Die besten Bücher des Jahres 2019: Wir zeigen in unseren Buchtipps die 20 Lesehighlights des Jahres, Literatur, die uns begeistert hat.
Buchtipps 2019: Autorinnen, die uns begeistern
Geschichten, die uns begeistert haben: 2019 sind großartige Bücher durch unsere Hände gewandert, viele davon haben uns nachhaltig beeindruckt. Wir haben einige Bücher von Frauen gelesen und wollen auch weiterhin Autorinnen in den Fokus bringen, was übrigens auch das Ziel der Instagram-Aktion #autorinnenschuber ist.
Lesen für eine bessere Welt: Ran an die Bücher!
Unsere Kollegin Maria hat 2019 ein Interview mit der Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf geführt, in dem sie erklärt, wieso Bücher lesen so wichtig für uns ist - und wie es sogar eine bessere Demokratie schafft. Lesen für eine bessere Welt: Der beste Grund, sich fürs nächste Jahr großartige Bücher vorzunehmen!
Lese-Highlights: Selbst Lesen oder Verschenken
Wir haben aus allen Büchern, die wir 2019 in der EMOTION-Redaktion gelesen und besprochen haben, unsere persönlichen Highlights herausgesucht. Lasst euch inspirieren: Wir wünschen viel Spaß - beim selbst Lesen oder Verschenken!
Das Ende der Geschichte
Es war der längste Cliffhanger der Literaturgeschichte: 34 Jahre, nachdem die brillante Dystopie "Der Report der Magd" erschienen ist, kommt jetzt die Fortsetzung. Als Atwood begann, ihren Klassiker über das Terrorreich Gilead zu schreiben, war sie in West-Berlin, es war das (Orwell-)Jahr 1984 und in Osteuropa herrschten noch diktatorische Verhältnisse. Nach dem Zerfall sah es lange so aus, als entwickele sich die Menschheit zum Besseren – doch Atwood bleibt skeptisch, angesichts des wachsenden Populismus in der Welt. So hat sie beschlossen, doch über den Fall Gileads zu schreiben. Es ist 15, 16 Jahre später, im Mittelpunkt steht diesmal nicht die Magd Desfred (Englisch: Offred), sondern zwei junge Frauen und eine düstere Figur: Tante Lydia, die mächtigste Frau Gileads, die mit brutalem Kalkül das Leben der Frauen bestimmt – und sie hat noch eine andere Mission: Sie ist die geheime Chronistin der Gräuel ... Ein starkes Plädoyer für die Freiheit. Silvia Feist
Die Zeuginnen, Margaret Atwood, Berlin Verlag, 25 Euro
Bild: berlin Verlag
Das Schicksal in die Hand nehmen
Bei keinem der für den deutschen Buchpreis nominierten Bücher sind die Wellen höher geschlagen als bei Karen Köhlers Romandebüt. Ich gehöre zu den Fans. Köhlers Heldin ist eine junge, zunächst namenlose Frau, die als Baby in einem Karton auf einer Insel gefunden wird. Diese ungewisse Herkunft macht sie in der archaischen Welt des Dorfs, in dem sie nun aufwächst, zur Außenseiterin. Gleich auf den ersten Seiten lernt man sie in einem Moment des Aufbegehrens kennen – und am Ende des Jahres, das man sie begleitet, wird nichts mehr sein, wie es war ... „Miroloi“ heißt „Rede über das Schicksal“. Den Titel hat Köhler dem Griechischen entliehen, es meint ein Lied, in dem die Frauen ihre Toten noch einmal auf leben lassen. Für die Heldin ist klar: „Mein Miroloi muss ich mir selber singen, damit kann ich nicht warten, bis ich gestorben bin, sonst wird es mich nicht gegeben haben“ – und sie nimmt ihr Schicksal in die Hand. Silvia Feist
Miroloi, Karen Köhler, Hanser, 24 Euro
Bild: Hanser
Das Mädchen aus dem Sumpf
Kya ist sechs Jahre alt, als ihre Mutter die Fliegengittertür hin ter sich zufallen lässt und, ohne sich umzublicken, verschwindet. Kurz darauf sind ihre drei großen Geschwister weg, und dann erklärt ihr Jodie, ihr 13jähriger Bruder, wieso er gehen muss. Das scheue Mädchen bleibt mit dem alkoholkranken, gewalttätigen Vater zurück und schaut sich bei den kleinen Fischen ab, wie man Feinden aus dem Weg geht: „Nie auffallen, von Sonnenflecken zu Schatten huschen“ – die Hütte verlässt sie, bevor der Vater wach wird, und nachts schläft sie auf der Veranda. Es ist das Jahr 1952. Die Hütte steht an der Küste North Carolinas im Marschland, und jeder, der hier lebt, ist für die Leute im nahe gelegenen Barkley Cove „Sumpfgesindel“. 17 Jahre später wird im Sumpf die Leiche von Chase Andrews gefunden, dem bekanntesten jungen Mann der Stadt. Unter Mordverdacht: das Marschmädchen. Mit Kya hat die Zoologin Delia Owens in ihrem Romandebüt eine so zarte wie wilde Heldin erschaffen, die mich tief in die faszinierende Natur mitgenommen hat. Eine Geschichte über Verlust, Liebe und oft schmerzliche Hoffnung. Stark! Silvia Feist
Der Gesang der Flusskrebse, Delia Owens, Hanserblau, 22 Euro
Bild: Hanser
Griechische Mythologie neu erzählt
Vielleicht sind hier Musenküsse im Spiel. Oder göttliche Funken. Denn wie die New Yorker Altphilologin Madeline Miller der griechischen Mythologie neues Leben einhaucht, ist: magisch. Sie erzählt die Geschichte von Circe, Tochter des Sonnengotts Helios, die als unsichere Außenseiterin heranwächst und erst in der Verbannung ihre wahre (Zauber-) Kraft entdeckt. In jedem Kapitel entfaltet Miller eine andere antike Sage, die sie durch Circes Augen so zeitgemäß erzählt, als spielten die Geschichten um Macht, Verrat, Liebe, List und große Träume jetzt. Mit psychologischem Blick seziert die Göttin dabei die Geschlechterverhältnisse, verwandelt Männer, die sie als Beute betrachten, in Schweine, und lädt die Sterblichen in ihr Bett, die sich ihrer würdig erweisen, von Daidalos bis zu Odysseus. Es sind unvergessliche Geschichten – und die Geschichte einer Selbstermächtigung. Vom güldenen Cover fällt nicht nur der göttliche Glanz auf uns, sondern wir können uns in Circe widerspiegeln. Silvia Feist
Ich bin Circe, Madeline Miller, Eisele, 24 Euro
Bild: Eisele
Beziehungsstatus? Kompliziert, aber nicht hoffnungslos. Zum Glück
Betrug, Untreue, Affären – der Stoff, aus dem oft große Literatur entstanden ist. Und an dem man sich verbrennen kann. Nicht die Irin Sally Rooney: Sie hat einen schnellen, scharfsinnigen, modernen Roman geschrieben. Der Titel legt es nahe, „Gespräche mit Freunden“ entwickelt sich rund um Konversationen. Rooneys Vergangenheit als Debattier-Champion spiegelt sich in den schlagfertigen, intensiven Gesprächen und Chat-Verläufen zwischen ihrer Protagonistin Frances und deren bester Freundin (und Ex-Freundin) Bobbi. Die Handlung scheint banal: Junge Frau (Frances) trifft auf älteren Mann (Nick), der mit einer erfolgreichen Künstlerin verheiratet ist. Sie starten eine Affäre. Aber an diesem Buch ist nichts banal. Aus den Gesprächen und Chats wachsen ganze Charakterstudien: allen voran die von Frances, die bei aller Selbstreflektiertheit auch naiv ist. Dann ist da die provokante, intellektuelle Bobbi, die sich so gut mir der selbstsicheren, oft überheblichen Künstlerin Melissa versteht, und eben Nick, mittelmäßiger Schauspieler mit überraschender Tiefe. Faszinierend wie Rooney die Ménage-à-quatre beschreibt und daneben noch Raum findet für hochaktuelle gesellschaftliche Themen. Kristina Appel
Gespräche mit Freunden, Sally Rooney, Luchterhand, 20 Euro
Bild: Random House
Eine richtig miese Familie
Maximilian Wenger war mal wer. Erfolgsautor, Provokateur, Liebling der Literaturszene Österreichs – doch die letzten Bücher floppten. Seine Frau hat einen Jüngeren, dem er öffentlichkeitswirksam eine reingehauen hat. Dabei interessiert er sich weder für seine Frau noch für seine Kinder. Tochter Zoey macht gerade Matura, ist unglücklich verliebt und versucht, sich im Leben zurechtzufinden. Zoey stellt sich ihren Gefühlen mit einer Wahrhaftigkeit, für die Mareike Fallwickl eine besondere Sprache findet. Es gibt Momente, die treffen einen so sehr, dass man das Buch kurz zuklappen muss. Erst die Briefe einer anonymen Schreiberin, die eigentlich an seinen Vormieter adressiert sind, holen Wenger aus seinem Loch. Diese Frau muss Schreckliches erlebt haben. Was Wenger nicht weiß: Zoey liest mit – und die Briefe bedeuten Rettung für sie ... Das Buch hat Tiefe, Poesie, feine Charakterzeichnungen und zugleich eine unglaubliche Härte. Dabei schafft Fallwickl es, alles mit den Themen unserer Zeit zu verbinden: Machtmissbrauch, Sexismus und dominante Männer im Kulturbetrieb. Miriam Böndel
Das Licht ist hier viel heller, Mareike Fallwickl, FVA, 24 Euro
Bild: Frankfurter Verlagsanstalt
Wir hatten uns das anders vorgestellt
Bei jeder der fünf Frauen, die Daniela Krien lebendig werden lässt, hatte ich das Gefühl. Ihr schon mal begegnet zu sein. Die fünf sind: die alleinerziehende Buchändlerin Paula, Single-Ärztin Judith, die hoffnungsvolle Schriftstellerin Brida, Geigenlehrerin Malika und ihre kleine Schwester Jorinde. Sie sind lose miteinander verbuden, die Verliebtheit der einen bedeutet ein gebrochenes Herz für die andere - es ist ein Kaleidoskop weiblicher Lebenserfahrungen, in die Krien, selbst 1975 in der DDR geboren, subtil eine Ost-Identität einwebt, eine viellicht selbstverständlicher gelebte weibliche Unabhängigkeit. Und während die fünf lieben, leiden, wieder aufstehen, fühle ich mit, schüttele mal den Kopf, möchte sie alle zwischendurch rütteln - und merke: Sie bauen, wie ich, für sich ein Leben, das nicht so ist, wie erwartet, aber richtig und auf seine Art gut. Silvia Feist
Die Liebe im Ernstfall, Daniela Krien, Diogenes, 22 Euro
Bild: Diogenes
Was hält die Liebe aus?
Bei Michelle und Barack Obama habe ich den Eindruck, da sind zwei, die wirklich was von der Liebe verstehen, vielleicht gerade, weil sie wissen, dass es nicht immer einfach ist. Deshalb hat es mich neugierig gemacht, dass Barack Obama über Tayari Jones’ Buch sagt: "Dieser Roman über eine große Liebe hat mich zutiefst bewegt." In Jones’ Sound musste ich mich erst ein bisschen reinfinden, aber dann hat sie mich mitgerissen: Celestial und Roy Jr., beide Anfang 30, gerade ein Jahr verheiratet, durchaus mit Aufs und Abs und ersten Überlegungen zu Kindern, gehören zur auf strebenden afroamerikanischen Mittelschicht. Dann wird Roy unschuldig zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt – kann ihre Liebe das überstehen? Jones erzählt aus den perspektiven von beiden (und aus noch mehr), und ich stimme der einen so eindeutig zu wie der anderen – obwohl sie unvereinbar sind. Die Liebe der beiden ist nicht die einzige, von der Jones erzählt. Es geht ums Einlassen und ums Loslassen und ganz nebenbei um das schwarze Amerika von heute. Stark! Silvia Feist
In guten wie in schlechten Tagen, Tayari Jones, Arche, 22 Euro
Bild: Arche
Bücher in den wilden Westen
Jojo Moyes überrascht mich immer wieder. Diesmal hat sie eine Art späten Western geschrieben, aber statt Cowboys reiten Bibliothekarinnen durch die zerklüfteten Berge Kentuckys, mit Lesestoff für die Landbevölkerung im Gepäck. Diese Satteltaschenbüchereien gab es tatsächlich in den 1930er- und 40-Jahren zu Zeiten der Großen Depression. Unter den Bibliothekarinnen ist die junge Engländerin Alice. Mit ihrem vornehmen britischen Akzent ist sie nicht die naheliegendste Kandidatin, um das Vertrauen der Leute in den abgelegenen Hütten zu gewinnen. Aber vor allem ist sie: ziemlich verloren. Eine Wirbelwind-Liebe hat Alice aus ihrem Society-Leben ins verschlafene Baileyville getragen, wo sie in einer unerwartet schwierigen Ehe landet. Die raubeinige Marge nimmt sie unter ihre Fittiche. Fortan reiten die Frauen bei Sonne, Regen und Eis bis zu 20 Meilen am Tag, um die Provinz mit Büchern und Comics zu erobern – und geraten unversehens in Gefahr. Mit viel Gespür für die Zeit hat Moyes eine handfeste Geschichte geschrieben über Liebe, Freundschaft, Rechte für Arbeiter (!) und die Kraft des Lesens. Silvia Feist
Wie ein Leuchten in tiefer Nacht, Jojo Moyes, Wunderlich, 24 Euro
Bild: Wunderlich
Ein Endzeitmärchen
Ein junger Mann wird an den Strand eines Dorfes gespült. Er glaubt zu wissen, dass die Welt
vor dem Ende steht – denn er hat das Ende programmiert. Doch dann schmiedet er mit den Dorfbewohnern einen Zukunftsplan ... Klingt wild? Ist aber gar nicht so unrealistisch. Eine John-Irvinghaft schräge Geschichte voller Wahrheit und Wärme, über das, was im Leben wirklich zählt: Zusammenhalt und Liebe. Annalena Lüder
Der Wal und das Ende der Welt, John Ironmonger, S.Fischer, 22 Euro
Bild: S.Fischer
Rassismus besiegen - mit Vernunft und Sanftheit
Kann man mit Vernunft und Sanftheit Dummheit, Brutalität und Rassismus besiegen? Elwood will daran glauben, so schwer es ihm fällt. Seit er als Junge von seiner Großmutter eine Schallplatte mit den Reden Martin Luther Kings bekommen hat, ist er erfüllt von einer Mission: Er will den Weißen zeigen, dass er als Schwarzer ein "Mensch ist wie jeder andere". Weil er beim Trampen nichtsahnend in ein Diebesauto steigt, landet er Anfang der 1960er- Jahre in einer Besserungsanstalt für Jugendliche – ausgerechnet an dem Tag, als eigentlich seine College-Karriere beginnen sollte. Während in den Großstädten längst für die Rechte der Schwarzen demonstriert wird, ist ein "Nigger" in der Nickel Academy weniger als nichts wert. Wie der idealistische Elwood und sein pragmatischer Freund Turner in diesem System von Gewalt und sexuellem Missbrauch versuchen, ihre Würde und innere Freiheit zu retten, hat mich zutiefst berührt. Nicht nur, weil Colson Whitehead hier die reale grausame Geschichte der Dozier School for Boys aufarbeitet, sondern weil ihm etwas Besonderes gelingt: Er macht fühlbar, wie das rassistische Trauma bis ins Heute reicht. Und zeigt auf dramaturgisch überraschende Weise, dass Mut und Liebe tatsächlich die Kraft haben, Menschen zu verwandeln. Ein großes Buch. Andrea Huss
Die Nickel Boys, Colson Whitehead, Hanser, 23 Euro
Bild: Hanser
Frauen, Fliegerei und der Traum vom Mond
Zwei Männer machten 1969 berühmte Schritte, mit denen sie in die Geschichte eingingen: Neil Armstrong und Buzz Aldrin waren die ersten Menschen auf dem Mond. Was kaum jemand weiß: Die Amerikaner planten, auch Frauen ins All zu schicken – womit wir mitten in Maiken Nielsens „Space Girls“ sind. Die USA wollen in den 50er, 60erJahren den Wettlauf auf den Mond gewinnen, auch mithilfe von Frauen. Erfahrene Pilotinnen absolvieren die Astronauten-Tests und diese „Mercury 13“ bestehen so gut wie die Männer. Doch 1962 entscheidet sich die NASA gegen Frauen im Raumfahrtprogramm. Gekonnt verknüpft Maiken Nielsen die historischen Ereignisse mit der fiktiven Geschichte um die Pilotin Juni Leroy, die alles dafür tun würde, Astronautin zu werden – doch Juni muss schließlich einen anderen Weg finden, um glücklich zu werden ... Feminismus, Fliegerei und die Suche nach Identität – ein spannender Themenmix, der mich nicht mehr losgelassen hat, ein Buch, das mich begeistert hat. Imke Weiter
Space Girls, Maiken Nielsen, Wunderlich, 22 Euro
Bild: Wunderlich
Trau dich dein Leben
Es gibt nicht viele Autoren, die gleichzeitig so feinfühlig und so gnadenlos schreiben wie Elizabeth Strout. Wenn sie Figuren zeichnet, dann ahnt man nicht nur, was diese Menschen antreibt, man glaubt, sie bis ins Tiefste ihres Herzens zu kennen. Diesmal kehrt Strout, wie in ihrem Pulitzerpreisgekrönten Roman "Mit Blick aufs Meer", in die amerikanische Kleinstadt zurück, und sie nimmt Lucy Barton mit, die Heldin ihres letzten Buchs (fangen sie ruhig mit diesem an!). Lucy, eine Schriftstellerin, lebt schon lange in New York, entfremdet von ihrer Familie. Jetzt kommt sie zurück in eine Welt, die Strout durch die Geschichten ganz unterschiedlicher Menschen lebendig werden lässt. Sie erzählt von Sehnsüchten und Ängsten, von Fehlern und dem Mut, sich über alles hinwegzusetzen – wie Mary, die ihren Mann nach einem halben Jahrhundert für einen deutlich jüngeren Italiener verlässt und ihrer Tochter zeigt, wie wunderbar das Leben mit 78 Jahren in einem gelben Bikini sein kann. Silvia Feist
Alles ist möglich, Elizabeth Strout, Luchterhand, 20 Euro
Bild: Luchterhand
Mut und Melancholie
Vor zwei Jahren gab es auf einer Intensivstation in Kanada einen Patienten, dessen Gehirn noch zehn Minuten und 38 Sekunden nach dem klinischen Tod aktiv war. Das hat Elif Shafak zu der ungewöhnlichen Perspektive ihres neuen Romans geführt. Denn Leila, Spitzname "Tequila Leila", eine Frau, die sich ihr Leben lang von nichts und niemandem unterkriegen lässt, stellt fest: Sie ist tot. In den zehn Minuten und 38 Sekunden nach ihrer Ermordung taucht sie in ihre Erinnerungen ein – und ich mit ihr. Leilas Leben ist so ungeheuerlich, dass ich eins ums andere Mal den Atem angehalten habe. Eine Mutter, die sie auf für uns kaum vorstellbar tragische Weise aufgeben muss und darüber verrückt wird, ein Onkel, der ihr Vertrauen aufs Schlimmste missbraucht – und Leila, die das alles nur übersteht, kraft ihrer überbordenden Fantasie und ihres Mutes. Und mithilfe eines Freundes und vier Freundinnen, die sie durchs Leben tragen, als sich Leila in ein melancholisches Istanbul der Außenseiter flüchtet. Elif Shafaks Erzählweise grenzt an magischen Realismus, das wird im letzten Drittel etwas schwächer, aber ihre Leila ist eine der stärksten Frauen dieses Buch-Jahres. Silvia Feist
Unerhörte Stimmen, Elif Shafak, Kein & Aber, 24 Euro.
Bild: Kein & Aber
Drehbuch des Lebens
Nein, Rahel, die Heldin ihres Debütromans, sei nicht sie selbst, betont Anika Decker. Aber die beiden kennen sich ziemlich gut. Denn sie teilen Job (Drehbuchautorin), Werdegang (ein abgebrochenes Studium, dann Einstieg in die Film und Fernsehbranche), aber vor allem teilen sie Humor, Rotzigkeit und eine existenzielle Erfahrung: Vor zehn Jahren ist Anika Decker, damals 34, so gerade eben mit dem Leben davongekommen – Infektion, Organversagen, künstliches Koma. Und so geht es Komödienautorin Rahel auch. Sie findet sich wieder in einem Dämmerzustand, durch den ein freundliches Eichhörnchen spukt und jede Menge Geister von früher, die sie nicht richtig zu fassen bekommt. Mit viel Gefühl und Witz erzählt Decker, wie sich Rahel zurück ins Leben kämpft. Mit dabei: ihr großer Bruder Juri (in echt hat Decker mit ihrem Bruder Jan die Filmfirma Decker Bros.), ihr Buddy Kevin, ein Schamane und ihr unentschiedener Lebensgefährte Olli. Rahel findet dabei heraus, was sie wirklich will – und vor allem: was nicht mehr. Ein schön böser Blick hinter die Kulissen der Filmwelt und eine echte Emanzipationsgeschichte. Silvia Feist
Wir von der anderen Seite, Anika Decker, Ullstein, 20 Euro.
Bild: Ullstein
Leben aus den Fugen
Die Irin Mona hat sich eingerichtet in einem Leben, das sie sich so nie vorgestellt hatte: alleinstehend, kinderlos, in einem englischen Küstenort, wo sie lebensgetreue Künstlerpuppen verkauft. Ihre Kundinnen betreten meist widerstrebend ihr Geschäft, weil sie um die Kinder trauern, die sie verloren haben, und jetzt etwas suchen, das ihre Seele zu heilen vermag. Mona versteht ihre Gefühle, denn sie weiß, dass der Verlust eines Babys alles ändern kann: die Liebe, die Zukunft, die bis dahin so rosig zu sein schien. Auch sie leidet im Stillen noch unter den Folgen dieser einen Nacht vor vielen Jahren, in der nicht nur eine Bombe der IRA ihr Leben aus den Fugen riss, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Was im ersten Moment kitschig klingt, entpuppt sich nach nur wenigen Seiten als gefühlvoller, ganz unrührseliger Roman, der auf zwei Zeitebenen so sanft wie spannend das entrollt, was Monas Leben so extrem verändert hat. Und was – oder wer – dafür sorgt, dass diese Wunde auch bei ihr einfach nicht vernarben mag. Oder doch? Christine Ritzenhoff
Die Zeit und was sie heilt, Kit de Waal, Rowohlt, 22 Euro
Bild: rowohlt
Ein warmes Licht in kalter Zeit
Da er für die Medizin brennt, aber nichts Praktisches lernt, meldet sich Student Lucius 1914 freiwillig an die Front, um im Lazarett endlich Hand anlegen zu können. Dort ist die Ausstattung mies, sein Können noch mieser, und als Hilfe hat er nur Nonne Margarete, die ihm jedoch resolut zur Hand geht – und in die sich Lucius, trotz innerer Widerstände, heillos verliebt. Aber dann spült der harte Kriegswinter ihm einen höchst traumatisierten Soldaten aufs Feldbett, und Lucius trifft eine folgenschwere Entscheidung, durch die er alles verliert: den Patienten, die Erfüllung durch die Medizin – und Margarete. Trauernd macht er sich auf die Suche nach seiner Geliebten ... Dieser intensive Roman zieht einen mitten hinein, in Kälte und Leid, Liebe und Sehnsucht, die Verzweiflung, den Krieg. Auch wenn das weh tut, will man keine Seite missen. Großartig!
Der Wintersoldat, Daniel Mason, C.H.Beck, 24 Euro
Bild: C.H.Beck
Schnoddrig, traurig und lustig: Von einer russischdeutschen Patchwork-Familie
Max ist Erstklässler, angehender Pianist, und Jude. Also zumindest hat er einen Onkel, der einen Schwager hat, der eine jüdische Frau hat. Das genügt, um von Russland nach Deutschland auszusiedeln. Hier errichtet seine Großmutter im ehemaligen Hotel "Zur Sonne", einem abbruchreifen Wohnheim, ein liebevolles Terrorregime, um ihre Familie vor Keimen und sonstigen Bedrohungen der Welt zu beschützen – und bekommt so als Letzte mit, dass sich ihr Mann verliebt hat. In die Nachbarin, die Klavierlehrerin, die einzige Frau, die Zutritt hat in ihre Wahnsinnswelt. Und so beginnt eine Tour de Force, für die manche Patchwork-Familie Vorbild sein könnte, auch wenn hier niemand dieses Wort kennt. Alina Bronsky, ebenfalls in Russland geboren und in Deutschland aufgewachsen, feuert kurze böse Sätze ab, die einen unweigerlich zum Lächeln bringen. Ihre unvergesslich eigenwilligen Helden reden so schnoddrig, traurig und lustig, dass selbst Wladimir Kaminer staunen würde. Janis Voss
Der Zopf meiner Großmutter, Alina Bronsky, Kiepenheuer & Witsch, 20 Euro
Bild: Kiepenheuer & Witsch
Sehnsucht nach Glück
Simone Meier ist für mich die erste Entdeckung des Jahres. Schon lange habe ich nicht mehr so pointenreiche und dabei
pointierte Beobachtungen gelesen, die die Vorstellungen von einem gelingenden modernen Leben sezieren. Da ist Gerda, 32, die lieber Greta geheißen hätte (ist aber das kleinste der Probleme, die sie mit ihrer Mutter hat, bei der sie aufgewachsen ist, ohne ihren Vater zu kennen). Gerda hat gerade den Job verloren und schaut sich selbst dabei zu, wie sie sich mal panisch, mal befreit fühlt. Für den Moment steckt sie ihre Energie in das Häuschen, das sie frisch bezogen hat – mit Yann, 38, Sohn aus heiler Familie, der Haruki Murakami liest, sich Kinder wünscht, als reflektierter Mann Gerda aber nie, nie drängen würde. Beide kennen all die Codes, die man heute bedienen muss, um dem eigenen Anspruch an ein cooles Städterleben gerecht zu werden – und beide durchschauen das und leben deshalb in einem Zustand dauernder Selbstironisierung ihrer Sehnsüchte. Dann ist da noch Yanns Kollege Alex, „der die Welt auch nicht retten konnte“, wie Gerda abgeklärt feststellt – und meint da mit auch ein bisschen ihre Welt. Und es gibt die Nachbarin Valerie, eine Kolumnistin, Anfang 50, die gerade nur noch sicher weiß, dass auf ihrem Grabstein mal „Dirty old woman“ stehen soll. Wie Meier hinbekommt, dass man all ihre Protagonisten genauso oft schütteln wie in den Arm nehmen möchte, ist grandios. Silvia Feist
Kuss, Simone Meier, Kein & Aber, 22 Euro
Bild: Kein & Aber
Selbstbetrachtung: Das Leben als Erzählung
Wer bin ich? Eine der großen Fragen unseres Lebens, eine, die sich nie endgültig beantworten lässt und sich ständig neu stellt: Bin ich das noch? Und ab einem gewissen Alter: Wer war ich? Dieses leicht ungläubige Staunen beim Betrachten seines jugendlichen Selbst ist der Grundton von Siri Hustvedts Roman, den man wohl autobiografisch nennen darf – jedenfalls fällt es schwer, sich die Ich-Erzählerin, die sich S. H. nennt, Anfang 60, nordisch und blond, Schriftstellerin, New Yorkerin aus Minnesota, anders als die reale Hustvedt vorzustellen. Wie auch immer: Diese S. H. nimmt sich ihr altes Tagebuch von 1979 vor, das Jahr, in dem sie, 23 Jahre alt, nach New York zog, mit ein wenig Erspartem und dem Ziel, einen Roman zu schreiben. Nun entwickelt sich aus dem direkten Erleben der jungen S. H., dem forschenden Blick der gealterten S. H. und Hustvedts poetischer Art des Erzählens ein Strom von Erinnerungen an das, was damals geschah – Dramatisches, Lustiges, Banales – und ganz unmelancholisch davon, wie unser Leben zur Erzählung wird. Christine Ellinghaus
Damals, Siri Hustvedt, Rowohlt, 24 Euro
Bild: Rowohlt
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