Platz eins der Weltrangliste – dann, in wenigen Monaten, der brutale Absturz. Wie hat Tennis-Star Angelique Kerber das überlebt?
Während um uns herum das Set abgebaut wird, machen Angelique Kerber und ich es uns in einer Ecke des Fotostudios gemütlich. Ihr Tag vor der Kamera war anstrengend, trotzdem ist sie jetzt ganz da, wirkt offen und zugänglich. Zwei Jahre ist es her, dass ich von meinem Sofa aufgesprungen bin und die Arme hochgerissen habe, als Kerber bei den Australian Open den Matchball gegen die damalige Weltranglistenerste Serena Williams verwandelte. 2017 riss die Siegesserie abrupt ab. Während unseres Gesprächs bin ich beeindruckt, wie ehrlich Angelique Kerber, 29, über sich und ihre Zerrissenheit in den letzten zwölf Monaten spricht. Man hat das Gefühl, dass sie all das einmal sagen muss – sagen will. Vielleicht, um sich davon zu befreien, denn im nächsten Jahr soll alles auf Neustart sein, mit neuem Selbstbewusstsein und mehr Gelassenheit.
EMOTION: Das war ja ein Jahr bei Ihnen! Als Nummer eins der Weltrangliste in die Saison gestartet – und innerhalb von zwölf Monaten auf Platz 21 abgestürzt. Sind Sie froh, dass 2017 endlich vorbei ist?
ANGELIQUE KERBER: Ja, ich bin froh, dass ich das Jahr hinter mir habe. Allerdings sehe ich es nicht nur negativ. Klar musste ich schwierige Situationen aushalten, aber ich habe auch wahnsinnig viel über mich gelernt. Ich habe einen großen Schritt in meiner persönlichen Entwicklung gemacht und würde sagen, dass mich die letzten 24 Monate reifer gemacht haben. Dafür bin ich sehr dankbar.
Sie haben sich nach einer Auszeit Ende November mit einem Brief an Ihre Fans gewandt. Sehr ungewöhnlich. Warum haben Sie das gemacht?
Eigentlich bin ich niemand, der so persönliche Dinge mit der Öffentlichkeit teilt. Aber ich hatte das Bedürfnis, den Menschen, die meine Spiele verfolgen und mich anfeuern, zu zeigen, wie es zurzeit in mir aussieht und was ich in den letzten Monaten gelernt habe. Außerdem hatte ich während meiner Auszeit irgendwann das Gefühl, dass ich durch das, was ich erlebt habe, auch anderen Menschen etwas mitgeben kann.
Was ist das?
Ich habe vor allem verstanden, dass ich mich nicht nur als Tennisspielerin definieren muss. Der Wert meiner Person verändert sich ja nicht, nur weil es auf dem Platz nicht läuft, ich bleibe trotzdem der Mensch, der ich bin. Ich glaube, es gibt viele Leute, die an diesem Punkt mit sich hadern, egal in welchem Job sie arbeiten.
Ich arbeite hart, gebe jeden Tag mein Bestes und bin aber am Ende mehr als Sieg oder Niederlage.
Angelique KerberTweet
Trotzdem stelle ich mir das in Ihrem Fall besonders schwierig vor. Sie sind das ganze Jahr auf Turnieren unterwegs. Bekommt man da nicht automatisch das Gefühl, nur nach dem Platz in der Rangliste beurteilt zu werden?
Anfangs war das schwer, besonders als die Ergebnisse nicht gestimmt haben. Ich habe mir jedes Spiel sehr zu Herzen genommen. Aber genau dann muss man das eigentlich trennen, sonst kommt man noch schlechter drauf. Man verliert ja nicht, weil man verlieren möchte. Manchmal ist das Leben eben so, man darf sich davon nicht runterziehen lassen. Ich arbeite hart, gebe jeden Tag mein Bestes und bin aber am Ende mehr als Sieg oder Niederlage.
Kam Ihnen irgendwann mal der Gedanke: Jetzt lass ich es einfach?
Dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin eine Kämpferin, sonst wäre ich auch nicht da, wo ich jetzt bin. Aber natürlich gab es Momente, in denen ich mich gefragt habe: Mache ich das Richtige? Muss ich was verändern?
Was hat Ihnen da Kraft gegeben?
Das waren vor allem Freunde und Familie. Menschen, die mir nahestehen und mich so nehmen, wie ich bin. Die kommen und sagen: Lass uns essen gehen oder ins Kino. Und wir gehen jetzt nicht mit dir aus, weil du die Nummer eins bist, sondern weil du die Angie bist, die wir kennen. Für mich war dieser Rückzugsort wichtig. Da konnte ich auch mal sagen: Okay, ich lege das Handy weg und es ist egal, was jetzt passiert und wie die Rangliste nächste Woche aussieht.
Wann spürten Sie im vergangenen Jahr zum ersten Mal so was wie Zweifel?
Tatsächlich habe ich gleich zu Beginn der Saison gespürt, dass sich alles anders anfühlt. Mein ganzer Tagesablauf war plötzlich anders, weil ich als Erste in der Weltrangliste viel mehr Termine außerhalb des Platzes und zwischen den Turnieren hatte.
Das ist bestimmt erst mal schwer zu verstehen: es lief nicht, obwohl Ihr Körper immer noch der gleiche war, und die Kraft, für die Sie bekannt sind, auch da war. Können Sie einem Laien erklären, was 2017 mit Ihnen passiert ist?
Die Lockerheit war einfach weg, ich war viel angespannter. Wie bei einer Abschlussarbeit, wo man weiß, man lernt und lernt und muss dann auch liefern. Das Mentale spielt dann eine so große Rolle und der Druck war enorm. Mit jedem verlorenen Match hat er sich weiter aufgebaut. Und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, meinen Erfolg überhaupt noch nicht richtig verarbeitet zu haben.
Wie meinen Sie das?
Als der Erfolg kam, war ich einfach so glücklich! Ich bin jeden Morgen happy aufgestanden und habe im Moment gelebt. Ich durfte so viele neue Sachen erleben und hab alles mitgenommen. Das würde ich auch genauso wieder machen, schließlich ist das die Belohnung für all die Jahre Training.
Was war das Problem?
Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da mit mir passiert ist. Es macht etwas mit dir, wenn du so lange und hart für etwas arbeitest, und dann ist es plötzlich da. Mir hat die Zeit gefehlt, mich neu zu orientieren und wieder neu zu motivieren. Ich habe das Gefühl, diesen Prozess erst jetzt abzuschließen.
Das überrascht mich. Im letzten Jahr wirkten Sie nie wie jemand, dem es an Spannung fehlt. eher wie eine, die ganz schön hart mit sich ist.
Ich bin schon meine größte Kritikerin. Als Weltranglistenerste hatte ich große Erwartungen an mich und war oft nicht fair zu mir. Heute habe ich verstanden, dass man nicht weiterkommt, wenn man zu hart zu sich ist. Mittlerweile schaffe ich es besser, mir zu sagen: Du warst heute nicht so gut in deinem Beruf, aber du weißt, was du willst, und du weißt, was du kannst.
Sie mussten also lernen, zu verlieren.
Genau. Die Erkenntnis, dass ich jeden Tag und jedes Match von null anfangen muss, war hart. Dabei sind Niederlagen auch gute Erfahrungen und ein wichtiger Teil des Erfolgs. Nur durch sie kann man erkennen, was man noch verbessern kann.
Beim Tennis ist das eine extreme Herausforderung: Auf dem Platz steht man wie auf dem Präsentierteller, alle Augen sind auf einen gerichtet, und man kann nicht weg.
In schlechten Phasen ist das auch nicht einfach, aber man muss das ausblenden. Ich trainiere und schwitze ja für diesen Moment. Für die Motivation, die Freude, die Leidenschaft, wenn ich den Wettkampf spüre und weiß: Jetzt geht’s um was.
Manchmal schien es beim Spielen so, als könnte man Ihnen jeden Gemütszustand von der Haut ablesen. Hat Sie das auch genervt?
Das ist mein Charakter, so bin ich einfach. Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch, der seine Gefühle gern zeigt. Mir sieht man schnell an, wenn was nicht passt. Dafür haben mich meine Emotionen 2016 auch zu den Siegen getragen.
Reden wir also nicht nur darüber, was Sie letztes Jahr alles verloren haben. Was haben Sie gewonnen?
Das Wissen, dass ich nicht aufgebe. Und ich habe gelernt, meinen eigenen Weg zu gehen. Heute höre ich viel stärker auf mein Bauchgefühl, wenn ich Entscheidungen treffe.
Bald werden Sie 30. Welches Geschenk würden Sie sich gern machen?
Als Sportlerin will ich natürlich Grand Slams. Aber persönlich wünsche ich mir, dass ich mich weiter so nehmen kann, wie ich bin. Ich will die Mitte finden und die Leidenschaft, die ich auf dem Platz habe, auch in andere Sachen geben.
Jetzt geht der Tenniszirkus bald wieder los. 2018 soll Ihr Neustart sein. Was wünschen Sie sich von diesem Jahr?
Ich will freier und gelassener an die Dinge rangehen. Aber ich kenne mich auch, ich bin schon immer noch ziemlich ehrgeizig. Trotzdem möchte ich zeigen, was ich aus den Erfahrungen der letzten zwei Jahre gezogen habe. Ich möchte all das abrufen können und bin bereit, diese Herausforderung anzunehmen.
Seit sie drei ist, spielt die Kielerin Tennis. 2016 gewann sie die Australian und US Open, Silber bei Olympia und erreichte das Wimbledon Finale. Kerber lebt in Polen und hat dort eine Tennisakademie gegründet. Sie ist das Gesicht der Kosmetikmarke Bare Minerals.