Vor einer Woche hat sie verkündet, dass sie ihr Projekt "Stark und alleinerziehend“ einstellen wird. Ihr gleichnamiges Buch erscheint nach nur einem Jahr in der 3. Auflage und mehr als 14.000 Follower lesen und hören, was sie zu sagen hat
Mit ihrem Projekt hat Dr. Alexandra Widmer etwas getan, das unter Therapeuten eher ungewöhnlich ist: Sie hat ihre persönliche Geschichte mit therapeutischen Elementen verbunden. Es war die Grundlage ihres Erfolgs. Nun hat sie sich von "Stark und alleinerziehend" verabschiedet. Viele ihrer Fans reagierten mit Verständnis, aber einige auch mit Trauer und Wut.
Wir haben mit ihr über ihre Gründe gesprochen.
EMOTION: Frau Dr. Widmer, da haben Sie ja eine ziemlich Bombe platzen lassen. Wir haben sich die letzten Tage angefühlt?
Frau Dr. Alexandra Widmer: Es war sehr emotional. Als ich die Nachricht veröffentlicht habe, habe ich erstmal etwas geweint. Aber ich bin auch erleichtert. Und die Reaktionen sind nicht ganz so schlimm, wie ich es erwartet habe. Viele Nachrichten sind sehr warm und verständnisvoll.
Und andere?
Sind sauer: "Preis gewonnen und dann verschwinden. Was für ein Vorbild!"
Damit ist der EMOTION.award gemeint. Sie haben ihn Ende Juni in der Kategorie "Soziale Werte" gewonnen. Und einen Monat später machen Sie Schluss. Gibt es da einen Zusammenhang?
Ich habe mich so unglaublich über den Award gefreut. Und ich meine das, was ich in der Rede gesagt habe aus tiefstem Herzen: "Ich nehme den Award stellvertretend für alle alleinerziehenden Eltern an." Aber ja, der Award hat schlussendlich dazu beigetragen, aber ist nicht der einzige Grund für meine Entscheidung.
Sondern? Fangen Sie einfach vorne an.
Ich habe dieses Projekt 2014 gestartet und habe schnell die Arbeitszeit in meinem Beruf von fünf auf vier Tage reduziert. Das habe ich sehr bewusst gemacht. Ich habe auch bewusst auf viel Geld verzichtet, was mir und meinen Kindern dann fehlte. Da waren also 25 Wochenstunden Arbeit, die Site, der Podcast und zwei Kinder. Nebenher habe ich das Buch "Stark und alleinerziehend" geschrieben. Alles mit viel Herzblut: Ich wusste, die therapeutische, emotionale Versorgung für diese Elterngruppe ist katastrophal, da muss man was machen.
Aber?
Aber für das Buch sind circa 900 Arbeitsstunden draufgegangen, für die Website mindestens 3000. Und das unbezahlt. Ich habe auch investiert, habe Geld in die Website und in Fortbildungen gesteckt. Ich habe mir alles, aber auch alles selbst beigebracht. HTML, Wordpress, das Schreiben, Podcasten, wie man Facebook gezielt einsetzt. Ich hatte da nie Hilfe. Aber am Ende habe ich mit Glück vielleicht Break-Even geschafft. Ich glaube eher, es ist eine Minusrechnung. Ich wollte nie reich werden mit diesem Projekt. Doch ich musste erkennen: Das steht alles in keinem Verhältnis.
Ist es auch einfach zu viel geworden?
Nicht zu viel, sondern so unausgewogen! Ich habe so viel Wert gestiftet mit diesem Projekt. Aber es kommt einfach zu wenig zurück. Ich werde zu Vorträgen eingeladen und mir werden 300 Euro für Reise und Unterkunft angeboten. Mit meinen Qualifikationen könnte ich für berufliche Vorträge 2.000 Euro nehmen. Das geht so einfach nicht. Und dann kam der Award: Seitdem erreichen mich jeden Tag 50 Emails, in denen ich Expertise abgegeben oder Alleinerziehende vermitteln soll. Ntv, RTLII, Zeitschriften, Zeitungen. "Könnten Sie nicht mal, könnten Sie mal eben..." Und alles unentgeltlich. Das hält sich nicht mehr die Waage.
Soziales Engagement wird einfach zu wenig wertgeschätzt.
Dr. Alexandra WidmerTweet
Ihnen fehlt die Wertschätzung. Ich könnte mir vorstellen, dass rein moralisch jede Menge Wertschätzung da ist?
Dank und Lob gab es immer. Ich könnte baden in verbaler Wertschätzung. Aber davon können sich meine Töchter auch nichts kaufen. Und wenn ich merke, dass ich keine Lust mehr habe, meine Mails zu lesen, dann muss ich daran denken, was ich meinen Patienten raten würde. Innehalten und Stopp! Es reicht. Ich bin kein Samariter. Das mag hart klingen, aber soziales Engagement wird einfach zu wenig wertgeschätzt. Das nervt.
Wenn es dir gut geht, geht es deinen Kindern gut.
Dr. Alexandra WidmerTweet
Jetzt kommen sicher einige und sagen: Na, dann nehmen Sie doch Geld dafür. Einige haben sogar schon private Spenden angeboten, damit Sie weitermachen.
Ja, ich hätte Werbung schalten können, Kurse entwickeln, das Ganze vermarkten. Aber das war nie mein Anliegen. Ich wollte Hilfe zur Selbsthilfe bieten und habe das mit voller Überzeugung getan. Das Projekt ist nicht, war nie mein Job. Zuallererst bin ich Mutter und Ärztin. Und ich predige allen: "Wenn es dir gut geht, geht es deinen Kindern gut." Und das muss ich auch beherzigen.
Wie alt sind Ihre Kinder jetzt?
Mein Töchter sind sechs und acht. Die Jüngere kommt jetzt in die Schule. Ich arbeite wirklich viel und das Projekt hat viel Zeit verschlungen. Es ist mir wichtig, für die beiden da zu sein. Ich will, dass sie gut zurecht kommen.
Vielen scheint nicht klar zu sein, dass Sie "Stark und alleinerziehend" sozusagen nebenher bewerkstelligt haben. Was machen Sie hauptberuflich?
Ich bin Neurologin und Psychotherapeutin. Seit einem Jahr bin ich Teil der weltweit führenden Arbeitsgruppe in der Entwicklung von hochwertigen, wirksamen, digitalen Therapieunterstützungen. Es gibt jetzt viele Apps und Angebote auf dem Gebiet Coaching und Therapie. Aber unser Produkt "Deprexis" ist das einzige, das auf evidence-based medicine beruht, d.h. wissenschaftlich fundiert und bewiesen wirksam ist.
Das klingt nach sehr anspruchsvoller Arbeit...
Die neuesten Zahlen der WHO besagen, dass 4,1 Millionen Menschen in Deutschland gerade eine Depression haben. 4,6 Millionen leben mit einer Angststörung. Aber von all denen sind – halten Sie sich fest – 4 Prozent aller psychisch Erkrankten in Deutschland in psychotherapeutischer Behandlung.
Mit meinem Einsatz für "Stark und alleinerziehend" habe ich gesehen, dass ein riesiger Bedarf an fundierter Hilfe besteht. Einen Bedarf den ich als Ärztin und Psychotherapeutin auf dem klassischen, analogen Weg für so viele Menschen nicht befriedigen kann. Das Internet kann die psychotherapeutische Behandlung in der Praxis oder Klinik ergänzen und die Versorgung psychisch kranker Menschen verbessern.
Und trotzdem fühlen sich die Leute von Ihnen im Stich gelassen. Jemand schrieb auf ihrer Seite: "Ich finde deine Entscheidung unakzeptabel und verantwortungslos".
Ich habe immer gesagt, ich bin als allererstes Ärztin und Therapeutin. Ich will Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Ich habe immer Eigenverantwortlichkeit gepredigt. Ich weiß, in einer akuten Krisensituation ist das erstmal so gut wie unmöglich. Aber Menschen müssen für sich selbst sorgen, auch in der Krise. Man kann nicht darauf warten, dass jemand an der Haustür klingelt und dich rettet. Aber genau das ist passiert: Leute haben mein Buch, meine Seite gelesen und entschieden: Die rettet uns! Da muss ich als Therapeutin ganz klar sagen: Stopp! Diese Verantwortung liegt nicht bei mir.
Ich bin nicht die Ikone aller Alleinerziehenden. Und viel wichtiger: Ich will sie nicht sein.
Dr. Alexandra WidmerTweet
Aber Sie sind sich im Klaren darüber, dass Sie zum Gesicht der Causa Alleinerziehende geworden sind, oder?
Ja, zu sehr. Dabei braucht es viele Menschen die sich einsetzen. Ich bin nicht die Ikone aller Alleinerziehenden. Und viel wichtiger: Ich will sie nicht sein. Ich habe immer gesagt: "Leute engagiert Euch, tut was." Aber bis auf eine Handvoll tut natürlich keiner was. Ich habe eine Nachricht bekommen: "Du kannst doch jetzt nicht aufhören, wo der Unterhaltsvorschuss nicht durch ist!" Was habe ich denn mit dem Unterhaltsvorschuss zu tun? Ich bin keine Politikerin. Ich gebe dir Strategien und Rollenmodelle an die Hand und habe die Alleinerziehenden vernetzt.
In Ihrem Abschiedspost haben Sie geschrieben, Sie sähen die Welt durch eine andere Brille. Was ist damit gemeint?
Ich definiere mich nicht über meinen Beziehungsstatus. Ich bin nicht in erster Linie "alleinerziehend". Aus hypnotherapeutischer Sicht ist dieses Wort auch fatal, denn es suggeriert ein Gefühl von Alleinsein. Wörter schaffen Realität. Ich habe versucht, dem Thema einen anderen Titel zu geben, auch der URL und dem Buch. Aber der Begriff ist einfach zu stark etabliert. Ich musste ja auch sicherstellen, dass die betroffenen Mütter und Väter mich finden. Aber wer immer von sich selbst als alleinerziehend spricht, ist zwangsläufig irgendwann allein. Viele gehen völlig in diesem Begriff auf. Die laufen mit einer Brille durch die Welt, in der ihr Beziehungsstatus alles definiert. Da ich alleinerziehend bin, ist mein Leben vorgezeichnet. "Ich bin Single, weil ich alleinerziehend bin, und so weiter." So denke ich nicht und nutze eine andere Brille. Ich bin Mutter, Frau, Ärztin, Therapeutin.
Das klingt doch wie ein Triumph. Sie sind raus aus der Not und der Wut, die einmal der Anstoß zu dem Projekt waren.
Triumph, ich weiß nicht. Gewonnen habe ich, weil es früher nichts gab, um dieser Elterngruppe zu helfen und jetzt gibt es "Stark und Alleinerziehend", mit fundiertem Fachwissen und Hilfe zur Selbsthilfe.
"Stark und alleinerziehend: Wie du der Erschöpfung entkommst und mutig neue Wege gehst" von Dr. Alexandra Widmer, Kösel Verlag, 19,99 Euro
Haben Sie das Gefühl, dass Sie alles erreicht haben, was Sie erreichen konnten und jetzt möchten Sie den Staffelstab abgeben?
Nein. Es gibt noch so viel zu tun! Ich habe den Stein ins Rollen gebracht, aber jetzt kann gern jemand anderes weitermachen. Ich will das nicht mehr auf meinen Schultern tragen. Ich sehe so viele völlig erschöpfte Menschen in meiner Praxis. Ich werde keine von denen sein.
Es gab den schönen Kommentar auf Ihrer Seite: "Mit Deiner Entscheidung lebst Du Dein Buch. Es konnte gar nicht anders enden. Ich habe großen Respekt vor Deinem Einsatz uns jetzt auch Deiner Konsequenz."
Das ist schön. Ich stehe auch hundertprozentig hinter meiner Entscheidung. Sie macht mich frei. Aber ich möchte auch gerne jemanden finden, dem ich das Projekt übergeben kann, der es in meinem Sinne weiterführt.
Gibt es da Kandidaten?
Mir fällt momentan nur eine wirklich gute Lösung ein. Aber das ist noch nicht spruchreif.
Was wünschen Sie sich für "Stark und alleinerziehend"?
Sie soll weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Wirklich praktische Ansätze, im Umgang mit dem Ex, im Umgang mit Gefühlen. Die Seite soll weiter Alleinerziehende vernetzen. Und es wäre so schön, wenn jemand den Podcast übernimmt. Frauen haben mir erzählt, dass sie abends zu meiner Stimme einschlafen. Mit meiner Stimme habe ich Leuten gezeigt, dass sie nicht allein sind. Das sollte es weiter geben.
Und Sie? Wie wird es für Frau Dr. Alexandra Widmer weitergehen?
Ach, erst einmal kümmere ich mich um mich und meine Kinder. Ich habe mich zum Alsterlauf angemeldet und gehe viel laufen. Nach der Einschulung meiner Jüngsten denke ich, werde ich jeden Tag wieder bei GAIA an Deprexis arbeiten. Und dann... fällt mir schon was ein. Momentan fühlt es sich einfach gut und richtig an, mal nichts zu müssen.