Etwas für die Liebe zu riskieren, ist vielen zu anstrengend. Warum es aber auch Mut in der Liebe braucht – und was wir von langjährigen Paaren lernen können.
Meine Freundin aus Neukölln pflegt immer zu sagen: „In Berlin verliebst du dich alle vier Wochen neu und wirst alle vier Wochen wieder verlassen.“ Sie ist 35, verbringt ihre Samstage gerne im KitKat-Club und hat bei Tinder 187 Matches. Rund um die Uhr erhält sie flirtige, pseudo-intime Nachrichten von fremden Männern, die gerne mal mit ihr ausgehen würden: „Guten Morgen, meine Schöne“. Das tue ihr gut, sagt sie. Mehr brauche sie gar nicht. Sobald ihr Flirt ein reales Treffen forciert, bricht sie den Kontakt ab. „Ich glaub, der ist doch nicht so geil“, sagt sie dann und textet lieber weiter mit einem anderen. Richtig tief gingen ihre Beziehungen in letzter Zeit nie. Die Sehnsucht nach einer Partnerschaft ist zwar da, aber die Ansprüche meiner Freundin sind groß. Sie sucht nicht weniger als den perfekten Mann.
Typisch Generation Me. Unsere Eltern haben uns eingetrichtert, dass wir alles erreichen und haben können, was wir wollen – weil wir etwas Besonderes sind. Wenn es mit dem Geigen- oder Tennis-Unterricht nicht klappte, lag’s am Lehrer. Dadurch ist vielen die Fähigkeit abhanden gekommen, dranzubleiben – und darunter leidet heute ihr Liebesleben.
Generation Tinder: Dating wird oberflächlicher
Während es früher normal war, sich ins Zeug zu legen, für berufliche Erfolge und eine funktionierende Partnerschaft, ist heute vielen zwischen Mitte 20 und Ende 30 eine gute Work-Life-Balance wichtiger. Heißt: weniger arbeiten, weder im Job noch für die Beziehung. Diese Neo-Hedonist*innen wollen so intensiv leben wie möglich, mit ständig wechselnden Flirts, Spaß, Sex. Obwohl sich viele im tiefsten Inneren Verbindlichkeit, eine romantische Hochzeit oder ein Baby wünschen.
Immer nur auf Nummer sicher zu gehen, funktioniert in der Liebe nicht.
Stella BrikeyTweet
Aber es ist heute eben schwer, jemanden kennenzulernen, in unserer schnelllebigen, oberflächlichen Welt ... Die Angst davor, verletzt oder enttäuscht zu werden ist riesig, gefühlt ist man durch die ständige Verfügbarkeit von Dates durch Tinder und Co. so austauschbar wie nie. Laut einer Umfrage finden es viele sogar normal, via Messenger Schluss zu machen. Auf der anderen Seite sind die Sozialen Medien nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil die Benutzer*innen innerhalb kürzester Zeit positives Feedback in Form von „Likes“ bekommen können. Das geht schneller, als jemandem im wahren Leben erst mühsam von den inneren Werten überzeugen zu müssen.
Lies auch:
- Beziehungspause: Aus für immer oder neue Chance für die Liebe?
- Mein Mann will keinen Sex mehr – was steckt dahinter?
- Sexleben auffrischen: Mit diesen Tipps wird's wieder spannend
Aber: Immer nur auf Nummer sicher zu gehen, funktioniert in der Liebe nicht. Wer sich nie richtig öffnet und das Risiko eingeht, sich voll und ganz auf einen anderen Menschen einzulassen, kann zwar nicht verletzt werden, wird auch nie den Hauptgewinn ziehen. „Unsere Zeit fördert den Autonomiegedanken, aber Freiheit und Selbstbestimmung genügen auf Dauer nicht, um glücklich zu werden“, weiß der Paartherapeut Dr. Clemens von Saldern, der zusammen mit seiner Frau Nadja eine Praxis in Berlin hat. Zudem neigen Menschen dazu in die Voltaire-Falle zu tappen. Der Philosoph prägte den Satz „das Bessere ist der Feind des Guten“.
„Ich nenne es auch die iPhone-Falle – sobald das neue Modell auf den Markt kommt, scheint das Alte unzureichend zu sein, viele Leute wollen sofort das Bessere.“
Dr. Clemens von SaldernTweet
Menschen sind soziale Wesen
Nadja von Saldern ergänzt: „Die Zahl der Ich-linge in unserer Gesellschaft steigt. Das sind Menschen, denen es im Wesentlichen um das eigene Wohlergehen geht. Aber wir sind soziale Wesen, die auf Bindungen angewiesen sind.“ Auch mal vom anderen genervt zu sein, gehöre dazu. Je später man eine Bindung eingeht desto schwieriger wird es. „Dann sind die Macken der meisten Leute schon sehr ausgeprägt und es fällt ihnen schwer, sich anzupassen.“
Wir sehnen uns nach mehr Intensivität
Der junge Philosoph Tristan Garcia glaubt, dass die Suche nach dem Intensiven so etwas wie das Leitmotiv unserer Zeit geworden ist: Lebe so, dass du das Leben in dir spürst! „Was uns als erstrebenswertes Gut angeboten wird, ist eine Steigerung unserer Körper, eine Intensivierung unserer Freuden, unserer Liebesgefühle und Emotionen“, schreibt er in seinem Buch „Das intensive Leben: Eine moderne Obsession“, das in der Szene als Sensation gehandelt wurde. Versagt habe man heute nur, wenn man ein mittelmäßiges, routiniertes Leben führe.
Das Problem: Ein Leben, das immer intensiv ist, ist in Wirklichkeit eigentlich nie intensiv.
Das gilt auch für die Liebe. Ohne Kompromisse geht es nicht. „Wenn man sich klarmacht, dass Beziehung ein verschlungener Weg mit manchmal ganz banalen Ereignissen ist, auf dem sich zwei Menschen immer wieder neu und tiefer erleben, dann führt Perfektion da nicht weiter“, sagt auch Dr. Barbara von Bechtolsheim, die das Buch „Beziehungskünstler“ geschrieben hat. Darin enthüllt sie die Liebesgeheimnisse einiger berühmter Paare. Etwa: „Marina Abramovic und Ulay waren glücklich und produktiv, als sie monatelang mit fast nichts in einem VW-Bus lebten, ohne zu wissen, wie genau es wo genau weitergeht – außer miteinander und mit der Kunst.“ Die Autorin glaubt, dass vielen Jüngeren in puncto Beziehungen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, stetig dranzubleiben. „Kunst und Liebe sind ein großes Projekt, das gedeihen und wachsen muss. Dazu gehört auch, Fehler, Enttäuschungen oder Alltäglichkeit zuzulassen. Wie beim Schreiben oder Malen nicht immer alles glatt läuft, ohne dass dies ein Scheitern bedeutet, kann beispielsweise mal ein gemeinsames Wochenende danebengehen, ohne dass dies das Ende der Beziehung bedeuten muss.“
Sollten wir mehr für die Liebe riskieren?
Wie schaffen wir es also wieder, mutiger zu werden und auch mal etwas für die Liebe zu riskieren – indem wir uns klar zu einer Person bekennen und offen zugeben: Ich will DICH und sonst niemanden? „Fragt euch, wie ihr irgendwann am liebsten auf euer Leben zurückblicken würdet“, rät Paartherapeut von Saldern. „Fakt ist, dass die Menschen auf dem Totenbett nicht über Erfolg, Sex oder ihr Ego reden – sondern von Beziehungen. Aber die funktionieren nur, wenn man auch dunkle Tage in Kauf nimmt und Beziehungsarbeit leistet.“
Klar, eine reale Liebesbeziehung hat wenig zu tun mit dem Kitsch, den wir tagtäglich von romantischen Komödien, Musikvideos, Werbeanzeigen oder den Sozialen Medien vorgesetzt bekommen. Der 67-jährige „Homeland“-Schauspieler Mandy Patinkin und seine Ehefrau Kathryn posten regelmäßig Videos aus ihrem herrlich unperfekten Ehealltag auf Twitter und sind damit eine echte Inspiration. „Wenn du richtig viel Glück hast, findest du irgendwann einen Partner, bei dem dir die Worte fehlen, um zu beschreiben was du für ihn empfindest“, erklärte Patinkin im „Vulture“-Magazin. „Das ist wichtig, weil dir der Scheiß eines Tages garantiert um die Ohren fliegen wird. Dann kannst du dich an dieses intensive erste Gefühl zurückerinnern und es wird dich dazu bringen, dich erst mal zu beruhigen und es doch weiter zu probieren.“
Als Mandy und Kathryn vor 40 Jahren zusammenkamen, passte erst mal gar nichts zwischen den beiden. „Beim zweiten Date fragte er mich, ob ich ein Bankkonto habe“, erzählt Kathryn. „Ich guckte ihn an und sagte: ,Ein Bankkonto? Ich bin Off-Broadway-Schauspielerin. Was für eine bourgeoise Frage!‘ Und er fragte: ,Was bedeutet bourgeoise?‘ Darauf ich: ,Oh Mann, das ist keine gute Idee mit uns beiden.‘“ Sie ergänzt: „Am Anfang hast du die Illusion, einander nie wehzutun, und am Ende bringt ihr euch gegenseitig um. Es hat seinen Reiz, solche Phasen zu überstehen. Das Schlimmste, was man sich als Paar antun kann, ist sich gegenseitig verändern zu wollen.“
Die Phasen bis zur wahren Liebe
Clemens und Nadja von Saldern glauben, dass viele Menschen heute Liebe mit Verliebtheit verwechseln. Letzteres sei nur die erste von vier Phasen einer Beziehung. „Wenn die Verliebtheit nach einiger Zeit vorbei ist, bekommen wir zum ersten Mal ein realistischeres Bild vom anderen. In dieser Teambildungsphase werden oft Macht- und Konkurrenzkämpfe ausgetragen. Wenn Kompromisse anfangen zu nerven, kommt die Individualisierungsphase, der ein oder andere zieht sich dabei immer wieder einmal zurück. In der letzten Phasen sind viele Höhen und Tiefen durchlaufen, der Umgang ist innig, ehrlich und vertraut.“ Und erst dann kann man sagen: Das ist wahre Liebe.
Weiterlesen: