Ständig will irgendwer irgendwas von uns – wir reagieren und funktionieren. Wie kommen wir raus aus dem Gefühl des Getriebenseins? Neurobiologe Joachim Bauer plädiert für "liebevolle Impulskontrolle".
Professor Bauer, viele Menschen fühlen sich heute fremdgesteuert, selbst wenn sie erreicht haben, was sie sich vom Leben wünschen. Wie kommt das?
Immer mehr Menschen spüren, dass sie nicht mehr selbst den Takt angeben, der ihr Leben bestimmt. Sie fühlen sich getrieben von der allgemeinen Beschleunigung des Lebens und der Zunahme der Reize, vor allem aus der digitalen Welt. Von früh bis spät im Blick behalten zu müssen, was mir meine 250 oder noch mehr Freunde über die sozialen Netzwerke schicken, wird leicht zur Sucht. Bei vielen hat diese Sucht bereits die Macht über ihr Leben übernommen.
In Ihrem Buch plädieren Sie dafür, dass die Menschen den freien Willen wiederentdecken sollten. Wie kann das dabei helfen, Macht zurückzugewinnen?
Unser bewusster Wille kann uns helfen, aus dem Sofort-reagieren-Müssen herauszukommen, bei dem unsere Aufmerksamkeit ständig von einer Sache zur nächsten springt, wie ein rastloser Affe, der von Ast zu Ast hüpft. Er kann uns helfen innezuhalten, zu uns selbst zu finden, uns auf unsere wirklichen Bedürfnisse und Ziele zu besinnen.
Was unterscheidet Selbststeuerung von dem Rat, doch disziplinierter zu sein und sich besser unter Kontrolle zu haben?
Selbststeuerung bedeutet nicht genussfeindliche Askese, sondern liebevolle Selbstfürsorge. Es geht nicht darum, Emotionen zu unterdrücken. Selbststeuerung ist die Kunst, spontane Impulse und die Fähigkeit, sie zu kontrollieren, zu verbinden. Wir wissen heute, dass eine achtsame, sinngeleitete Haltung zum Leben Gene aktiviert, die das Risiko von Krankheiten vermindern.
Unsere innere Haltung hat also Einfluss auf unsere Gesundheit?
Ja. Studien zeigen, dass Menschen, die ihr Leben nur auf spontane Bedürfnisbefriedigung ausrichten und sich überwiegend von kurzfristigen Stimmungen leiten lassen, auf Dauer in ihrem Körper Gene anschalten, die Krebserkrankungen, chronische Entzündungen, Herzkrankheiten und Demenz begünstigen.
Das heißt, unsere Gene werden von unserem Verhalten beeinflusst?
Genau. Die Aktivität unserer Gene wird durch die Art, wie wir leben, übrigens auch durch unsere sozialen Erfahrungen beeinflusst. Zum guten Leben gehört aber auch, ausgelassen sein zu können und mal unkontrolliert über die Stränge zu schlagen. Vor allem in der Jugend gehört das dazu. Aber die Fähigkeit, nicht jedem Impuls sofort nachgehen zu müssen und auch mal auf etwas verzichten zu können, ist wichtig.
Gar nicht so leicht. Dauernd verlockt etwas – seien es neue Schuhe, das Eis in der Sonne oder ein Wochenendtrip.
Ständig nach irgendwelchen Vorschriften zu leben wäre furchtbar. Es geht nicht um Askese und nicht darum, dies oder jenes nicht zu tun – das Leben ist ohnehin schon voller Verbote. Mein Ansatz ist ein anderer: Spüren wir nicht, wie wir von unruhigen Impulsen ständig getrieben werden? Und kennen wir nicht eine heimliche Sehnsucht, da einmal rauszukommen? Lust auf Selbststeuerung, das ist mein Ansatz!
Wie kommt man aus dem Getrieben- Sein und der ständigen Hektik heraus?
Nicht dadurch, dass man rabiat gegen seine Impulse vorgeht, sondern sie liebevoll anschaut, einen Moment innehält und überlegt, ohne ihnen sofort nachzugeben. Spontane Impulse sind wie ein nervöses Hündchen, das – während wir gerade beschlossen haben, eine Rast einzulegen – ständig weglaufen will. Es macht wenig Sinn, das Hündchen anzuschreien oder ihm Angst einzujagen. Das Beste ist, es immer wieder sanft,aber konsequent zurückzuholen. Dann wird es sich irgendwann zu uns legen.
Der Trend geht heute, vor allem in der Arbeitswelt, zu immer mehr Leistung. Einer DAK-Studie zufolge dopen sich fast drei Millionen Deutsche mit Medikamenten, um den Druck besser auszuhalten. Verhindert nicht gerade der Stress das Innehalten?
Ja, Stress vermindert die Fähigkeit zur Selbststeuerung und erhöht die Tendenz, zu Suchtmitteln zu greifen. Fast alle, die arbeiten, oder zu Hause für andere sorgen, sogar Schulkinder erleben heute, dass ihnen unentwegt unter hohem Zeitdruck Leistungen abverlangt werden. Viele Menschen sind gehetzt und versuchen mit Multitasking gegenzusteuern. Das führt zu einer massiven Fehl- und Überbeanspruchung des präfrontalen Kortex ...
... unseres Stirnhirns, in dem die Möglichkeit zur Selbstkontrolle neuronal verankert ist.
Genau. Im Verlauf eines durch Zeitdruck und Stress geprägten Tages kommt die Selbststeuerungskraft an ihre Grenzen. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister hat das "Erschöpfung des Ichs" genannt. Wenn dann am Abend der Druck nachlässt, haben wir nur noch den Wunsch etwas zu tun, was uns keine geistige Anstrengung mehr abverlangt. Der präfrontale Kortex ist abgeschaltet und unser Reptiliengehirn übernimmt das Kommando ...
... also der Teil des Gehirns, der für unsere triebe zuständig ist, dem es darum geht für gute Gefühle zu sorgen?
Ja. Wenn unser Ich völlig erschöpft ist, haben wir für gute Selbstfürsorge keine Kraft mehr, sondern wollen nur noch eines: schnell dem Stress entkommen. Um uns abzulenken, landen wir in einer solchen Situation vor irgendeinem Bildschirm. Oder wir greifen zu Dingen, die uns einen kurzen, schnellen Energieschub versprechen, selbst wenn wir ahnen, dass uns das nicht wirklich hilft.
Was hält uns davon ab, das "Richtige" zu tun?
Oft nehmen wir Schokolade, Zigaretten oder ein Glas Wein, um runterzukommen, obwohl den meisten von uns klar ist, dass eine Runde Joggen oder Spaziergehen gesünder wäre. Sie zitieren eine Studie, nach der mehr als 70 Prozent der 20- bis 45-Jährigen keinen Sport treiben. Was hält uns davon ab, das "Richtige" zu tun?
Es sind Automatismen, Gewohnheiten, Routinen, denen wir die Macht über unser Leben übertragen haben. Irgend- wann merkt man dann, dass man gelebt wird, anstatt selbst zu leben.
Was hilft denn wirklich?
Innehalten, Momente der Ruhe, selbst wenn sie nur kurz sind, Bewegung in der freien Natur. Oder Sport, wenn er nicht in Stress umschlägt. Viele Menschen profitieren auch von Yoga oder von Meditationsübungen. Wir sollten nicht etwas tun, weil es alle anderen tun, sondern weil es vor allem mir, vielleicht sogar nur mir guttut.
Viele wollen was ändern und scheitern. Wie schafft man es, dranzubleiben?
Was viele Menschen von guter Selbstfürsorge abhält, ist der soziale Anpassungsdruck und fehlender Mut, sich anders zu verhalten, als es die anderen von einem gewohnt sind. Hilfreich ist, einen Menschen als Vorbild zu haben, der selbst ein achtsames Leben führt und der mir wohlgesinnt ist.
Sich zu verändern ist nicht leicht. Freier Wille bedeutet ja nicht, sich einfach selbst neu erfinden zu können.
Jeder von uns steckt in vielfältigen Zusammenhängen, die uns prägen. Freier Wille bedeutet, die Möglichkeit zu haben, aus sich selbst mehr zu machen als das, was die Verhältnisse aus uns gemacht haben. Dazu brauchen wir den Dialog mit anderen, denn niemand kann sich selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen. Ein wichtiger Aspekt meiner Willensfreiheit ist, mir die "richtigen" Menschen für diesen Dialog zu suchen.
Welche Rolle spielt unser Bauchgefühl?
Intuition ist wichtig, aber wir sollten ihr nicht blind vertrauen. Unser Unbewusstes hat seine ganz eigene Weisheit. Wir sollten unser Bauchgefühl wahrnehmen und anschauen, was es uns meldet. Kluge Selbststeuerung heißt, intuitive Gefühle und bewusstes Nachdenken zu verbinden und dann zu entscheiden.
Die Fähigkeit zur Selbststeuerung wird vor allem in der Kindheit erworben. Lässt sie sich später noch erlernen?
Ja, man kann jederzeit damit beginnen. Viele Menschen erkennen die Notwendigkeit, achtsam mit sich und ihrem Leben umzugehen, erst, wenn sich erste Zeichen einer Krankheit zeigen. Ein medizinischer Befund kann eine Art Warnschuss und eine Chance sein, der einen dazu veranlassen kann, wichtige Fragen zu stellen: Wofür lebe ich eigentlich? Was ist mir wirklich wichtig? In der Krise spürt man plötzlich eine Sehnsucht nach Dingen, die man lange vernachlässigt hat, nach Menschen, die einem wirklich guttun. Wir wissen heute, dass Selbststeuerung auch Selbstheilungskräfte aktivieren kann.
Sie hatten ja vorhin schon gesagt, unsere innere Einstellung beeinflusse unsere Gesundheit. Wie funktioniert das?
Die Auswirkungen guter Selbststeuerung nehmen einen äußeren und einen inneren Weg. Der äußere Weg führt über die Änderung des Verhaltens, hier geht es vor allem um einen gesunden Lebensstil. Der innere Weg bedeutet, dass ich mit mir selbst in gutem Kontakt bin, dass ich mich spüre, dass ich Zuversicht, Mut und so etwas wie Fürsorge für mich selbst walten lasse. Ich spreche hier von einer Art "Selbstkraft". Es ist wie bei einer Klassenarbeit in der Schule: Der äußere Weg führt über den Fleiß, ich muss mich vorher hinsetzen und üben. Der innere Weg entscheidet, ob ich mit Angst oder mit Selbstvertrauen in die Klassenarbeit gehe. Die Selbstkraft ist im Stirnhirn verankert, von hier gehen wichtige Effekte auf die biologischen Selbstheilungssysteme des Körpers aus.
Was kann dabei helfen, diese Selbstkraft zu entwickeln?
Wir Menschen sind soziale Tiere. Ein starkes Selbst und Selbstkräfte können sich vor allem dann entwickeln, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass man geliebt worden ist. Nur wenn mich andere ermutigen und an mich glauben, kann ich auch selbst an mich glauben. Dieser Zusammenhang spielt nicht nur im Alltag, sondern auch bei der Heilung von Krankheiten eine Rolle. Die moderne Medizin vernachlässigt den wichtigen Beitrag, den die Selbstkräfte bei Erkrankungen für die Genesung oder Heilung leisten.
In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass alle Menschen ein "Zukunftsbedürfnis" hätten, und wenn dieses Bedürfnis nicht beachtet werde, würde die Fähigkeit zur Selbststeuerung abnehmen.
Mein Eindruck ist, dass sich viele Menschen nicht mehr genügend Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wie sie sich ihre längerfristige Entwicklung vorstellen. Auch mit Kindern wird zu wenig darüber gesprochen, welche Chancen und welche Ziele sie haben. Anstatt ständig fremde Träume zu träumen, wie sie uns die Medien servieren, sollten wir viel mehr unsere eigenen, an unserer eigenen Realität orientierten Zukunftsträume träumen. Wer von früh bis spät nicht innehalten kann und auf Bildschirmen fremden Träumen nachhängt, der kann keine eigene Zukunft denken und hat, genau betrachtet, die Zukunft für sich ausgelöscht. Wenn wir unser Zukunftsbedürfnis verkümmern lassen, wenn wir nicht träumen, wohin uns unser eigener Weg führen soll, dann verkümmern wir.
Prof. Joachim Bauer, 63, ist Neurobiologe, Molekularbiologe und Arzt mit Ausbildung als Internist, Psychotherapeut und Psychiater. Sein Spezialgebiet ist die Psychosomatische Medizin. Er leitet ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Thema "Muße". Sein neues Buch "Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens" (Blessing) ist gerade erschienen.