Hamburg hat ein Müllproblem. Und das ist in der Coronazeit nicht gerade kleiner geworden. Das Projekt Oclean will das ändern – wir sind mit den Gewinnerinnen des EMOTION.award losgezogen und haben Müll gesammelt.
Oclean – Hamburg soll sauber werden!
Da liegt sie, ihre Schlaufen sind abgerissen, sie trägt Schuhspuren. Menschen haben sie so lange plattgetreten, bis sie eins geworden ist mit dem Boden und im Dreck beinahe nicht mehr zu erkennen ist: die Einwegmaske.
Jetzt fristet sie ihr Abfalldasein auf dem Fußweg vor dem S-Bahnhof Bahrenfeld. Es ist ein Freitagmorgen im Januar. In der Nacht hat es gefroren und die Plastiktüten, die hier in den Bäumen hängen, sind mit einer Eisschicht überzogen.
Marie Pippert klaubt die Maske vom Boden auf und steckt sie ein. Die 26-Jährige ist mit ihrer Schwester Hannah, 29, unterwegs und sammelt Müll. Sie tragen gelbe Gummihandschuhe, einen Sack über der Schulter und einen Metalleimer, auf dem ein Sticker mit der Aufschrift "Oclean" klebt. O wie clean ist Hamburg? Von wegen!
Nordisch for Nature
Oclean ist ein Spiel mit den englischen Wörtern "ocean" und "clean" – "Ozean" und "sauber". Und es ist ein Projekt, das Hamburg ein bisschen sauberer machen möchte. Für dieses Engagement haben sie beim EMOTION.award 2020 den "Hand in Hand"-Sonderpreis der HanseMerkur verliehen bekommen.
Hannah und Marie haben es gemeinsam mit der dritten Schwester, Hannahs Zwilling Lena, gegründet und organisieren regelmäßig Clean-ups in und um Hamburg. Auf ihrer Website und ihrem Instagram-Account klären sie aus ihrem Bahrenfelder Büro heraus mit Expertinnenwissen, Humor und ohne erhobenen Zeigefinger über Müll auf. Ihr Motto: "Nordisch for Nature".
Alle, die Lust haben, können an den Aufräumaktionen teilnehmen. Dabei kamen an einem Tag schon so manches Mal mehrere hundert Kilo Müll zusammen, oft abseits des Weges, an Stellen, die die Müllabfuhr nicht erreicht.
Dann kam Corona. Deshalb sind die selbsterklärten Müllfluencerinnen an diesem Tag alleine losgezogen. "Wir sehen oft Dinge, die wir nicht verstehen", erzählt Hannah, während sie versucht, dutzende Getränkedosenschlaufen aus den Fugen zwischen den Steinen zu pulen. "Zum Beispiel sammeln die Leute Hundekot vorschriftsmäßig auf – und werfen ihn dann mit der Tüte ins Gebüsch."
In den Bahrenfelder Büschen hängen Kondome und Konfettischnipsel. Wind und Fußgänger*innen haben Takeaway-Boxen und Trinkpäckchen über den Gehsteig verstreut. Überall liegen Plastikbecher, Plastikgabeln, Plastikstrohhalme... immer wieder Plastik.
Life in plastic – it’s not fantastic
Plastik in der Umwelt ist besonders deshalb so problematisch, weil es sich niemals vollständig zersetzt. Es altert, versprödet und löst sich durch mechanischen Abrieb mit Sand oder Wasser sowie durch Bakterien in seine Bestandteile auf. Es wird immer kleiner, bis es zu Mikroplastik zerfällt und sich in Boden, Grundwasser und Gewässern absetzt. Laut Loop, dem Magazin der Hamburger Stadtreinigung, gelangen allein in der EU jährlich zwischen 75.000 und 300.000 Tonnen Plastik in die Umwelt.
Besonders bedauern Hannah und Marie, dass Kunststoff oft nur kurz verwendet wird, jedoch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte in der Umwelt bleibt. Eine Plastiktüte etwa hat eine Nutzungsdauer von durchschnittlich 25 Minuten. Danach lebt sie aber noch 50 Jahre weiter.
80 Prozent des Plastikmülls in der Natur gelangen über Flüsse in die Weltmeere. 150 Millionen Tonnen befinden sich laut Greenpeace in unseren Ozeanen, 8 Millionen kommen jedes Jahr hinzu. In Hamburg sei das Problem nicht größer als in anderen Städten, durch die Nähe zum Wasser aber besonders akut. Der Wind trägt den Müll in Alster und Elbe, von wo aus er in die Nordsee gelangt. Die größten "Dreckspots" sind Oclean zufolge Reeperbahn, St. Pauli und Park Fiction.
Ein zusätzliches Problem in der Hansestadt: Die einzelnen Stadtteile trennen und entsorgen Abfall unterschiedlich. Das führt dazu, dass wichtige Wertstoffe verbrannt werden. Und es verwirrt Verbraucher*innen. Viele besitzen keine Tonnen und stellen ihre Tüten am Straßenrand ab, Vögel reißen diese auf und der Wind verteilt den Inhalt in der Natur.
Die Rückkehr der Einwegbecher
Ab Juli dieses Jahres ist EU-weit die Herstellung von Einwegplastik verboten. Doch Plastik ist nicht das einzige Problem. Die schlimmste Umweltsünde sind laut Oclean Zigaretten. Eine einzige Kippe enthalte etwa 7.000 Giftstoffe und verunreinige bis zu 40 Liter Grundwasser. Um das zu verdeutlichen hat das Team im September eine Sammelaktion nur für Zigaretten organisiert. 20.000 Kippen haben sie gefunden und in einem Zylinder an der Rindermarkthalle St. Pauli einbetoniert. Auf Infotafeln können Spaziergänger*innen dort sehen, wie schädlich ihr Verhalten für die Umwelt ist. Hannah und Lena hoffen, dass das manche zum Umdenken bewegt.
Gehofft hatten die Schwestern auch, dass die Umwelt sich ohne Großveranstaltungen ein wenig von Kippen und Kunststoff erholen könne. Doch das Gegenteil ist der Fall. Während der Ausgangsbeschränkungen haben die Menschen viel online bestellt. Laut Stadtreinigung haben die Hamburger Haushalte so viel Verpackungsmüll produziert, dass sie mehr Touren fahren muss. Während die Zahl 2019 bei 33.400 Tonnen lag, seien es 2020 etwa 35.500 Tonnen gewesen. Im medizinischen Bereich stieg der Gebrauch von Gummihandschuhen, Stäbchen, Spritzen und Tests stark an. Hinzu kommt, dass viele Menschen seit Monaten überwiegend draußen unterwegs sind. In Parks und auf den Straßen lassen sie ihre To-Go-Kaffeebecher, Pizzakartons und Aluschalen zurück – und eben ihre Masken.
Allein auf dem Fußweg vor der S-Bahnstation finden Hannah und Marie zwölf Einwegmasken. "Es ist ein Rückschritt, dass jetzt wieder so viele Einwegprodukte angeboten werden", sagt Hannah. "Unser Schutz wird ein Risiko für die Natur, das ist so absurd." Marie fügt hinzu: "Es muss möglich sein, die Natur und uns zu schützen."
Ein Kabinett der Kuriositäten
Die Oclean-Schwestern freut es, dass die Waste Watcher der Stadtreinigung Umweltsünder*innen bestrafen, doch sie fordern noch mehr Konsequenzen von der Stadt, mehr Mülleimer und mehr Leerungen. Sie selbst wollen demnächst ganz vorn ansetzen. "Müll sammeln ist dauerhaft nicht die Lösung", erklärt Marie. "Wir müssen Umweltbewusstsein schaffen und Abfall vermeiden." Das Team plant viele weitere Aktionen, darunter Upcycling-Workshops, Kleidertausch, Firmen-Clean-ups, Schul- und Uniprojekte sowie Ausstellungen mit kuriosen Fundstücken.
Maries Eimer quillt mittlerweile über, Hannah ächzt unter dem Gewicht ihres Müllsackes. Und jetzt? Der einzige leere Mülleimer, der vor dem Bahnhof steht, ist hinter einem Bauzaun eingeschlossen. Sie stellen ihren Abfall daneben. Die Stadtreinigung nimmt ihn dann mit, so haben sie es abgemacht.
Nicht aber die Masken. Die kommen mit nach Hause, wo schon eine ganze Maskensammlung wartet. Sie alle sollen zu Ausstellungsstücken werden und bald irgendwo in Hamburg anzuschauen sein.
- Ihr habt auch Lust, bei einem Clean-up mitzumachen, wenn Corona es wieder erlaubt? Stay tuned!
- Und auch 2021 sind wieder richtig coole Frauen für den EMOTION.award nominiert. Hier könnt ihr voten!
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