Bei Geld hört die Freundschaft auf? Es wird höchste Zeit, diese Annahme zu überdenken. Wie wir uns in Krisenzeiten finanziell unterstützen und so gegenseitig beschenken können.
Diesen Winter näher zusammenrücken
Das Virus, die Pocken, die Zeitenwende – wir leben in einem Ausnahmezustand, der sich längst wie ein Normalfall anfühlt, normal und unberechenbar. Nun wird auch noch die Energie knapp, die Preise steigen, und nicht mehr viel ist gewiss, außer: Dieser Winter wird wohl kälter, als wir es gewohnt sind. Für manche noch kälter. Die Hilfe des Staates zielt auf die breite Masse, weshalb sich einige über einen entbehrlichen Bonus freuen werden, während es für andere hinten und vorne nicht reicht. Zeit, näher zusammenzurücken.
Nein, tatsächlich: Die Krise ist eine gute Gelegenheit, nach menschlicher Wärme zu suchen und genau hinzuschauen, wie es uns und unserem Umfeld hinter der Fassade eigentlich geht. Könnten wir es uns leisten, Ungerechtigkeiten des Systems privat auszugleichen und Freund:innen finanziell zu unterstützen? Dort für faire Verteilung zu sorgen, wo der Staat mit seinen Pauschalen nicht hinkommt? Und könnten wir es uns emotional leisten, diese Hilfe anzunehmen, gar danach zu fragen?
Bei Geld hört die Freundschaft auf – oder?
"Mit Macht und Geld geht Verantwortung für die Menschen einher, die davon nicht so viel haben", sagt Bestseller-Autorin Mareice Kaiser in ihrem neuen Buch "Wie viel: Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht". Doch vielen dürfte mulmig werden bei der Idee, finanzielle Unterstützung im Freundeskreis ins Spiel zu bringen, denn Geld kann die Dynamik einer Beziehung gründlich durcheinanderbringen. Ein gut gemeintes Angebot, doch mal die nächste Gasrechnung übernehmen zu können, kann leicht nach hinten losgehen. Schnell brockt man sich eine Gefühlssuppe aus Macht und Entmachtung, Scham, Überlegenheit, Unsicherheit, Abhängigkeit, Schuld, Angst und anderen Misslichkeiten ein.
"Diese ganzen unangenehmen Gefühle resultieren aus der Fehlannahme, dass wir selbst dafür verantwortlich sind, wenn das Geld knapp ist", sagt Mareice Kaiser. "Als Gesellschaft glauben wir ans Leistungsprinzip: Wer sich nur doll genug anstrengt, wird schon erfolgreich sein. Alle Zahlen und Fakten zeigen aber eine andere Realität, und ich bin davon überzeugt, dass wir besser und offener über Geld sprechen könnten, wenn wir mal mit diesem Leistungsnarrativ aufräumen würden." Es wäre ein wahrer Freundschaftsbeweis, es zu versuchen.
Die eigenen Erwartungen klarmachen, bevor man Geld verleiht
Der erste Schritt zur Hilfe ist eine gründliche Prüfung der eigenen Absichten und Erwartungen. Wie viel bin ich bereit zu geben? Kann ich wirklich auf das Geld verzichten und wie lange? Erwarte ich es überhaupt zurück? Und wenn ja, werde ich schlechte Laune bekommen, wenn die Freundin im neuen Mantel aufkreuzt, obwohl sie noch Schulden bei mir hat? Erwarte ich bestimmte Gefühle als Gegenleistung? Man kann schnell bitter werden, wenn Dank und Anerkennung nicht so überschwänglich ausfallen, wie man sich das ausgemalt hat.
"Ehrlichkeit mit sich selbst ist ganz wichtig", sagt Ulla Schweitzer, ehemals im Team der Gründerinnenzentrale, die Frauen hilft, finanzielle Quellen in ihrem Umfeld zu erschließen. Schweitzer betreibt einen Instagram-Kanal mit Tipps für erfolgreiche Gespräche über Geld und die besten Strategien fürs Geben und Nehmen. "Ich muss mir wirklich sicher sein, dass ich es aushalten kann, wenn die Person das Geld für etwas ganz anderes ausgibt, als ich dachte. Schenken muss bedingungslos sein, sonst ruft es ein Machtgefälle hervor."
Mit derselben resoluten Ehrlichkeit sollte man auch untereinander kommunizieren und herausfinden, welche Art der Unterstützung sich für beide am besten anfühlt. "Wir sollten geradeheraus sagen, was wir brauchen, wie viel wir geben wollen und was passieren würde, wenn geliehenes Geld nicht zurückgezahlt werden kann. Vor allem aber sollten wir alle aufkommenden Gefühle offen besprechen. Ich hatte einmal bei einer Bekannten bezweifelt, dass sie ihre Finanzen verantwortungsbewusst verwalten kann, und zugegeben, dass es mir gefährlich schien, ihr das Geld zu geben. Das hat zu einem so emotionalen Gespräch geführt, dass wir am Ende zusammen geweint haben. Geld ist zu Unrecht ein Tabuthema, und das gemeinsame Überschreiten der Grenze kann viel Vertrauen schaffen."
Gemeinsam sind wir stärker – vor allem, wenn wir uns helfen
Natürlich lässt sich auch ganz unauffällig helfen. Geld in den Briefkasten stecken, anonyme Gutscheinkarten verschicken oder eine Crowdfunding-Kampagne starten, bei der die Empfängerin nicht weiß, wer wie viel eingezahlt hat. Man könnte sich auch als Freundeskreis entscheiden, einen Topf einzurichten, in den jeder Geld einzahlen oder nach Bedarf herausnehmen kann. Und es kann auch schon viel bewirken, statt der üblichen Restaurantbesuche zu sich einzuladen oder Aktivitäten vorzuschlagen, die nichts kosten.
Notwendig ist das Versteckspiel aber nicht. Wir sind soziale Wesen. Seit es uns gibt, treten wir in Gruppen auf und sind aufeinander angewiesen. Wenn wir gemäß unserer Natur offen geben und voneinander nehmen, machen wir uns gegenseitig stark. Das ist sogar wissenschaftlich belegt. Ein Forschungsteam der Universität Lübeck zeigte, dass es einen neuralen Link zwischen Großzügigkeit und Glücksgefühlen gibt. Geben ist ein Geschenk für beide Seiten.
"Wenn wir Hilfe brauchen, sollten wir uns nicht als Bittsteller fühlen, sondern uns klarmachen, dass wir auch was zu bieten haben", sagt Ulla Schweitzer. "Wenn ich zum Beispiel kein Geld habe, meinem Kind ein tolles Geburtstagsgeschenk zu kaufen, kann ich dafür meinen Freunden die Gelegenheit bieten, an der Freude meines Kindes teilzuhaben, wenn es deren Geschenke auspackt. So etwas hat für viele großen Wert." Warum tun Freunde etwas füreinander? Weil sie möchten, dass es der anderen gut geht. Dies zu verinnerlichen macht Raum für eine neue Perspektive: Mit einer dankbaren Annahme von Hilfe kann man seinen Freunden ehrliche Freude bereiten. Dieser Freude müssen wir einen Wert verleihen, der ein ausreichendes Gegengewicht zu der Summe an Geld darstellt.
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