Alle sind getriggert, traumatisiert und haben toxische Ex-Partner:innen: Wie kommt's, dass immer mehr Begriffe aus der Psychologie Einzug in unseren Sprachgebrauch nehmen? Unsere Kollegin hat sich das Phänomen mal angeschaut und festgestellt: Das kann ganz schön negative Auswirkungen haben.
"Red Flag", denke ich, während ich auf Bumble jemanden nach links wische, der in seinem Profil angegeben hat, er sei "unpolitisch". Wie kann man in der heutigen Zeit unpolitisch sein? Das deutet doch schon auf einen toxischen Charakterzug hin. Wirklich? Plötzlich fühle ich mich ertappt und mir fällt auf, was ich alles als Red Flags bezeichne: Er hört nicht dieselbe Musik wie ich? Absolutes Warnzeichen! Er trinkt keinen Alkohol? Spaßbremse, nix für mich! "Du benutzt den Begriff ganz schön häufig", meinte ein Freund kürzlich zu mir.
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Stimmt. Begleitet werden die Red Flags dann häufig von Sätzen wie "Das ist total toxisch" oder "Das triggert mich". Über die letzten Jahre haben sich Begriffe, die eigentlich dafür da sind, um psychische Muster zu beschreiben, in meinen Sprachgebrauch (und den vieler anderer meiner Generation) geschlichen. Es ist eine Art Slang, den wir aus dem sarkastischen Galgenhumor des Internets übernommen haben und der mittlerweile im Alltag fest etabliert ist: Der Ex-Freund hat sich nicht wie ein Arschloch verhalten, sondern natürlich total toxisch. Dass die Person, die vorher auf Toilette war, den Klositz nicht runtergeklappt hat, nervt nicht, sondern triggert. Willkommen im Jahre 2023.
Ziel verfehlt
Nun könnte man meinen, dass diese neuartige Sprache dabei hilft, das Stigma um Mental Health zu bekämpfen. Nach dem Motto: Hey, endlich bekommen solche Begriffe eine Bühne und werden nicht mehr hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Ist doch super! Tja, tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Dadurch, dass wir psychologische Fachausdrücke wie "toxisch", "Trigger" oder "Trauma" immer inflationärer benutzen, wird ihnen die Schlagkraft genommen. Heutzutage ist alles und jede:r toxisch, von der Chefin, die einen mit Arbeit überhäuft, bis hin zur guten Freundin, die sich nie zurückmeldet.
Oft geht es um banale Themen, dabei sind diese Begriffe eigentlich dafür da, ernstzunehmende psychische Zusammenhänge zu beschreiben. Eine toxische Beziehung kann sogar an Missbrauch grenzen und besteht eben nicht nur daraus, dass der/die eine den/die andere:n manchmal anlügt. Trigger sind nicht einfach nur Dinge, die einen stören, sondern Reize, die Erinnerungen an traumatische Erfahrungen auslösen können. Und diese traumatischen Erfahrungen sind übrigens auch nicht einfach nur traurige Erlebnisse, sondern Ereignisse, die einen Menschen nachhaltig und ernsthaft psychisch schädigen können.
Sprache ist Macht
Die inflationäre Benutzung dieser Begriffe führt dazu, dass wir diese Verhaltensweisen (unterbewusst) verharmlosen, weil wir sie mit deutlich weniger gravierenden Problemen gleichsetzen. Das Ergebnis: Die psychischen Muster, die damit verbunden sind, werden nicht mehr so ernstgenommen und das Mental-Health-Stigma weitergeführt. Wie man so schön sagt: Sprache ist Macht und beeinflusst nun mal unser Denken.
Diese Entwicklung ist in gewisser Weise ironisch, denn eigentlich sind gerade wir jüngeren Generationen darum bemüht, unsere mentale Gesundheit in den Vordergrund zu stellen und psychische Krankheiten endlich als das zu behandeln, was sie sind: Krankheiten. Uns ist es wichtig, auf Verhalte wie toxische Beziehungen und Traumata aufmerksam zu machen, und das funktioniert natürlich am besten mit dem Werkzeug Sprache. Nur geht das spätestens dann nach hinten los, wenn wahllos mit diesen Begriffen um sich geworfen wird – wie es eben aktuell der Fall ist.
Höchste Zeit also, dass ich meinen Wortschatz mal ein wenig aufräume. Ich will schließlich niemanden triggern. Oder eher: niemandem zu nahe treten.
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