Jeden Tag treffen wir unzählige Entscheidungen. Manche sind so sehr Routine, dass wir nicht mal merken, dass wir uns entscheiden, etwa für den Kaffee am Morgen. Andere fühlen sich so groß an, dass wir wie gelähmt vor ihnen stehen. EMOTION sprach mit dem Erfurter Psychologen Tilmann Betsch darüber, wie Intuition und Denken zusammenspielen.
EMOTION: Herr Prof. Betsch, was hilft mir durchdachte Entscheidungen zu treffen?
TILMANN BETSCH: Es kommt gar nicht oft vor, dass wir über Entscheidungen nachdenken. Die meisten treffen wir ganz schnell.
Wir vertrauen also meist auf unsere Intuition?
Sehr oft. Ich glaube sogar, in der Mehrzahl der Fälle. Intuition ist ja immer ein Produkt unserer Erfahrungen, eine Expertise, die wir in vielen Situationen erworben haben. Wenn sich die Umstände nicht grundlegend geändert haben, liegen wir mit unserer Intuition in der Regel ganz gut.
Wann ist Nachdenken sinnvoll?
Nachdenken kann dann zu besseren Entscheidungen führen, wenn ich eine gute Skala habe, welche Informationen wichtig sind und welche unwichtig. Stellen Sie sich ein Einstellungsgespräch vor. Wir wissen, der erste Eindruck hat einen starken Effekt und wenn jemand attraktiv ist, wirkt das auf jeden erst mal positiv. Wenn ich mir das bewusst mache, kann ich gegensteuern und bewusst auf die relevanten Kriterien achten – was qualifiziert die Bewerberin? Wie reagiert sie auf Nachfragen? Aber wenn ich nicht gut gewichten kann, was wichtig ist und was nicht, oder falsche Informationen habe, kann ganz tiefes Nachdenken auch zu schlechteren Entscheidungen führen.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen Sie eine junge Mutter, die sich informieren will, ob sie ihr Kind impfen lassen soll oder nicht. Sie stößt im Internet auf so viele Berichte über Impfschäden, dass sie zu der Entscheidung kommt: Es wäre wahnsinnig, wenn ich meinem Kind das antue! Ihr fehlt genau das, wodurch eine Entscheidung gut werden kann: die richtige Priorisierung von Argumenten. In den Foren findet sie Einzelfallberichte, und einzelne Fälle helfen nicht, das Impfrisiko richtig einzuschätzen. Sie sind irrelevant. Man sollte lieber lesen, was die Zentrale für Gesundheitliche Aufklärung oder das Robert-Koch-Institut sagen, weil die über eine große Menge an Datensätzen verfügen und Dinge zeigen können, die ziemlich eindeutig für die Risikoeinschätzung sind.
Spielt es eine Rolle, dass einen die Geschichten in den Foren im Gegensatz zu gesichtslosen Datensätzen berühren – und schon entscheidet man aus dem Gefühl?
Das ist eigentlich keine intuitive Entscheidung. Diese Mütter lesen ja tausend Sachen, um sich zu informieren. Das Problem ist, dass im Internet alle Informationen ungefiltert nebeneinander stehen. Zu priorisieren, welche Information wichtiger ist als eine andere, verlangt uns sehr viel ab.
Was hilft, wenn mir eine Entscheidung schwerfällt, weil ich damit grundlegende Weichen stelle?
Gibt es denn eine Entscheidung, die keine Weichen stellt?
Ob ich jetzt Äpfel oder Birnen kaufe, empfinde ich nicht als Weichenstellung.
Aber Sie können nur essen, was Sie eingekauft haben. Wenn ich auf Tinder jemanden für ein Date wähle, habe ich an diesem Abend jemand anderen nicht gewählt. Durch jede Entscheidung entgeht mir etwas anderes, egal, was ich tue. Natürlich gibt es Extremsituationen: „Rette ich das Kind oder die fünf alten Leute?“ Aber vor einer so existenziellen Entscheidung stehen wir vielleicht einmal im Leben. In den meisten Fällen konstruieren wir unsere Entscheidungsprobleme selbst. Es gibt Menschen, für die wird die kleinste Entscheidung zu einem Riesenproblem, und anderen geht es nicht mal bei schwerwiegenden Entscheidungen so.
Am Ende also alles eine Typsache?
Es hängt sehr stark von der Person ab, wie sie eine Situation betrachtet, die weitreichende Konsequenzen hat. Dabei kann auch die kleinste Entscheidung große Folgen haben. Ich weiß das vorher ja gar nicht. Vielleicht mache ich ein paar Schritte abseits von meinem üblichen Weg und treffe jemanden, der mir sonst nicht begegnet wäre und das ist der Partner fürs Leben.
Aber nur, weil alles konsequenzenreich sein kann, nimmt mir das ja nicht die Angst vor der Entscheidung.
Tatsächlich ist das oft der Grund für Entscheidungsnöte: die Angst vor Unsicherheiten. Aber, ob wir es wollen oder nicht, Unsicherheit steckt in jeder Entscheidung! Und wenn die normalsten Alltagsentscheidungen genauso folgenreich sein können wie die großen, schweren, warum sollte man dann anders an sie rangehen? Es gibt nicht den einen Kopf für die eine Art der Entscheidung und einen anderen für die andere.
Kann man Entscheiden trainieren?
Ja, und zwar genau, dass man fähig wird überhaupt zu entscheiden und es nicht ewig aufschiebt oder sich beim Abwägen verzettelt. Denken Sie etwa an Feuerwehrleute, die unter Stress schnell konsequenzenreiche Entscheidungen treffen müssen. Dabei hilft uns das sogenannte „recognition primed decision making“: Ich erkenne eine Situation wieder, das aktiviert Lösungen, und ich weiß schon, was ich tun muss. Wir nennen das routinisieren, es hilft uns, schneller zu erkennen, was richtig ist. Gefährlich wird es nur, wenn man etwas für einen Routinefall hält, obwohl er abweicht.
Haben Sie ein Beispiel?
In Rotterdam gibt es ein Trainingszentrum, in dem Feuerwehrleute aufs Glatteis geführt werden. Dort werden Standardsituationen mit kleinen Abweichungen nachgestellt. Wenn man dann das macht, was man immer tut, kann das fatale Konsequenzen haben. Da gibt es zum Beispiel ein Haus, das brennt von unten nach oben. Die erste Idee eines jeden Feuerwehrmannes ist, Wasser in den Keller zu führen. Aber in das Haus ist eine Metalltreppe mit Löchern eingebaut, und wenn man jetzt mit Wasser löscht, steigt der ganze heiße Dampf durch das Haus und schafft ein neues Problem. Es geht also darum, Routinen zu trainieren, um in bestimmten Situationen gut und schnell reagieren können. Und zweitens geht es darum, zu lernen, Abweichungen in einer Situation zu erkennen. Das heißt nicht die Konsequenzen der Entscheidung zu überprüfen, sondern darüber nachzudenken: Ist die vorliegende Entscheidungssituation vergleichbar mit meinen Routinefällen, sodass ich schnell entscheiden kann. Oder ist sie anders, und ich brauche mehr Informationen?
Das erinnert mich an das Dilemma in Beziehungen, dass man aus seinen Fehlern lernen will, aber was in einer vergangenen Beziehung falsch war, kann in der neuen genau richtig sein und umgekehrt. Wie zieht man hier die richtigen Schlüsse?
Wenn meine Erfahrung darauf basiert, dass mein ehemaliger Partner eine sehr symbiotische Beziehung wollte und ich mich ständig abgrenzen musste, dann achte ich in der neuen Beziehung vielleicht extrem darauf, nicht vereinnahmt zu werden. Aber das ist doppelt unfair: Erstens sagt das, du bist genau wie mein Ex – was ja schon eine Unverschämtheit ist. Und zweitens übertrage ich alte Erfahrungen auf die neue Situation. Aber wenn ich mit einem neuen Menschen zusammen bin, schafft das eine neue Situation, die ich erst mal prüfen muss. Bevor ich in alte Muster verfallen, sollte ich den anderen erst mal besser kennenzulernen.
Das heißt, unsere Entscheidungsmuster helfen uns zwar im Alltag, aber nur, wenn wir offen für Neues bleiben?
Ich muss manche Dinge einfach routiniert abspulen können, sonst brauche ich wahnsinnig viel Energie. Es gibt aber neben dem Routinisieren noch eine zweite Anforderung: Wir müssen in der Lage sein Neues zu erkennen, wahrzunehmen, wenn die Welt sich ändert, das nennen wir kontextualisieren. Denken Sie zum Beispiel an Finanzkrisen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt stabil bleibt und wir unsere Anlagen und Investitionen auf die gleiche Art wie immer machen und plötzlich ändert sich die Welt doch, dann entstehen Krisen. Wir brauchen die richtige Balance zwischen Routinen und Offenheit für Neues. Aber die Routinen sind so stark, dass wir tatsächlich immer wieder üben müssen, offen auf die Welt zu blicken.
Und wie kann ich das üben?
Indem Sie sich entscheiden, Dinge mal bewusst anders zu machen. Ich habe in meiner Küche zum Beispiel sehr starke Routinen und wehe, da ändert sich was! Meine jüngste Tochter fing vor kurzem an die Küchenmesser alle in die andere Richtung zu drehen. Das passte mir gar nicht, aber sie sagte: „So kann man da viel besser hingreifen.“ Und sie hatte Recht. Ich bin in meine eigene Routinefalle getappt. Mit meinen Kindern drehen wir manchmal den Tag um: Wir essen morgens warm und mittags kalt. So etwas versuche ich auch gezielt mit älteren Leuten. Oft kommt zuerst: Aber ich habe das immer schon so gemacht! Bis sie merken: Das ist ja ganz praktisch! Wir können uns entscheiden, Neues zu entdecken.
Mein Kopf sagt ja, mein Bauch nein – und jetzt?
Man sollte gucken, woher kommt denn dieser Konflikt? Reagiert der Bauch, weil es bisher immer so funktioniert hat? Sagt der Kopf vor allem ja, weil uns das jemand geraten hat? Dann kann man versuchen das abzugleichen.
Also eine Nacht drüber schlafen?
Wenn die Intuition richtig war, dann hilft das total. Wenn meine Intuition sehr stark ist, aber falsch, dann hilft das Überschlafen nicht, sondern bringt mich dazu, das eher schlechtere zu tun, nämlich mich auf die Intuition zu verlassen, obwohl sie falsch ist.
Warum?
Wenn ich verwirrt bin, weil die schlechten wie die guten Argumente, die irrelevanten wie die relevanten gleichermaßen aktiviert sind, hilft Schlafen, dass diese Aktivierungen auf ein Normalmaß zurückgehen. Wenn ich zum Beispiel im Alltag über das Autofahren nachdenke, dann fallen mir wenig Argumente ein, warum ich Angst haben sollte Auto zu fahren. Aber wenn ich mir gerade einen Film über Unfallproblematiken angesehen habe, sind die in meinem Kopf und können eine derartige Angst vorm Autofahren auslösen, dass ich vielleicht Probleme habe ins Auto zu steigen. Wenn ich dann darüber geschlafen habe, sind diese nicht mehr so stark da. Dann komme ich in meinen Normalzustand zurück und ordne die Risiken wieder anders.
Und wenn eine Mutter, die Wissenschaft als eher undurchsichtig empfindet, die Frage „Impfen oder nicht“ überschläft, folgt sie eher dem unguten Gefühl, das sich beim Lesen der Fälle in den Foren ergeben hat?
Ich glaube, dass weniger das Gefühl das Problem ist, sondern dass die Wichtigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse heute systematisch abgewertet wird. Es gibt anti-aufklärerische Tendenzen, die aus einer narzisstischen Überhöhung der eigenen Person resultieren. Nach dem Motto: Ich weiß doch… Ich lasse mich nicht blenden! Ich habe doch einen gesunden Menschenverstand! Ich fände es gut, wenn Trump auf den Weltklimarat hören würde, um die Datenlage zu bewerten. Die kennen sich aus und wissen, wie man das einschätzt. Und wenn es um epidemische Risiken geht, weiß das Robert-Koch-Institut mehr als mein Nachbar. Wenn ich eine Entscheidung treffen muss, in der es um Risiken geht, sollte ich nicht die Betroffenen fragen, sondern Experten.
Beeinflusst meine Stimmung Entscheidungen?
Diverse Untersuchungen haben gezeigt, dass man nicht sagen kann, die eine Stimmung ist besser als die andere. Ausgenommen: In einer hochdepressiven Episode oder einem schizophrenen Wahn – da kann man natürlich keine guten Entscheidungen treffen. Sonst hat jede Stimmung Vor- und Nachteile. In guter Stimmung neigen wir eher dazu, größere Sprünge zu machen. Wir assoziieren dann auch Dinge, die fern miteinander sind. Wir sind also kreativer. Das kann aber auch dazu führen, dass wir Dinge einbringen, die gar nichts mit der Situation zu tun haben und für die Entscheidung eher ein Fehler sind. Schlechte Stimmung führt dagegen zum Beispiel dazu, dass ich Entscheidungen kritischer prüfe. Ich sage immer zu meinen Studierenden: Kommt mit schlechter Stimmung zur Klausur! Dann lest ihr die Fragen genauer.