Journalistin Ingrid Kolb, die gerade vom medium magazin für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, hat schon 1977 über sexuelle Belästigung im Job geschrieben. Wir haben sie gefragt, wie ihr Umfeld damals reagiert hat und wie sie die aktuelle #MeToo-Debatte einschätzt.
"Wo Frauen arbeiten, werden sie angequatscht, betatscht und auch vernascht. Und das passiert so selbstverständlich, dass es – auch von den Frauen – fast als Naturgesetz und nicht als Willkür empfunden wird." Das schrieb Ingrid Kolb 1977 in ihrer ersten Titelgeschichte im STERN. Ihr Artikel, in dem acht Frauen ihre Geschichte erzählen, löste eine landesweite Diskussion über sexuelle Belästigung aus. Auch später beschäftigte sich Kolb, Jahrgang 1941, immer wieder mit dem Thema Gleichberechtigung und Frauenrechte. Sie arbeitete unter anderem bei der WELT, beim SPIEGEL und der FÜR SIE und leitete viele Jahre die Henri-Nannen-Journalistenschule. Seit 2007 ist sie im Ruhestand.
EMOTION WORKING WOMEN: Frau Kolb, wie sind Sie damals auf das Thema sexuelle Belästigung im Job gekommen?
Ingrid Kolb: Das Thema kam aus den USA. Die Frauenrechtlerin Gloria Steinem hatte in New York eine Veranstaltung organisiert, auf der Frauen öffentlich über ihre Erfahrungen sprachen. Eine nach der anderen trat ans Mikrophon und erzählte von Übergriffen von Kunden, Chefs, Kollegen. Darüber wurde berichtet und in der Redaktion hieß es: Kann der STERN das nicht auch machen? Und ich habe sofort ja gesagt.
Sie waren noch neu in der Redaktion…
Ja, ich hatte im November angefangen, nach drei Jahren beim SPIEGEL. Dort hatte ich Geschichten geschrieben, die mit der Frauenbewegung hoch gekommen waren. Beim STERN fing ich in einem Ressort an, das sich zum Ziel gesetzt hatte, ein modernes Frauenbild zu zeigen. Es war auch gerade umbenannt worden, von "Frau und Familie" zu "Erziehung und Gesellschaft".
Acht Frauen erzählen in Ihrer Geschichte mit Bild und Namen von ihren Erfahrungen. Wie haben Sie diese Frauen gefunden?
Ich war, seit ich 1974 nach Hamburg gezogen war, aktiv in der Frauenbewegung. Wir hatten eine autonome Frauengruppe, da habe ich zuerst nachgefragt. Aber die Frauen, die in der Geschichte vorkommen, kamen nicht alle über diese Gruppe. Eine kannte eine andere, noch eine eine andere – das streute sich so. Ich finde es schön, dass die aus so unterschiedlichen Bereichen kamen, von der Verkäuferin bis zur Schauspielerin. Die haben mir ihre Geschichten erzählt, von kleinen fiesen verbalen Anmachen bis zu körperlichen Übergriffen.
Wie waren die Reaktionen?
Es brach ein Sturm los, wie ich ihn noch nicht erlebt hatte. Ich hatte ihn auch nicht erwartet, keine Zeile war übertrieben oder aufgeblasen. Das hätte jeder recherchieren können. Es war heftig. Die Leserbriefredakteurin jubelte, weil sie sagte: "Bis Weihnachten brauch' ich keine Leserbriefe mehr."
Ich zitiere aus einem der Leserbriefe: "Betatscht wird nur, wer vernascht werden will. Schlimm nur, dass solche Frauen ihre verdrängten sexuellen Vorstellungen und Wünsche den Männern unterschieben und sie so zum Sündenbock machen." Geschrieben von einer Frau.
Es waren sehr viele Frauen, die den Frauen die Schuld gaben. Als würden sie es nicht wahrhaben wollen. Das sollte nichts mit ihnen, den "normalen Frauen" zu tun haben, also wurde den Betroffenen unterstellt, es irgendwie provoziert zu haben.
Wie waren die Reaktionen der Kollegen?
Ich war gar nicht existent für die aufgebrachten Kollegen. Die haben meinen Ressortleiter angegriffen. O-Ton: Du hast die Solidarität der Männer verlassen. Aber mein Ressortleiter war ein politischer Kopf. Der hat gemerkt, dass er mit diesem Thema in ein Wespennest gestochen hat und hielt zu mir. Nur einige wenige jüngere Männer fanden den Artikel gut.
Es war die erste Veröffentlichung in einem großen deutschen Medium zu diesem Thema. Was passierte danach?
Durch meine Geschichte sind Gewerkschafterinnen, Betriebsräte aufmerksam geworden. Es wurden Studien in Auftrag gegeben, über die wir auch weiter berichtet haben. Aber es gab keinen Fall mehr, der so spektakulär war. Bis zu Laura Himmelreich und dem Hashtag #Aufschrei 2013. Da war ich zum ersten Mal entsetzt darüber, wie ähnlich die Reaktionen zu denen von 1977 waren, fast punktgenau.
Wie glichen sie sich?
Die erste Reaktion folgt immer der Devise: Angriff ist die beste Verteidigung. Also: Wie war die Frau denn angezogen? Oder: Die sind alle so hässlich, die machen das aus Frustration. Die Zweite, fast lächerlich, aber oft geäußert: Ach, wir sind ja so verunsichert. Verbunden mit so komisch versteckten Drohungen: "Darf man denn keine Komplimente mehr machen?" "Na gut, dann flirten wir halt nicht mehr." "Dann ist dieses ganze schöne Spiel der Geschlechter weg." Und, als dritte Reaktion: Auch intelligente Männer teilen die Männer ein in Bad Boys und Good Boys. Sie selbst sind natürlich bei den Good Boys. Und sie finden, sie haben das Recht beleidigt zu sein, weil man gefälligst nur die anderen zu meinen hat.
Wir schwören doch immer so auf unsere abendländische Kultur. Diese Kultur hat Frauen systematisch abgewertet.
Ingrid Kolb, Journalistin und ehemalige Leiterin der Henri-Nannen-Schule über #metooTweet
Zurecht?
Nein. Es fehlt bei den Männern das Bewusstsein, dass wir es immer noch mit einer Jahrtausende alten, sozio-kulturellen Prägung zu tun haben. Und diese Prägung setzt ein, wenn ich meinen Blick auf jemanden richte und registriere, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Da habe ich schon Jahrtausende im Kopf, ohne dass mir das klar ist. Ich habe mal drei Zitate von Männern mitgebracht. Aristoteles hat gesagt: In einer Beziehung zwischen Mann und Frau steht der Mann über der Frau. Er herrscht, sie wird beherrscht. Voltaire: Die Frau ist ein menschliches Wesen, was sich anzieht, schwatzt und sich auszieht. Otto Weininger: Der Mann ist das Etwas, die Frau ist das Nichts. Wir schwören doch immer so auf unsere abendländische Kultur. Diese Kultur hat Frauen systematisch abgewertet. Man könnte diese Liste unendlich verlängern mit Volksweisheiten, Sprichwörtern. Wir machen uns keine Vorstellung davon, was diese Prägung bedeutet. Und wir vergessen, wie kurz es her ist, dass Frauen studieren und wählen dürfen.
Aber das ist doch alles Vergangenheit?
Bei mir hat es mal einen zusätzlichen Klick im Kopf gegeben, als ich von einem Versuch in Amerika zur Vorurteilsforschung hörte. Einer Gruppe wurde ein Streitgespräch vorgespielt mit nicht nach männlich und weiblich unterscheidbaren Stimmen. Das Thema war Raumfahrt. Die eine Stimme war für Investitionen, die andere dagegen. Das Gespräch hörten zwei Gruppen, Männer und Frauen gemischt. Der einen Gruppe wurde die erste Stimme als Frau genannt, der anderen die zweite. Und immer wenn die Gruppe meinte, "die Frau" sei die Rednerin, war die Beurteilung eine völlig andere. Zu aufgeregt, unsachlich, aggressiv. Die vermeintlich weibliche Stimme schnitt immer schlechter ab. Da habe ich verstanden, wie weit der Weg noch ist, wie tief das noch sitzt.
Das heißt, es geht um mehr als nur um die Frage, welcher Mann etwas getan oder gesagt hat …
Ja. Der Feminismus sagt: Es ist das Problem von allen Männern. Es kann der bravste sein: Alle Männer profitieren von diesem System. Ob sie sich selbst etwas zu Schulden kommen lassen oder nicht. Das muss endlich mal in die Köpfe. Da müssen Männer nicht nur die anderen Männer anprangern, sondern fragen: Warum passiert das? Warum finden so viele Männer nichts dabei? Warum schaue ich weg?
#MeToo heute
Wie nehmen Sie die #MeToo-Welle wahr?
Sie hat einige neue Aspekte. Zum einen gibt es einen eindeutigen Bad Boy. Man kann sich manches schönreden, bei Weinstein eben nicht. Das Zweite ist, dass so viel prominente Frauen mitmachen. Man kann bei Schauspielerinnen nicht sagen, es läge daran, dass sie keinen Mann abkriegen. Oder sonst wie frustriert sind. Und eine Ministerin, die sagt: me too. Das fand ich toll, weil man daran sieht, wie breit die Palette ist.
Was ist Ihr Ausblick für #MeToo?
Diese Kampagne wird genauso im Sand verlaufen wie alle Wellen vorher, wenn der Bogen wieder zu kurz gespannt wird und nur auf Einzelfälle zielt. Dann kann man den Bad Boy bestrafen oder ächten und die anderen haben nichts damit zu tun.
Hier findet Ihr weitere Infos zum Preis "Journalisten des Jahres 2017" des medium magazins und den aktuellen Preisträgern.