Als alleinerziehende Mutter bei einem Pärchen-Dinner eckt man an, findet unsere Autorin. Vor allem, wenn man den Mann einer Freundin auf Tinder gematched hat.
Als Single-Mama unter Paaren
Pärchen-Dinner in der Nachbarschaft. Der Dresscode ist nicht offiziell, doch hier im Hamburger Westen ist es ein ungeschriebenes Gesetz: die Herren in Sakkos, die Damen knielang. Ein bisschen Stil muss sein, da, wo Cayennes vor den Garagentoren parken und die Designersofas teurer sind als meine Jahresmiete. Zwei der acht Gäste sind Singles, beides Frauen, ich bin eine davon. Loderndes Kaminfeuer spiegelt sich im Panoramafenster mit Blick auf die Elbe. Es ist schön hier. Wirklich schön.
Tinder trotz Beziehung: Ist das fremdgehen?
Ausgerechnet der attraktivste Ehemann des Abends erinnert mich stark an eine meiner Tinder-Karteileichen (das sind die Typen, mit denen es "gematcht" hat, denen Frau nicht schreibt, sie aber auch nicht löscht, weil sie zu gut aussehen). Er sitzt auf dem nagelneuen Ecksofa, seine Hand liegt auf dem Arm seiner schönen schwangeren Frau. Ich bin auf Tinder. Na und. Ich darf das, ich bin Single. Aber er? Eines seiner drei Kinder geht mit meinem Jüngeren in eine Klasse. Spinne ich? Oder ist das nur die erste Vernebelung des australischen Shiraz? Sag ich was? Oder halte ich die Klappe?
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Alleinerziehende auf Partnersuche
Nach anstehenden Kommunalwahlen, weiterführender Schule unserer Kinder, der Integration von Geflüchteten kommt das Thema auf mich: Was tut eine Frau aus der Mitte der Gesellschaft (wobei das hier eher den oberen Rand darstellt), um einen neuen Mann zu finden? Und wie sind Online-Dating-Plattformen? Schlechtes Thema. Vor allem für ihn hier. Ich erzähle von Tinder, Bumble, Once und Co, wo man nette und weniger nette Männer trifft. Oft Ehemänner mit außerehelichen Kopulationsplänen. Während ich rede, schaue ich ihn kurz an. Ich sehe, dass er sieht, was ich denke. Ich entschuldige mich, gehe mitsamt Handy auf die Toilette sein Profil checken. Er ist es. Er trägt sogar das gleiche Hemd wie auf dem Tinder-Foto.
Dürfen wir uns in die Ehe von anderen einmischen?
Zurück am Tisch frage ich: "Sag mal: Kennen wir uns nicht irgendwoher?" Er stöhnt laut. Nicht schon wieder. Sein "Allerweltsgesicht". Er habe Hunderte Doppelgänger, ständig werde er verwechselt. "Netter Versuch", sage ich. Wenn Männer so was behaupten, verbergen sie immer dunkle Nischen, die auf ein Doppelleben hinweisen. Meine Freundin schiebt mich in die Küche. Bittet mich, ihn nicht zu outen. Die Ehen anderer Leute gingen mich nichts an. Ich sei weder die Wahrheits-Abgeordnete des Abends noch generell. Sekunden später steht der Tinder-Mann in der Küchentür. "Und jetzt?", fragt er mich. "Willst du mich verpetzen ... Ist das nicht peinlich?" "Ja, vor allem für dich", sage ich.
Schöne falsche Welt
Würde ich nicht zufällig in Kleid und Highheels in einer schicken Küche mit Elbblick stehen, würden draußen nicht die Eltern von den Freunden meiner Kinder sitzen, würde sein Sohn nicht am Montag auf dem Schulhof zu meinem sagen: "Deine Mama hat meinen Papa gehauen!" – ich würde ihm eine reinhauen. Und zwar fest. Dieser Typ legt in seinem Büro Tinder-Dates flach – und ich soll schweigen? Willkommen in der Großbürgerhölle. Dort, wo Ehemänner das Gesamteinkommen der Familie bestreiten, während Vollzeit-Mütter Kinder, Haushalt und Liliensträuße von der Größe eines Sarggesteckes auf dem Esstisch arrangieren.
Kinder oder Karriere
Wo klar ist, dass ihr Einkommen nicht einmal mit dem der Nanny verrechnet werden kann. Dort hängen die Ehefrauen ihre beruflichen Ambitionen (erst mal) an den Nagel. Und aus "erst mal" werden Jahre. Auch ich habe mich vor Jahren in dieses anachronistische Familienmodell hineinmanövriert: Papi verdient Geld, Mama bekommt Kinder. Und dann sehen wir schon. Oft checken wir Frauen nicht, wie unsere Karriere oder zumindest die Option darauf ganz nebenbei den Bach runtergeht. Wenn erst mal Kinder da sind, haben sie immer Priorität. Ohnehin gehörte ich nie zu den toughen Journalistinnen, die mit Kindern einen festen Job gewuppt hätten. Mütter, die trotz Trennung in diesem Stadtteil geblieben sind, existieren nur mithilfe von Unterhaltszahlungen.
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Wie viel Wahrheit hält eine Beziehung aus?
Wenn das Tinderding jetzt rauskommt, ist das deine Schuld, sagt meine Freundin. Nur weil ich getrennt sei, müsse ich nicht alle anderen mit in diesen Abgrund reißen. Das sei der Deal in Gegenden wie dieser, Affärchen von Ehemännern seien da eingepreist. Kompromiss- und Leidensfähigkeit gehörten hier, wo das Ehefrauengehalt ihres als Teilzeit-Dermatologin locker übertreffe, eben dazu: Familien zu erhalten sei Teil der Grundstruktur des Glücks. In meinen Augen ist es die Wurzel des Unglücks. "Man muss sich halt anpassen, wenn man hier lebt", sagt meine Freundin. Aber was tue ich denn Unangepasstes? Außer ab und zu einen (Tinder-)Mann zu treffen (mit dem es eh nicht funkt)?
Effi Briest des Hamburger Westens
Nach einer gescheiterten Ehe müssten Mütter zumindest versuchen, einen neuen Ehemann zu finden, um wieder gesellschaftsfähig zu sein, meint sie. Und nicht nur einen für gewisse Stunden. Ohne Mann nicht gesellschaftsfähig? 120 Jahre nach "Effi Briest"? Für mich ist der nach einer wahren Begebenheit verfasste Roman Theodor Fontanes in erster Linie die exemplarische Darstellung eines Frauenschicksals. Eines klassisch weiblichen Weges, bei dem die Protagonistin nach Affäre und Scheidung aus der Gesellschaft komplett verbannt wird. Ich soll also die Effi Briest des Hamburger Westens sein? Wo fremdgehende Familienväter toleriert, gedeckt und sogar unterstützt werden, und Frauen, die einfach nur frei leben wollen, als skandalös gelten? Muss ich in einen weniger privilegierten Stadtteil ziehen, weil die Schieflage zwischen den Geschlechtern dort weniger evident ist? Oder irgendwohin, wo Frauen und Männer das Gleiche verdienen – und die Existenz der Familie nicht vom Bankkonto des Gatten abhängt? Und muss die schwangere Ehefrau ihren tindernden Ehemann tolerieren, schon weil eine Scheidung den familiären Standard aufs Spiel setzt?
Wenn wahre Worte weh tun
Am Morgen nach dem Dinner rufe ich die Gastgeberin an. Sie ist sauer. Nicht etwa auf den Fremdgeher, obwohl sie eng mit dessen Frau befreundet ist. Nein, sie ist sauer auf mich. "Was hast du dir gedacht, als du ihn fast geoutet hast? Alle hier haben Kinder, Ehen, Affären, Verantwortung. Wir sind nicht im Kindergarten, sondern in der Mitte unseres Lebens. Die Familien funktionieren, lass sie doch. Nur weil du nicht fähig warst, Kompromisse zu machen."
Ich widerspreche nicht, aber ich merke, wie traurig mich ihre Worte machen. "Diese gut aussehenden, reichen Männer können tun, was sie wollen. Und wenn wir Frauen es wagen, uns deswegen zu trennen, killen wir das System und nehmen unseren Kindern das Nest." Seit ich weiß, dass meine Freundin mich für einen Systemkiller und für eine schlechte Mutter hält, ist sie meine Ex-Freundin.
Die Handgranate zwischen den Ehefrauen
Als ich loslaufe, um meinen Twingo vor ihrer Villa abzuholen, fällt mir wieder auf: Auch ich bin hier der Twingo auf dem Porsche-Parkplatz. Die Falschparkerin. Die Handgranate zwischen den Ehefrauen, die den wichtigsten Plan ihres Lebens durchziehen: den Erhalt der Familie. Und zwar um jeden Preis. Die Wahrheit aber ist eine andere: Wenn das Nest im Kern vergiftet ist, ist es kein gutes Nest mehr, auch nicht für die Kinder, die immer spüren, wenn mit Mama und Papa etwas nicht in Ordnung ist. Die Ausrede vieler Mütter – zusammenbleiben, bis die Kinder groß sind – ist so kaputt wie ihre Selbstachtung. Trennung ist eben unbequem und wirft alle Beteiligten in ein bescheideneres Leben zurück. Mit leerem Herzen kann man nicht bleiben. Aber man kann gehen, und zwar erhobenen Hauptes. Ich bin raus. Raus aus dem System, raus aus der Gesellschaft der angeblich intakten Familien. Ob ich je wieder zu ihren Dinner-Partys eingeladen werde, wo teure Weine in solchen Mengen über ihre Lippen fließen wie die Lebenslügen, die sie sich gegenseitig auftischen? Ich steige in meinen Twingo und fahre voller Abenteuerlust in Richtung City – zum nächsten Blind Date.
Andrea Müller lebt auch nach ihrer Trennung mit den beiden Söhnen in einem Hamburger Elbvorort. Ihr neues Buch über den Wahnsinn der Liebe in der Mitte des Lebens "Du kannst ausziehen, wir rauchen hier nackt" ist im April 2020 erschienen (mvg Verlag, 14,99 Euro).