Wir stecken immer noch in veralteten Rollenklischees fest – nicht zuletzt, weil sie häufig noch so gut funktionieren und im gesellschaftlichen System ankommt: Frauen machen das eh, also müssen wir nichts ändern. Wie falsch diese Annahme ist und warum wir unserer Wut Luft machen sollten, erzählt Autorin Mareike Fallwickl in ihrem neuen Roman und bei uns im Interview.
Mit ihren Büchern greift die österreichische Schriftstellerin Mareike Fallwickl immer wieder Themen auf, die unter die Haut gehen. Ihr Debüt "Dunkelgrün fast schwarz" dreht sich um toxische Freundschaft, "Das Licht ist hier viel heller" handelt von sexualisierter Gewalt vor dem Hintergrund von #MeToo. Jetzt hat die Pandemie die 38-jährige zweifache Mutter zu "Die Wut, die bleibt" inspiriert, ihren neuen Roman, der sich um die Erschöpfung der Frauen dreht, um Rollen- und Körperbilder und um: weibliche Wut.
EMOTION: Mareike, dein Buch beginnt tragisch: Helene, 39, Mutter von zwei kleinen Söhnen und einer Teenagertochter, nimmt sich das Leben. Ein drastischer Auftakt. Warum?
Mareike Fallwickl: Im tiefsten Lockdown habe ich von Freundinnen, die Mütter sind, täglich Nachrichten bekommen: "Ich kann nicht mehr, ich spring bald vom Balkon." Das war zum Glück nur hypothetisch. Aber ich habe mich gefragt: Was ist, wenn eine das wirklich macht? Ich war regelrecht elektrisiert von der Idee, das literarisch umzusetzen, und als ich die ersten Zeilen aufgeschrieben hatte, habe ich gemerkt, das Thema ist mir viel wichtiger als das, woran ich gerade arbeite
Was hat dich so wütend gemacht?
In vielen Familien war und ist es so, dass die Männer morgens die Tür zum Arbeitszimmer zumachen und mittags ein warmes Essen erwarten, während ihre Frau drei Kinder im Homeschooling betreut, den Haushalt macht und selbst arbeiten muss. In Österreich waren 85 Prozent der Corona-Arbeitslosen Frauen. Familien und Frauen standen bei den Prioritäten für Hilfsmaßnahmen ganz hinten. Aber in die "Die Wut, die bleibt" geht es nicht um die Pandemie, die ist nur das Brennglas für diese Fehler im System, durch die so viele Frauen auf der Strecke bleiben.
Auf diese Systemfehler reagieren deine Hauptfiguren sehr unterschiedlich. Du lässt im Wechsel Lola, 15, und Sarah, 39, erzählen, die eine Helenes Tochter, die andere ihre beste Freundin, statt Helenes Geschichte aufzurollen. Warum?
Ich fand es interessant, von der Überlastung der Mütter durch die Augen von zwei Frauen zu erzählen, die gar keine Kinder haben. Ich wollte zeigen, wie Helene fehlt: emotional, als Mutter an sich, als Liebende, als Freundin. Aber auch in ihrer Funktion. Ohne sie klafft eine versorgungstechnische Lücke auf…
… in die Sarah für Helene einspringt.
Sarah steht für die Frauen meiner Generation, die auf das Kümmern geprägt sind, das Aufopfern, das uns angeblich als nährende Wesen im Blut liegt. Das Märchen vom Mütterlichen. Du kriegst das Kind an die Brust gelegt und auf der Stelle hast du eine göttliche Eingebung und weißt, was zu tun ist! Das Weibliche verbinden wir mit Familie, das Männliche mit Arbeit, Erfolg, Finanzen. Man weiß zum Beispiel, wenn Mütter aus Osteuropa ins Ausland gehen, um dort bezahlte Fürsorgearbeit zu leisten, etwa in der Pflege, wird zu Hause die Lücke von Großmüttern, Tanten, Schwestern gefüllt, nicht von den Vätern. Auch Sarah kennt den Alltag mit diesen Kindern nicht richtig. Trotzdem finden wir es total normal, dass sie einspringt. Ich wollte aber auch noch etwas anderes durch die Augen einer kinderlosen Frau erzählen...
Das Märchen vom Mütterlichen. Du kriegst das Kind an die Brust gelegt und auf der Stelle hast du eine göttliche Eingebung und weißt, was zu tun ist!
Mareike FallwicklTweet
Nämlich?
Dass Elternschaft radikale Pausenlosigkeit bedeutet, wie die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach es so treffend formuliert hat. Sarah erlebt auch körperlich, wie sehr sie gebraucht wird, wie alle an ihr kleben, so dass sie keinen Schritt tun kann. Das ist sie nicht gewöhnt; es sind nicht ihre Kinder, sie ist da nicht mit ihnen hineingewachsen. Gleichzeitig steht sie für die Generation von Frauen, die es sich im Patriarchat gemütlich gemacht haben.
Wie meinst du das?
Sie gehört zu den Frauen, die aufbegehren, aber nicht zu viel. Sie ist als Schriftstellerin erfolgreich, fühlt sich wohl in ihrer Position und findet, mehr als das können wir nicht verlangen. Und sie versteht lange nicht, dass es sehr viel in der Lebenswelt von Frauen gibt, was sie anzuprangern hätte, dass Wut durchaus berechtigt ist.
Ist sie dafür zu sehr in ihren eigenen Problemen verfangen? Sie hadert mit ihrer Beziehung, mit der Frage, ob sie sich ein Kind wünscht, mit dem Älterwerden, mit ihrer Figur – mit Rollenbildern und Schönheitsidealen, die die meisten von uns verinnerlicht haben.
Das entschuldigt nicht alles, aber spielt mit rein. Sie hat ja zum Beispiel oft Heißhunger, weil sie sich viel verbietet. Ich kenne Frauen, die essen heimlich eine Packung Kekse und verstecken den Müll vor ihrem Mann. Vor kurzem habe ich "Exactly" gehört, den Podcast von Florence Given, den ich sehr empfehlen kann. Da hieß es, wenn sich drei, vier Frauen treffen, sprechen sie unweigerlich über Essen: "Ich lasse im Moment Weizen weg", "seit ich mich glutenfrei ernähre…", "ich ess nur Dienstag und Freitag" – also diese ganzen Verrücktheiten, die Männer nie im Leben machen würden. So was zieht wahnsinnig viel Kraft ab, im wahrsten Sinn des Wortes: Wenn du permanent Hunger hast, kannst du keine Revolution anzetteln.
Du stellst Sarah mit Lola eine neue Generation gegenüber, die sehr sensibilisiert für Ungerechtigkeiten ist, von Geschlechterstereotypen bis zu Bodyshaming. Sie scheint auch die Strukturen, die zum Tod ihrer Mutter beigetragen haben, besser zu erkennen als Sarah.
Ja, Lola entwickelt sehr schnell eine große Wut und radikalisiert sich. Mit meinen ersten beiden Büchern war ich oft zu Lesungen an Schulen. Da habe ich gemerkt, wie gut diese jungen Frauen informiert und vernetzt sind. Ich bin 20 Jahre älter, aber die sind auf demselben Wissensstand wie ich, weil sie mit dem Internet aufgewachsen sind. Und sie klingen zum Teil radikal, was ich absolut nachvollziehen kann.
Wenn du permanent Hunger hast, kannst du keine Revolution anzetteln.
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Hast du ein Beispiel?
Einige haben gesagt: "Wenn die Gesellschaft so bleibt, wie sie jetzt ist, dann bekommen wir keine Kinder. Punkt." Meine Generation weiß dagegen nicht, wohin mit der Wut, weil wir gelernt haben, dass wir sie nicht empfinden dürfen. Irgendwann richtet sich das nach innen und wird wie bei Sarah und Helene zu Selbstabwertung und einer selbstzerstörerischen Aufopferung.
Wer nicht aufbegehrt, zerstört sich selbst?
Ich weiß es nicht. Aber ich sehe viele Frauen in der Frustfalle. Ich lebe auf dem Land, um uns herum gibt es nur die klassische Rollenverteilung. Viele der Frauen sind bestens ausgebildet und nach der Schwangerschaft verschwinden sie in diesem Radius von Kindern, Küche, Kita. Der Frust ist riesig. Die Wut ist groß. Sie bekommen kaum noch Luft – und machen trotzdem weiter. Und im gesellschaftlichen System kommt an: Die machen das eh, also muss man ja nichts ändern.
Im gesellschaftlichen System kommt an: Frauen machen das eh, also muss man ja nichts ändern.
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Siehst du das auch als die Haltung der Männer? Im Buch sind sie eher Totalausfälle und keine Verbündeten, keine Allies, mit denen man was bewegen kann.
Sie sind bequem, aber keine Bösewichte. Ich würde es auch genießen, wenn die Frauen es mir so gemütlich machen würden. Wer sagt denn schon freiwillig: "Ich möchte bitte zusätzlich zu meiner Erwerbstätigkeit noch alle anderen Dinge erledigen." Die Männer bieten es nicht von sich aus an. Und viele Frauen fordern es nicht ein.
Wie macht ihr das zu Hause?
Wir teilen uns alles fifty-fifty. Einer von uns verlässt das Haus für die Erwerbsarbeit, der andere bleibt zuhause und erledigt die gesamte Care-Arbeit. Am nächsten Tag tauschen wir.
Autorin Mareike Fallwickl lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. Ihr Mann und sie kümmern sich fifty-fifty um die Kinder und den Haushalt. Auf Instagram findet ihr sie als @the_zuckergoscherl, dort setzt sie sich dafür ein, Literatur von Frauen bekannt zu machen.
Lola begehrt gegen die ungerechten Strukturen auf und entlädt ihre Wut in Gewalt. Das ist sehr radikal.
Ich wollte Frauen zeigen, die sich wehren, die für sich einstehen, die Raum einnehmen. Für mich hat sich die Frage gestellt: Wenn wir sagen, wir müssen erst etwas einreißen, wenn wir etwas Neues aufbauen wollen und dafür brauchen wir als destruktive Kraft auch Wut – wo ist die Grenze? Kann man Gewalt als "verspätete Notwehr" verstehen, oder ist sie schlicht eben genau das: Gewalt? Das wollte ich ausloten. Genauso wie den Clash der Generationen im Feminismus. Meine Generation erträgt es schwer, dass die Jüngeren sie belehren wollen. Die fordern aber zu Recht: Educate yourself – es ist euer Job, euch schlauzumachen, hört auf zu bremsen!
Da treffen junge kämpferische Frauen auf eine erschöpfte Generation von Frauen. Können sie zusammenfinden?
Der erste Schritt ist, zu erkennen, was los ist. Den Schleier abzulegen, nicht mehr durch den patriarchalen Filter zu schauen. Ich glaube, in dem Moment, wo man Diskriminierung sieht, kann man sie nicht mehr nicht sehen. In dem Moment, wo du aufmerksam dafür wirst, hast du wöchentlich hundert Aha-Momente, was alles massiv unfair ist. Es gibt keinen einzigen Bereich, in dem der weiße hetero cis Mann nicht die Norm ist. Die jungen Menschen wissen das. Frauen meiner Generation wehren sich eher dagegen, denn es ist einfacher zu glauben, dass alles gut ist. Da greift das Just-World-Syndrom – man denkt: So schlimm kann es doch gar nicht sein, denn wenn das wahr wäre, wären wir ja wirklich in einer beschissenen Situation! Tja, nun.
Ist das wie beim Thema Klima: Die Fridays-for-Future-Generation muss den Karren aus dem Dreck ziehen, weil wir versagt haben? Was wirfst du deiner Generation und den Boomern meiner Generation vor?
Diese Gemütlichkeit, dieses Sich-Ausruhen. Wir glauben zu gern an die schöne Systemlüge: Wir haben ja eh schon alles erreicht und mehr geht halt nicht. Wir haben lange nicht erkannt, dass dieses vermeintliche Mehr an Gleichberechtigung nur bedeutet, dass Frauen jetzt Zugang zu Bildung und Erwerbstätigkeit haben, während alle anderen Aufgaben gleich geblieben sind. Wir sind doppelt und dreifach belastet. Und ich glaube: Die Pandemie war ein Augenöffner.
Ich wünsche mir radikale Ehrlichkeit und Zusammenhalt.
Mareike FallwicklTweet
Was muss sich ändern?
Ich wünsche mir radikale Ehrlichkeit und Zusammenhalt. Ich will, dass Frauen die Wahrheit sagen, dass Mütter die Wahrheit sagen. Ich wünsche mir, dass in der Gesellschaft ein Raum eröffnet wird, die Möglichkeit, auszudrücken: Ich bin überfordert. Wenn wir dahinkommen, sind wir nicht mehr einsam. Dass wir für uns einstehen müssen, ist eine Erkenntnis, die für meine Generation spät kommt, aber sie kommt, während die Jüngeren mit neuem Schwung und besser informiert schon bereit sind. Wenn wir uns darauf besinnen, was uns verbindet, und zusammenarbeiten, dann können wir was verändern.
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