Warum muss ich mich mit Scham und Schuldgefühlen quälen, wenn es sowieso schon schlecht läuft? Das fragt sich die alleinerziehende Mutter Claire Funke. Sie fordert mehr Unterstützung für Familien in Notlagen.
Vom Leben in löchrigen Netzen
Die Umstände, in denen ich meine Kinder großziehe, sind, konkret ausgedrückt, schlecht.
Ich komme aus einer Familie, in der sowohl Mutter als auch Großmutter alleinerziehend waren. Ich bin die dritte Generation, die ihre Kinder alleine großzieht. In unserer Familie ist das mit dem gegenseitigen Unterstützen schwierig. Zum einen ist meine Oma gesundheitlich stark beeinträchtigt und zum anderen ist meine Mutter berufstätig. Unser familiäres Netz ist löchrig.
Meine Mutter ist mit mir als Kind viel umgezogen. Als mein Großer ein Jahr alt war, habe ich angefangen, freiberuflich in der Erwachsenenbildung zu arbeiten. Aus meinem löchrigen sozialen Netz aus Kindertagen hat sich auch als Mutter kein stabiles soziales Netz gebildet, da ich immer 30 Wochenstunden und mehr berufstätig war.
Um Kontakte knüpfen zu können, braucht es jedoch Zeit. Mein soziales Netz ist daher genauso löchrig wie mein familiäres Netz.
Trennung mit dramatischen Auswirkungen
Im Mai 2009 hat sich der Vater von meinem großen Sohn, für mich unerwartet, getrennt. Ich war plötzlich alleinerziehend und damit etwas, was ich niemals hatte sein wollen.
Mit dem Umzug des Kindsvaters in eine über 300 Kilometer weit entfernte Stadt wurde ich noch "alleinerziehender", als ich es vorher schon war. Folge: noch löchrigeres familiäres Netz.
Erschwerend kam hinzu, dass der Vater unseren Sohn zwar alle zwei Wochen abgeholt hat, was gut aussieht, mein Großer dafür aber immer über 600 Kilometer (hin und zurück) an einem Wochenende fahren musste. Die Auswirkungen auf die Beziehung zwischen mir und meinem damals zweijährigen Sohn waren dramatisch.
Jedoch habe ich mich nicht getraut, mich zu wehren. Ich hatte Angst , dass mir unterstellt wird, ich wollte dem Vater das Kind vorenthalten. Mein Sohn war damals nach den Wochenenden immer außer Rand und Band, das war auch im Kindergarten aufgefallen. Ich dachte, er sei aggressiv, weil er seinen Vater vermisst.
Viele Jahre später habe ich einen Bericht von einem Kinderpsychologen gelesen, der beschrieb, dass Kinder in diesem noch sehr jungen Alter aggressiv reagieren auf die Trennung von der gewohnten Bezugsperson – und das war ich. Meine Einschätzung war damals also total falsch. Geholfen hat uns da keiner.
Ich habe mich unglaublich geschämt
Ich habe mich unendlich geschämt, dachte, ich habe versagt und gehofft, dass alles irgendwie vorbeigeht.
Ich habe mich geschämt dafür, alleinerziehend geworden zu sein.
Claire Funke, @MamastreiktTweet
Wenn ich heute diese Zeit Revue passieren lassen, kann ich sagen: Ich war heillos überfordert mit Trennung, Berufstätigkeit und Kindererziehung. Hinzu kam, dass ich mich geschämt habe dafür, alleinerziehend geworden zu sein. Die Scham saß tief, das spüre ich noch heute, denn mir laufen beim Schreiben die Tränen übers Gesicht.
Dass ich die Scham darüber alleinerziehend geworden zu sein, überwinden muss und kann, habe ich erst viele Jahre später durch das Projekt "Stark und Alleinerziehend" von Dr. Alexandra Widmer gelernt. Heute kann ich sagen, dass ich zuletzt vor allem durch das Bloggen die Scham hinter mir lassen konnte. Schreiben hilft.
Zur Scham kommen Schuldgefühle
Nun wäre da noch das Gefühl der Schuld, das mich viele Jahre begleitet hat und mich auch heute noch manchmal einholt. Ich empfinde Schuld meinen Kindern gegenüber, wenn ich ungeduldig oder grob reagiere, weil in einem Moment alles zu viel ist.
Wie sehr wünsche ich mir auch heute noch, dass jemand da wäre, zu dem ich einfach sagen könnte: “Du ich merke, ich werde ungeduldig, übernimm mal.” Ich weiß schon, dass auch bei nicht getrennten Eltern nicht immer beide zeitgleich anwesend sind. Ich habe erfahren, dass es auch hier Ungeduld und eine gewisse Grobheit gibt.
Dennoch haben diese Eltern in manchen Situationen die Möglichkeit, gegenzusteuern, weil noch ein zweiter Erwachsener da ist, der dann "übernehmen" kann. In unserer Familie ist wirklich nie jemand da, durchgängig, seit neun Jahren.
Für diese Zeit, kann ich sagen, dass ich alle Kämpfe mit meinen Kindern alleine ausgetragen habe. Immer. Das kostet Kraft.
Heute bin ich nicht mehr so streng mit mir
Mein Empfinden der schweren Schuld gegenüber meinen Kindern hat sich verwandelt in den letzten zwei Jahren. An die Stelle der Schuld ist das Gefühl getreten, dass ich natürlich verantwortlich bin für mein Verhalten, wenn ich nicht richtig reagiere. Jedoch sind die Umstände, in denen ich meine Kinder erziehe. so schlecht, dass ich heute freundlicher mit mir umgehen kann, wenn ich merke, dass ich falsch reagiert habe.
Die Gesellschaft möchte selbstverständlich, dass es allen Kindern gut geht. Ob der richtige Weg dahin die Anzeige beim Jugendamt ist? Was meint Ihr?
Ich hatte vor einigen Jahren einen Nachbarn, der mich zweimal beim Jugendamt angezeigt hat. Er hat es mir sogar vorher angekündigt, weil er der Meinung war, dass ein Kind nicht angeschrieen werden soll.
Es gab Gründe für meine Überforderung
Da hat er natürlich zu 100 Prozent Recht. Es gab aber viele Situationen, in denen ich einfach überfordert war. Auch deshalb, weil ich wenige Monate nach der Trennung dreimal operiert wurde und alleine war mit einem Zweijährigen und einer über Monate offenen Wunde.
Mir wurde keine Hilfe für zu Hause angeboten im Krankenhaus. Da half auch nicht der Gang in die Erziehungsberatungsstelle. Überfordert zu Hause bleibt überfordert zu Hause, wenn es keine Hilfe gibt.
Es gibt erst Hilfe für Familien in Not, wenn die Kinder schon schwer geschädigt sind.
Claire Funke, @mamastreiktTweet
Da bräuchte es ein Hilfesystem, das sofort greift. Jedoch haben wir ein System, das erst eingreift, wenn die Kinder schon schwer geschädigt sind (z. B. verwahrlost, verhaltensauffällig usw.). VORHER gibt es KEINE Hilfe. In unserem Gesundheitssystem wird Prävention ganz großgeschrieben, in der Familienhilfe gibt es leider nur Schadensbegrenzung.
Ich bin ein verständnisvoller Mensch, daher konnte ich den Nachbarn sogar verstehen, dass er das Jugendamt verständigt hat. Er wusste ja nicht, dass es meinem Sohn ansonsten gut geht.
Als mich dieser besagte Mann jedoch danach nochmals dem Jugendamt meldete, habe ich meinerseits bei der Polizei Anzeige erstattet. Meiner Meinung nach musste sich der Nachbar damit zufriedengeben, dass das Jugendamt einmal unangekündigt vor meiner Haustüre stand und bei diesem Besuch alles für gut befunden hatte. In der Fachsprache ausgedrückt also keine Kindeswohlgefährdung vorlag.
Alleinerziehende werden zu wenig unterstützt – von allen Seiten
Müttern und natürlich auch Väter in schwierigen Lebenslagen ist nicht damit geholfen, ihnen ihr Fehlverhalten gebetsmühlenartig vorzuhalten. Viel mehr wäre Unterstützung notwendig, die es jedoch weder in der Familienhilfe beim Jugendamt gibt noch in der Gesellschaft.
Der Nachbar hätte mir ja auch seine Unterstützung anbieten können, er war Rentner. Mein Sohn hätte sich sicher über einen "Leihopa" gefreut, da sein eigener sehr weit weg wohnte und mittlerweile verstorben ist. Das gesellschaftliche Netz ist also auch löchrig. Als Alleinerziehende/r kann man nicht automatisch auf Hilfe hoffen.
Eine Sache, die meinem Leben viel Sicherheit geben würde, wäre ein unbefristeter Arbeitsvertrag. Stattdessen arbeite ich seit 2008 freiberuflich oder befristet in der Erwachsenenbildung. Das berufliche und damit finanzielle Netz ist auch sehr löchrig.
Minus + Minus + Minus gibt in diesem Fall leider nicht Plus. Wir haben nie 100 % Einfluss auf eine Situation und daher bin ich auch “nur” die Mutter, die ich aufgrund der schwierigen Umstände sein kann. Ich weiß, dass ich eine andere Mutter gewesen wäre, wenn das familiäre, gesellschaftliche, berufliche und finanzielle Netz stabiler wären.
Ich kämpfe für eine Änderung der Umstände
Was übrig bleibt ist meine Hartnäckigkeit in der Hinsicht, dass ich mich nicht mit den schlechten Umständen abfinden will, gepaart mit dem Willen, die Kindheit meiner Jungs liebevoll zu begleiten trotz aller Schwierigkeiten.
Mir persönlich ist bewusst, dass ich die Zeit mit meinen Kindern später nicht nachholen kann. Wir leben JETZT und es gibt die berührenden, zärtlichen, lustigen Momente in unserer Drei-Familie (Wortkreation vom Kleinen), die ich mir bewahren werde in meinem Herzen, denn darauf habe ich zu 100 Prozent Einfluss.
Die aktuellste "Liebeserklärung" von meinem kleinen Sohn lautete: “Mama, is hab dis feierlieb.” Ich habe meine Jungs auch unendlich lieb und dennoch würde ich mir wesentlich einfachere Umstände wünschen und daher trete ich immer mehr dafür ein.
Dieser Text ist ursprünglich auf Claire Funkes Blog "Mama streikt" erschienen. Wir haben ihn hier leicht gekürzt erneut veröffentlicht.
#Carearbeitmusssichtbarwerden - Claires Kampagne
Claire Funke setzt sich dafür ein, dass Care-Arbeit (Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen und Kindern) in der Gesellschaft sichtbar und anerkannt wird - auch finanziell. Dazu hat sie eine Petition gestartet, in der sie von der Bundesregierung ein Fürsorgegehalt für Eltern und pflegende Angehörige fordert. Auf ihrer Facebook-Seite informiert sie über die Kampagne und Aktuelles rund um das Thema.
#Wasfrauenfordern: Die Aktion von EMOTION
Wir rufen Frauen dazu auf, zu sagen, was sich in unserer Gesellschaft ändern muss. Mehr zu unserer Umfrage und den wichtigsten Themen findet Ihr hier: #wasfrauenfordern