Liebeskummer, Zukunftsangst, Grippe – wenn es anderen nicht gut geht, ist unsere Kolumnistin auch nachts um drei ansprechbar. Und darauf ist sie stolz, wenn sie nur nicht manchmal der Verdacht hätte, dass sie sich besser fühlt, wenn es anderen schlechter geht
Hast du ’ne Sekunde?“ fragt meine Freundin. Ich höre an ihrer Stimme, dass etwas Unangenehmes passiert sein muss. „Auch zwei“, erwidere ich und ertappe mich bei einem Gefühl, das sich überhaupt nicht mit meiner Selbsteinschätzung als guter Freundin deckt.
Es ist peinlich, es zuzugeben, aber es kribbelt ein bisschen. Ärger mit dem Ehemann? Tochter durch die Prüfung gerasselt? Und während sie vom Ladendiebstahl ihres 16-Jährigen erzählt, und ich die erwarteten Betroffenheitslaute „Gibt’s doch nicht! Ich hab’ einen guten Anwalt“ von mir gebe, ist es etwa ein Hauch Schadenfreude, den ich fühle?
Ehrlich, es ist dicht dran, denn mein Sohn hat in der Pubertät auch keinen Bockmist ausgelassen und frei nach Wilhelm Busch: „Gehabte Schmerzen, die hab’ ich gern“, kann ich jetzt meine Freundin trösten. In diesem Fall besonders gut, denn ich erinnere mich durchaus an meinen eigenen Ladendiebstahl vor über 30 Jahren.
Als sie auflegt, bedankt sie sich: „Ich bin so froh, dass du immer für mich da bist. Du bist echt ’ne Gute.“ Ich bin unsicher, ob ich dieses Lob verdient habe. Klar bin ich zur Stelle, wenn eine Freundin nachts um drei mit Liebeskummer anruft, wenn eine arbeitslos oder krank ist. Ich finde das selbstverständlich.
Ich werde nie vergessen, wie ich einmal miterlebt habe, wie eine Kollegin in der Sekunde, in der die Tinte auf ihrer Scheidungsurkunde noch trocknete, von allen Verteilern gestrichen wurde. Auch von denen ihrer „Freundinnen“. Der Ex hatte nämlich Beziehungen, Geld und eine Finca auf Ibiza. Ich gehörte zum winzigen Kreis der Getreuen, die sie auch in ihrem Reihenmittelhaus besuchten.
Freundschaft ist ein Zustand, der besteht, wenn jeder Freund glaubt, dem anderen gegenüber eine leichte Überlegenheit zu haben.
Honoré de Balzac, französischer DichterTweet
Ja, ich bin eine Aushalterin, das ist für mich normal. Ich komme mit zum Scheidungsanwalt, zum Onkologen, ich kenne mich auf dem Ohlsdorfer Friedhof inzwischen sehr gut aus. Großzügigkeit ist eben viel leichter als Dankbarkeit.
Oder gilt die Journalistenregel, nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten, etwa auch für mein Privatleben? Bin ich eine Schlechtwetterfreundin? Eine, die sich besser fühlt, wenn es anderen schlechter geht? Freundschaften sind ja wie ein Kaleidoskop, je nachdem, wie man sie schüttelt, ergibt sich ein anderes Bild, mal ist der eine oben, mal der andere. Und oben fühlt sich natürlich besser an als unten.
Wie kürzlich, als mein Leben gerade etwas grau war und eine andere Freundin, frisch verliebt, mir von ihrem Buchvorschuss erzählte, der sechsstellig war. Freute ich mich mit ihr? Ganz ehrlich – mein „Mensch, toll, das hast du auch verdient“, fühlte sich etwas verhalten an. Weil im Vergleich mein Leben auf einmal noch etwas grauer war. Wie sagt es der französische Dichter Honoré de Balzac so treffend? „Freundschaft ist ein Zustand, der besteht, wenn jeder Freund glaubt, dem anderen gegenüber eine leichte Überlegenheit zu haben.“ Offenbar alles in Ordnung mit mir. Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...