind physisch sehr erschöpft, aber mental stark. Und jeden Tag gibt es mehr Zusammenhalt. Zu viele Menschen sterben, unschuldige Menschen. Es gibt einen unglaublichen Wunsch, das zu beenden. Und dann schauen sie aber auch weiter: Irgendwann wird dieser schreckliche Krieg vorbei sein, und was passiert dann? Vitali ist schon dabei, er macht ganz viele Konferenzen mit den Bürgermeistern der Welt, um eine Strategie zu entwickeln, um weiter präsent und laut zu sein. Die Weiterentwicklung hängt aber auch stark von anderen Ländern ab. Welche Beziehungen werden sie weiterhin zu Russland führen? Es wird immer wieder betont: Sie müssen alle Geschäfte mit Russland abbrechen, noch strenger sein, es muss noch mehr Sanktionen geben. Wir sehen nach sechs Wochen, dass die Welt bis jetzt keinen Weg gefunden hat, Russland zur Vernunft zu bringen. Das schafft die Ukraine nicht allein. Die kämpfen dort physisch, für uns alle. Aber jedes Land trägt eine Verantwortung dafür, wie es weitergeht. Ich sehe, dass wir es nur zusammen schaffen können, dieses Regime zu bekämpfen. Wir brauchen Unabhängigkeit von diesem großen reichen Land. Wir sind auf einem guten Weg, aber wir brauchen mehr tapfere Entscheidungen. Aber ich bin keine Politikerin… Von menschlicher Seite aus kann ich nur sagen, Deutschland ist unglaublich hilfsbereit. Ich bin in ganz vielen Gruppen, in denen Hilfe angeboten wird – von finanzieller Hilfe, über Kleiderspenden bis hin zu Wohnungsangeboten. Und dieser zwischenmenschliche Zusammenhalt und diese Solidarität sind unglaublich.
Hättest du gedacht, dass Vitali und Wladimir wirklich in der Ukraine bleiben?
Ja, das war keine Frage. Sie waren immer mit ihrem Herzen dort und so engagiert, dieses Land aufzubauen. Sie haben immer für eine tolle Entwicklung und Demokratie gekämpft. Ich finde es immer erstaunlich – wir sind nur wenige Flugstunden entfernt und trotzdem wissen viele nicht, wie es in der Ukraine aussieht. Es ist ein unglaublich schönes Land. Wir sind Europa, und wenn man dort ist, dann spürt man das. Europäische Werte und Demokratie waren uns immer wichtig. Die Ukraine hat sich in den letzten 20 Jahren unglaublich entwickelt und es ist so, so, so schade, dass der Krieg die ganze Entwicklung jetzt wieder nach hinten geworfen hat.
Was ist für dich denn der schönste Ort in der Ukraine?
Ich mag Kyiv unglaublich. Es ist eine wunderschöne Stadt, es ist so viel Geschichte da, egal wo du hingehst, so schöne Gebäude. Dieser Ort existiert schon über 1.600 Jahre, diese Erde ist so alt und man spürt dort eine unglaubliche Energie. Aber meine Wurzeln mütterlicherseits sind in den Karpaten, und die Berge geben mir auch ganz viel Kraft. Als kleines Mädchen mochte ich Berge und Dörfer nicht, ich war ein City Girl. Aber je älter ich werde, desto mehr spüre ich, woher ich komme. Auch wenn ich schon so lange außerhalb der Ukraine lebe. Aber das spürt man. Diese Verbundenheit. Besonders in so einer Situation, wenn es der Ukraine nicht gut geht. Ich spüre physischen Schmerz.
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Mir ging es so, als die Frauen gegen das Abtreibungsgesetz in Polen auf die Straße gegangen sind. Das sind die Momente, wo man spürt, dass das Herz polnisch ist…
… ja, absolut. Ich kann es nicht beschreiben und finde es auch schwierig, es Freunden zu erklären, die fragen, wie ich das spüre. Ich weiß es nicht. Ich spüre es, wenn die ukrainische Hymne gespielt wird, wenn jemand aus der Ukraine bei Olympia gewinnt, oder auch beim Eurovision Song Contest. Da kommt ein unglaublicher Stolz, dass ich Ukrainerin bin. Ich hatte die Möglichkeit, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder auch die deutsche, aber ich habe es nie gemacht. Ich trage bis jetzt den ukrainischen Pass. Ich glaube, nur jemand wie du kann das wirklich nachvollziehen. Vielleicht ist es auch etwas Slawisches. Sie haben Stolz in den Genen.
Und auch Stärke. Ich bewundere die ukrainischen Frauen, die hierher kommen und sofort arbeiten wollen, und die, die vor Ort bleiben und zur Armee gehen oder Cafés wiedereröffnen.
Ja, das ist slawisch. (Lacht.)
Du unterstützt ja selbst auch die Spendenaktion deines Mannes und deines Schwagers, #weareallukrainians und hast sehr viel Kontakt zu Menschen, die gerade ankommen. Was, denkst du, hilft neben Geldspenden momentan am meisten?
Unterkünfte sind stark gefragt. Viele Menschen befinden sich noch in Geflüchtetenlagern, wenn also jemand ein Zimmer oder eine Wohnung frei hat, ist das eine unglaublich große Hilfe. Aber auch Hilfe bei der Intergration, zeigen, wo ein Arzt ist, wo man einkaufen kann, wo es einen Kindergarten gibt. Geld braucht man immer, also solche menschlichen Verhältnisse finde ich auch sehr wichtig. Man kann sich umhören, ob es Arbeit gibt. Die Menschen in unsere Netzwerke integrieren. Die Frau, die eine Freundin von mir und ihre Familie aufgenommen hat, ist unglaublich. Sie macht mit ihnen kleine Ausflüge, zum Beispiel nach St. Peter-Ording. Andere haben Familien Tickets für das Miniaturwunderland oder Bootsfahrten geschenkt. Solche kleine Dinge zeigen dir: Ich bin hier willkommen. Diejenigen, die Menschen aufnehmen, werden auch bereichert, denn diese Dankbarkeit der ukrainischen Familien, die kann man nicht kaufen. Es sind Umarmungen und leuchtende Augen.
Die Situation ist vermutlich auch für deine Kinder nicht einfach. Wie geht es ihnen, in dem Wissen, dass ihr Vater, ihr Onkel in Lebensgefahr sind?
Das Schlimmste waren die ersten drei Wochen, die absolute Ungewissheit, wie sich der Krieg entwickeln wird. Und jetzt sind sie ständig in Kontakt, telefonieren, gucken Nachrichten. Sie sind ein bisschen ruhiger geworden, weil sie wissen, dass die russische Armee nach Osten weggedrängt wurde. Aber sie müssen weiterleben, sie gehen zur Schule, studieren. Ihr Leben muss weitergehen und da müssen sie auch abschalten, das ist ein Schutzmechanismus. Sie müssen stark sein, denn es hilft ihrem Vater und mir nicht, wenn sie zusammenbrechen, und das wissen sie. Neulich hat unser Sohn einen tollen Platz an der Uni bekommen, und solche kleinen Dinge zu zelebrieren, das gehört nach wie vor dazu. Das gibt Kraft, weiterzuleben. Für meine Kinder und mich ist es wichtig, dass die Welt ein besserer Ort wird und dass dieser Hass nicht tief gepflanzt wird. Denn mit Hass durchs Leben zu gehen, egal welche Traumata du hast, ist keine Hilfe. Mit Hass schafft man keine bessere Welt. Und ich hoffe, dass die nächste Generation das schafft.
Jedes Land trägt eine Verantwortung dafür, wie es weitergeht. Wir können dieses Regime nur zusammen bekämpfen. Wir brauchen Unabhängigkeit von diesem großen reichen Land. Wir sind auf einem guten Weg, aber wir brauchen mehr tapfere Entscheidungen.
Was wünschst du dir gerade am meisten?
Es klingt banal, aber ich wünsche mir Frieden, Frieden und Frieden. Zum ersten Mal in meinem Leben verstehe ich, was Frieden bedeutet. Wenn ich das jetzt sage, spüre ich in der Seele, was Freiheit und Frieden sind. Und das wünsche ich mir für mein Land. Ich wünsche mir, dass sie es weiterhin schaffen, dieses unglaubliche Leid umwandeln zu können in die Stärke, das Land wieder aufzubauen. Und ich glaube daran.
Woher nimmst du selbst Kraft in dieser Zeit?
Es ist eigentlich genau das, was ich gerade gesagt habe: Ich versuche, das tiefe Leid und die Trauer umzuwandeln in Kraft, die mich nach vorne treibt und die mir die Motivation gibt, nicht aufzugeben, weiter präsent zu sein, zu helfen, nach vorne zu gucken, in die Zukunft – denn dort wird noch sehr viel Arbeit sein. Manchmal bin ich auch müde. Dann regeneriere ich mich ein paar Tage und dann gehe ich weiter. Denn das wird noch ganz viel gebraucht. Wenn ich jetzt zurückblicke auf mein Leben, denke ich: Es passiert nichts umsonst. Ich wollte immer Menschen helfen und vor dem Krieg habe eine Ausbildung zur Traumatherapeutin angefangen. Als der Krieg anfing war ich kurz davor abzubrechen, doch ich dachte: Wenn der Krieg vorbei ist, wird es viele Menschen mit großen Herzenswunden geben. Und deshalb mache ich weiter mit der Ausbildung. Und ich weiß jetzt, wieso.
Daneben bist du ja auch Sängerin und vor kurzem hast du gesagt, dass wir die Ukrainer:innen vor allem über Musik und ihre Volkslieder kennenlernen. Du hast ja auch ein neues Lied. Erzähl doch mal näher davon.
Für das ukrainische Volk bedeutet Gesang sehr viel. Sie schöpfen daraus Kraft. Auch während des Krieges kommen überall Menschen zusammen und singen. Auch für mich als Sängerin war der beste Weg, die ganzen Gefühle, die zu Beginn des Krieges aufgekommen sind, in ein Lied zu verpacken. Und ich hatte Glück und habe an meiner Seite einen unglaublich tollen, talentierten Jungen, den ich einen Tag vor dem Krieg, am 23. Februar, kennengelernt habe, den neuen Freund meines Sohnes. Er ist ein toller Singer-Songwriter, Daniel León. Er hat gesagt: "Natalia, du glaubst es nicht. Ich liege coronakrank im Bett und denke, wie kann ich als Künstler der Ukraine helfen? Und da rufst du mich an und bittest mich, diesen Song zu schreiben." Und dann haben wir zusammen ganz schnell das Lieder "Better Day" geschrieben. Das ist unser Statement und mit den Erlösen möchten wir die Initiative #weareallukrainians unterstützen.
Vielen, vielen Dank für deine Zeit und diesen Einblick. Euch weiterhin ganz viel Kraft!
So können wir helfen:
Spendenkonto
Sonderkonto zum
#weareallukrainians
Kontoinhaberin: DFB-Stiftung Egidius Braun
IBAN: DE86 6705 0505 0040 1430 68
Sparkasse Rhein Neckar Nord
BIC: MANSDE66XXX
Verwendungszweck: Natalia
Mehr Themen: