Stress entsteht, wenn ich auf Dauer anders handeln muss, als ich will. Wer seine wahren Handlungsmotive kennt, kann sich besser vor Burn-out schützen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Ball und steckten in einer eckigen Kiste, die etwas zu klein für Sie ist. Weil Sie aus weichem Material sind, passen Sie zwar hinein, aber nur, weil Sie Ihre runde Form der eckigen Verpackung angepasst haben. Das Ballartige an Ihnen kann sich nicht ausdehnen, das Bedürfnis, es zu tun, jedoch bleibt. Kaum wäre die Kiste weg, würden Sie als Ball herumhüpfen. In der Physik nennt man die Eigenschaft eines Stoffes, seine Form unter Krafteinwirkung zu verändern, Elastizität. In der Psychologie untersucht man die Elastizitätsfähigkeit eines Menschen und versucht zu erkennen, was passiert, wenn er diese überstrapaziert.
Das Wesen eines Menschen erkennen
Coaching macht diese Erkenntnisse der Psychologie für den Alltag nutzbar. Die meisten Menschen suchen Unterstützung bei einem Coach, wenn sie das Gefühl haben, ihre angepasste Form nicht länger halten zu können. Ihre eigentliche Form, in der sie sich deutlich wohler fühlen würden, kennen dabei jedoch die wenigsten. Mit Fragen und Gedankenspielen wie diesen versucht man im Coaching daher, den Wesenskern eines Menschen herauszukitzeln: Womit könnten Sie Stunden verbringen, ohne zu ermüden? Was strengt Sie mehr an: nichts tun zu dürfen oder zuvielzutunzuhaben? Wie würden Sie Ihr Leben weiterleben, wenn Sie kein Geld mehr verdienen müssten? Aber auch: Was müsste passieren, damit es Ihnen ganz schnell noch viel schlechter geht?
Was motiviert - was erschöpft
Die Antworten zeigen, was den Menschen motiviert und was ihn erschöpft. Und das ist höchst individuell. Ebenso individuell wie das Burnout. Längst nicht jeder brennt aufgrund von zu viel Arbeit aus. Und nicht selten kommt jemand ins Coaching und glaubt, er müsse lernen, sein Zeitmanagement zu verbessern, damit es ihm wieder besser geht, erkennt dann aber: Die hohe Arbeitslast ist gar nicht das Problem, sondern der Chef, der mir ewig reinredet und mich kontrolliert. Oder der fehlende Status. Oder die fehlende Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit. Ein Burnoutgefährdeter Mensch ist immer ein demotivierter. Erst wenn klar ist, warum er sich seit Längerem müde und kraftlos fühlt, wird ersichtlich, wie der Weg heraus aussehen könnte.
Die Motivstruktur-Analyse (kurz: MSA)
Ein Instrument, das helfen kann, diese Klarheit zu gewinnen, ist die sogenannte Motivstruktur-Analyse (kurz: MSA). Sie beruht auf der Motivationsforschung der letzten 15 Jahre und wird vor allem in der Persönlichkeitsentwicklung sowie im Coaching eingesetzt. Nach der Motivstruktur-Analyse machen 18 Grundmotive den Kern unserer Persönlichkeit aus, und ein Mensch ist dann Burnoutgefährdet, wenn er diese nicht ausleben kann. Denn die Grundmotive bestimmen, wie wir uns fühlen, wie wir denken und handeln.
Das Entscheidende dabei ist: Zwar verfügen wir alle über die gleichen Motive, aber sie sind individuell unterschiedlich ausgeprägt. Unsere persönliche Motivstruktur ist deshalb so einzigartig wie unser Fingerabdruck. Sie gibt vor, wie wir idealerweise leben wollen – und auch sollten. Bei einem motiv- und wertebasierten Coaching kann es deshalb auch keine allgemeingültigen Anti-Burnout-Strategien geben.
Doch von welchen Motiven sprechen wir? Sie heißen: Wissen, Prinzipientreue, Macht, Ordnung, Anerkennung, Fürsorge, Risiko, Freiheit, Status, Beziehung, Familie, Wettkampf, Idealismus, Spiritualität, Essen, materielle Sicherheit, Sinnlichkeit und körperliche Aktivität. Jedes Motiv hat dabei zwei Pole. Nehmen wir zum Beispiel das Motiv "Macht": Jemand mit dem stark ausgeprägten Antrieb zu führen, hat immer auch einen verbleibenden Anteil in sich, der geführt werden will. Und häufig ergänzen sich Motive: Jemand mit einem hohen Wissensmotiv und niedrigem Ordnungsmotiv wird sich in einer Situation wohlfühlen, wo er den Dingen neugierig auf den Grund gehen kann. Dass er dabei in Papierbergen versinkt, stört ihn kein bisschen, eher fühlt er sich vom kreativen Chaos angeregt. Jemand mit einem niedrigen Antrieb, Wissen anzusammeln, fühlt sich wiederum in seinem Element, wenn er pragmatisch handeln kann, ohne Dinge groß zu hinterfragen. Ist sein Motiv "Ordnung" dazu hoch ausgeprägt, wird er dabei am liebsten planvoll und strukturiert vorgehen.
Das Verhältnis unserer Motive
Wie diese Motive zum Burnout führen können, zeigt sich, wenn der eine Motivtypus zum Vorgesetzten des anderen wird: Der ordnungsliebende Pragmatiker hätte als Chef wenig Verständnis dafür, dass sich der Wissbegierige erst tief in die Materie hineindenken will, bevor er handelt. Und würde ihn wegen der Unordnung auf dem Schreibtisch ohnehin für wenig kompetent halten. Um als erfolgreich zu gelten, muss sich der Wissbegierige also entsprechend verbiegen: Er gibt sich pragmatischer und sortierter, als er ist. Das wird dann zum Problem, wenn er seine Grundmotive auch jenseits des Jobs nicht ausagieren kann. Dann lebt er gewissermaßen an sich vorbei.
Obwohl psychologisch betrachtet keine Motivausprägung schlechter ist als die andere, kommt man mit einigen leichter durchs Leben. Denn die auf Leistung ausgerichtete Gesellschaft bietet eher Entfaltungsmöglichkeiten für jene mit hohem Streben nach Macht, Status und Wettkampf als für jene mit starken Grundbedürfnissen nach idealistischem Handeln oder mit ausgeprägter Familienorientierung.
Ideal-Selbst und eigentliches Selbst
Was die Sache noch komplizierter macht: Unsere impliziten Motive werden häufig überdeckt von Selbstbildern, die uns motivieren. Diese Vorstellungen von unserem "Ideal-Selbst" werden besonders früh geprägt, etwa von elterlichen Zuschreibungen wie: "Du wirst sicher mal eine große Künstlerin" oder "Du hast den Biss, ganz nach oben zu kommen". So kann es passieren, dass man eine Karriere anstrebt, die wie fürs Ideal-Selbst gemacht ist, aber mit dem unbewussten oder kaum reflektierten Real-Selbst wenig zu tun hat. Das kann sehr lange gut gehen, denn immerhin trägt einen die Unterstützung all jener mit, deren Erwartungen man damit erfüllt. Doch irgendwann stellt sich das Gefühl einer inneren Leere ein. Denn das, was man seit Jahren so eifrig betreibt, nährt nicht die eigenen Motive – und diesen knurrt mittlerweile mächtig der Magen: Sie hungern nach Situationen, in denen sie sich endlich entfalten dürfen. Es ist oft ziemlich mutig, dem Hunger dieser Motive dann auch tatsächlich nachzugehen und ihn nicht zu unterdrücken. Denn daraus könnte etwa ein Jobwechsel oder der Bruch mit einem Geschäftspartner resultieren. Und doch lohnt es sich. Seinen ureigensten Motivationen zu folgen ist die nachhaltigste Art, einem drohenden Burnout zu begegnen.
Was passiert bei einem Motiv-Coaching?
Zunächst wird, unterstützt durch einen umfangreichen Online-Test, herausgearbeitet, wie die ganz persönliche Motivstruktur des Klienten aussieht: Was motiviert ihn wirklich von innen heraus? Wo liegen seine stärksten Kraftquellen? Welche Fähigkeiten resultieren daraus? Dann geht es um den Abgleich mit seinem Alltag: Wo lebt er seine Motive – sei es das Streben nach Gemeinschaft oder nach Anerkennung – momentan befriedigend aus? Und wo nicht? Welche Konflikte mit anderen könnten daraus resultieren, dass diese gegenteilige Motive haben? Zuletzt entwickelt der Klient konkrete Maßnahmen, um in Zukunft besser entsprechend seiner Motivstruktur leben zu können, damit er zufriedener und weniger gestresst ist.
Motive, die bei einem Erschöpfungssyndrom häufig eine Rolle spielen
Anerkennung
Mangelnde Anerkennung eigener Leistungen und unangemessene Honorierung sind häufig Mitauslöser für Burnout. Sie vermindern bei vielen die Antriebskraft. Besonders gefährdet, darüber auszubrennen, sind jene, die ein hohes Anerkennungsmotiv haben und deshalb sehr viel Zeit in ihre Arbeit stecken. Für sie ist das Feedback der anderen gewissermaßen der Treibstoff. Ein gutes Gehalt und eine gute Position stellen langfristig keinen Ausgleich für sie dar, wenn sie sich in ihrem Tun nicht wahrgenommen fühlen und ihr Einsatz nicht als wertvoll begriffen wird. Besonders in Unternehmen, die ihren Mitarbeitern vermitteln: "Sie können froh sein, dass Sie hier arbeiten dürfen", und die darauf vertrauen, dass man Motivation mit finanzieller Entlohnung kaufen kann, ist die Frustrationsquote hoch.
Wissen
Als wissbegieriger Mensch in einem Umfeld zu arbeiten, in dem es heißt: "Frag nicht, mach einfach", kann auf Dauer sehr demotivierend sein. Besonders Menschen mit hoher Motivausprägung Richtung Neugier und Erforschung fehlt dabei die geistige Herausfoderung. Wer dies auch in seiner Freizeit nicht kompensieren kann, sondern im Gefühl lebt, immer nur nach Schema F funktionieren zu müssen, hat damit gewissermaßen eine Grundlage fürs Ausbrennen gelegt – selbst wenn es nicht das Arbeitspensum ist, das ihn stört.
Macht
Ja, es gibt auch Workaholics, die glücklich sind und nicht ausbrennen. Etwas leisten und gestalten zu können motiviert sie von innen heraus. Probleme bekommen sie aber dann, wenn bestimmte Umstände verhindern, dass sie Wirkmacht erleben. Wer entscheiden will und es nicht darf, wer gestalten möchte, aber keinen Raum dafür bekommt, entwickelt ein Gefühl der Ohnmacht. "Nichts zu tun erschöpft mich", sagte etwa Pablo Picasso, "wenn ich arbeite, entspanne ich mich." Genauso wird jemand unglücklich, der auf Dauer mehr Verantwortung trägt und mehr Mitarbeiter führt, als sein Machtmotiv verlangt. Muss er dazu nach Feierabend zu Hause noch große Entscheidungen treffen, fühlt er sich überstrapaziert und träumt davon, dass ihm endlich einer die Last von den Schultern nimmt. Mit einem kleineren Team und einer flacheren Hierarchie, in der es nicht als führungsschwach gilt, sich mit Kollegen zu beraten, ginge es ihm besser.
Status
Wer ein hohes Bedürfnis nach gesellschaftlichem Ansehen hat und dann degradiert wird, wer zu wichtigen Terminen nicht mehr eingeladen wird oder nicht mehr die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit genießt, leidet weit mehr darunter als jemand, für den Titel keinerlei Bedeutung haben. Nicht wenige Menschen, die in ihrem Job eigentlich kreuzunglücklich sind, kündigen nur deshalb nicht, weil ihr Statusmotiv sie hält. Das gute Bild, das sie nach außen vermitteln, hat für sie einen höheren Stellenwert als die innere Unzufriedenheit.
Wettkampf
Für einen Menschen mit einem geringen Wettkampfmotiv ist eine kompetitive Umgebung Gift. Er muss gegen andere antreten, mit denen er viel lieber harmonisch zusammenarbeiten würde. Während sich sein Gegenüber mit hohem Wettkampfmotiv ständig an ihm messen will, spürt er permanent den Druck, sich beweisen zu müssen, und hat nie das Gefühl, einfach mal er selbst sein zu können. Andersrum reagiert jemand, der nach der "Konkurrenz belebt das Geschäft"-Maxime lebt, vermutlich mit Frust, wenn er seinen Kampftrieb in einer auf Egalität ausgerichteten Firmenkultur nicht ausagieren darf.
Prinzipientreue
Bestimmte Werte sind für Sie unverhandelbar? Ihr Gewissen schaut Sie im Spiegel strafend an, wenn Sie an etwas beteiligt sind, das nicht Ihrem Sinn für Fairness entspricht? Dann haben Sie eine starke Kraft in sich. Doch sie kann das Leben für Sie auch unbequem machen, wenn Sie nie von ihr abweichen. In einem Umfeld, das Ihre Werte nicht teilt, stehen Sie womöglich als Moralapostel oder Bedenkenträger da. Diese Rolle ist auf Dauer stressig und kann entsprechend aufs Gemüt schlagen.
Ordnung und Risiko
Wer eine beständige Struktur braucht (Ordnungsmotiv) und unwägbare Herausforderungen (Risikomotiv) lieber vermeidet, hat es in der aktuellen Arbeitswelt besonders schwer. Ständig wechselnde Zielvorgaben und Umstrukturierungen bereiten so jemandem leicht schlaflose Nächte. Ein stabiles soziales Umfeld kann jedoch häufig davor schützen, sich von solchen anstrengenden Arbeitssituationen kleinkriegen zu lassen.