Als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 überfiel, hat EMOTION-Leserin Tatjana Martynova aus der Ukraine mit uns über ihre Situation und ihre Eindrücke gesprochen. Seitdem ist ein Jahr vergangen – und immer noch tobt der Krieg. Wir haben Tatjana noch einmal gesprochen und gefragt: Wo ist sie jetzt und wie geht es ihr heute?
Hier könnt ihr das erste Gespräch mit Tatjana nachlesen, in dem sie uns wenige Tage nach Putins Überfall ihre Situation, ihre Eindrücke und Ängste schilderte.
EMOTION: Vor genau einem Jahr haben wir am frühen Morgen telefoniert, die Welt war zu Schocknachrichten aufgewacht – du in Odessa zu Detonationen. Denkst du oft an diesen Morgen, der dein Leben und dein Land verändert hat?
Tatjana Martynova: An den Morgen des 24. Februar 2022 denke ich nicht, beziehungsweise nicht bewusst. Denn dann kommt der ganze Schmerz zurück – und die Angst. Das war der schlimmste Morgen in meinem Leben. Einerseits konnte ich nicht glauben, dass Russland wirklich einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Andererseits hatte ich die volle Klarheit: Ich muss schnell was tun. Denn es war klar, was Krieg bedeutet, was die nächsten Stunden und Tage bringen werden. Ich wusste nur, dass panisch zu werden nicht hilft. Also schnell einkaufen, Geld abheben, Wasservorräte sammeln.
Du hast, nach anfänglichem Zögern, deine Heimat Anfang März verlassen und bist in die Partnerstadt von Odessa, nach Regensburg, gegangen. Lebst du dort immer noch?
Am 4. März bin ich mit meinem Sohn nach Deutschland geflüchtet. Das war wirklich ein traumatischer Tag für mich. Wir gingen in die totale Ungewissheit. Ich kannte Deutschland zwar, hatte dort und in Regensburg Freunde. Aber es ist das eine, dorthin zu reisen und etwas anderes, erst durch sein Land zu fahren, in dem Krieg herrscht. Militärposten, Kontrollen, durch Raketen zerstörte Häuser … Ich konnte erst auf der Fähre nach Rumänien aufatmen. Für mich sehr symbolisch war, dass die Donau diese Grenze war. Der Fluss, der Deutschland und die Ukraine verbindet und an dem auch Regensburg liegt.
Was machst du dort genau? Arbeitest du wieder als Lehrerin?
Ich wohne jetzt inzwischen seit fast einem Jahr in Regensburg. Seit dem 1. April arbeite ich bei der Stadt als Bildungskoordinatorin für ukrainische Geflüchtete. Das ist ein sehr interessanter Job und eine verantwortungsvolle Aufgabe. Ich kann sowohl den Menschen aus meiner Heimat helfen als auch Geld für mich und meinen Sohn verdienen. Im Prinzip lebe ich seit April ein normales deutsches Leben und habe dieselben Sorgen, Probleme und Alltag wie viele Deutsche. Natürlich nicht ganz. Trotz meiner Deutschkenntnisse habe ich viele Schwierigkeiten als alleinstehende Frau, noch dazu als Ausländerin.
Ist dein Teenagersohn, der nicht gehen wollte, am Ende auch geblieben?
Mein Sohn lebt mit mir in Deutschland, aber er ist immer noch sehr unglücklich und will nach Hause. Ich habe es schon von vielen Eltern, Psychologen und auch Lehrkräften gehört: Die Teenager tun sich hier am schwersten. Sie haben das Gefühl, dass sie ihrer Zukunft, ihrer Träume, ihrer Pläne beraubt worden sind. Viele rebellieren, sind unmotiviert, wollen nach Hause und ihr altes Leben zurück. Das Bildungssystem in Deutschland ist ganz anders als in der Ukraine und auch wenn man gut Deutsch kann, ist es sehr schwierig. Für viele Jugendliche wird es unmöglich, ihren Traum vom Studium zu verwirklichen. Man vermisst auch Freunde, die gewohnte Umgebung, das Zuhause. Man weiß nicht, wohin man gehört.
Man sollte lernen, mit seinem Schmerz so umzugehen, wie es einem selbst passt
Tatjana Martynova aus der UkraineTweet
Habt ihr euch trotz dieser Umstände gut eingelebt?
Ich kann schon sagen, dass ich mich eingelebt habe. Ich habe zum Glück meine Kollegen und Freunde. Ich kannte und liebte Regensburg auch vorher – die Stadt habe ich zum ersten Mal im Juli 1993 besucht. Ich habe meinen Job, meine interessante Arbeit. Aber natürlich auch viele Aufgaben, die ich lösen muss. Sehr schwer war es zum Beispiel, eine Wohnung zu finden. Die Mieten sind sehr teuer. Außerdem werden die Wohnungen meist ohne Möbel vermietet. Für mich hieß es dann: möglichst günstige Sachen kaufen oder viel um Hilfe bitten. Das ist nicht leicht.
Ein komisches Gefühl habe ich schon dabei: Regensburg ist jetzt ein Zuhause, aber doch kein richtiges. Es ist schwer. Denn man ist oft durcheinander, weil man weiß, irgendwo gibt es eine Wohnung, die man mit Liebe eingerichtet hat, in der man jahrelang gewohnt hat, mit all seinen Sachen. Ich muss ehrlich sagen: Mir fehlt auch meine Kleidung, meine Schuhe, mein Schmuck, all meine privaten Dinge.
Und was vermisst du am meisten?
Das Zuhause. Bisher konnte ich noch nicht nach Hause, nach Odessa, fahren. Man muss auch sehr stark sein, um sein Zuhause dann wieder zu verlassen und zurück nach Deutschland zu fahren. Dieses hin- und hergerissen Sein ist das Schwierigste. Und egal, wie gut man sich eingelebt hat – manchmal möchte man, dass alles so ist wie früher. Es liegt so viel Unsicherheit in der Luft. So viele Fragen: Wie lange bin ich hier? Werde ich mein Leben weiterhin finanzieren können? Was ist mit der Arbeit, der Schule, was mache ich, wenn etwas kaputt ist? Man baut sich ja ein ganz neues Leben auf. Deshalb ist es wichtig, zu lernen, um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen. Nicht immer stark zu sein, sondern Schwäche zu zeigen, Gefühle zuzulassen. Und sich so zu akzeptieren wie man ist und sich nicht mit anderen zu vergleichen, die etwa in der Ukraine geblieben sind oder politisch aktiv geworden sind. Man sollte lernen, mit seinem Schmerz so umzugehen, wie es einem selbst passt. Permanent traurig und verzweifelt zu sein hilft einem nicht, weiterzukommen. Die ganze Welt zu beschuldigen auch nicht.
Neben meinem Zuhause fehlt mir das Meer am meisten. Für mich ist das ein Teil meines Lebens. Und meine Stadt fehlt mir, Odessa. Ich verstehe, dass Odessa nie mehr so sein wird, wie es war. Die ganze Ukraine hat sich verändert. Und je länger der Krieg dauern wird, desto mehr Sachen werden sich verändern. Vor allem aber die Menschen. Diese Leichtigkeit wird es nie mehr geben. Denn wir alle wissen zu gut, dass es mit einem Mal vorbei sein kann.
Besonders, wenn ich in Berührung mit Schönheit komme, sei es Natur oder Kunst oder ein schöner Ort, wird mir bewusst, wie kostbar die Welt und das Leben sind.
Tatjana Martynova aus der UkraineTweet
Was ist am schwierigsten und was am besten an deinem neuen Leben?
Schwer war es für mich, wieder Glück zu spüren und mir zu erlauben, glücklich zu sein. Ich habe mich in den ersten Monaten immer wieder gefragt: Darf ich denn glücklich sein? Obwohl in meinem Land Krieg herrscht, obwohl jeden Tag Menschen getötet werden? Wenn viele Ukrainer nur das Notwendigste haben? Und ich währenddessen Neues probieren möchte, reise, ins Theater oder ins Museum gehe? Aber ich habe nur ein Leben. Und ich habe meine Entscheidung getroffen. Aber ich bezahle meinen Preis für die Sicherheit, die friedliche Umgebung, all die neuen Möglichkeiten.
Ich habe gelernt, das zu schätzen, was ich habe. Ich lebe intensiver, aber gebe mir jetzt viel mehr Ruhe, und ich bin dankbar für alles was ich habe. Besonders, wenn ich in Berührung mit Schönheit komme, sei es Natur oder Kunst oder ein schöner Ort, wird mir bewusst, wie kostbar die Welt und das Leben sind. Ich kann inzwischen auch Bücher über Menschen lesen, die Krieg und Flucht erlebt haben, die alles verloren haben – und die trotzdem den Mut gefunden haben, weiterzumachen. Leider stelle ich fest, dass die Menschheit nicht aus Fehlern lernt, dass die Geschichte sich wiederholt. Aber inzwischen sehe es so: Das Leben ist das kostbarste Geschenk und wir können es nicht auf später verschieben. Und oft sind es Kleinigkeiten, die uns helfen, den Tag zu überstehen, dann noch einen und noch einen – und dann vielleicht einen neuen Sinn finden, um weiterzuleben und glücklich zu sein. Trotz allem.
Hast du dich, als du nach Deutschland gekommen bist, willkommen geheißen gefühlt?
Was ich an Deutschland schätze, das sind Menschen. Hilfsbereit, neugierig, empathisch. Ich liebe Deutschland dafür, dass ich gut reisen und viel entdecken kann, für die vielen Möglichkeiten. Ich kann zum Beispiel am Wochenende einfach in den Zug steigen, einen neuen Ort entdecken. Ich finde es klasse, dass es viele Angebote gibt, die man auch ohne viel Geld zu haben, nutzen kann. Zum Beispiel die Stadtbücherei, Lesungen und alle möglichen Veranstaltungen.
Aufgeben ist keine Option
Tatjana Martynova aus der UkraineTweet
Welche Schwierigkeiten erlebst du konkret in Deutschland?
Natürlich ist es auch kein Paradies in Deutschland, besonders wenn man alleine ist. Für viele ist es ein Kampf. Steigende Preise, drückende Stimmung, Angst. Und natürlich gibt es Menschen, die diese Entwicklungen mit dem Krieg in der Ukraine verbinden. Ich merke, dass die Stimmung ukrainischen Geflüchteten gegenüber kippt. Aber nicht wir sind am Krieg und an der Krise schuld. Ich kenne viele Ukrainer, die in Deutschland arbeiten, fleißig Deutsch lernen, sich integrieren. Es gibt auch andere, aber man sollte nicht vergessen, dass sehr viele immer noch hoffen, bald nach Hause gehen zu können. Es ist furchtbar, dass viele – auch nach einem Jahr – immer noch in diesem Wartemodus leben.
Ist es überhaupt möglich, den Krieg auch mal zu vergessen?
Klar, für die, die wie ich geflüchtet sind, ist es leichter "den Krieg zu vergessen " oder ihn auszublenden. Man kann nicht hier in Deutschland leben und mit den Gedanken in der Ukraine. Du musst das Leben hier meistern. Aber ich kann es mit einer Wunde vergleichen, mit einer Schramme, die nie vollständig weg sein wird – oder mit einem Loch im Herzen. Der Schmerz, das Ziehen ist immer da.
Wie ist es dir im letzten Jahr ergangen, kann man das überhaupt zusammenfassen?
Dieses Jahr war eindeutig das schwierigste in meinem Leben. Ohne Hilfe hätte ich es nicht geschafft. Und ich weiß, dass es noch nicht vorbei ist. Es werden immer wieder neue Sorgen, Probleme und Unsicherheiten auftauchen. Aber Aufgeben ist keine Option, der Vergangenheit nachtrauern ist auch der falsche Weg. Ich würde sagen: Man sollte lernen, das zu schätzen, was man hat, und egal wie schwer es ist, wenigstens etwas zu finden, was einem Freude macht und wofür man dankbar ist. Und wenn es einfach ist, die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht zu spüren und die erste Tasse Milchkaffee am Morgen zu trinken.
Mehr Themen: