Schroffe Felsen, ein Meer, das in allen Farben glitzert - und überall Ateliers! Das ist die Künstlerkolonie St. Ives in Cornwall. Aber was diesen Ort so magisch macht, ist sein Licht.
Sie sagen, es sei das Licht. Aber das hat sich heute hinter den Wolken versteckt. Bis zu diesem Moment, als ich mich auf dem Weg durch die verwinkelten Straßen des Fischerdorfs St. Ives zu meinem Mann umdrehe und plötzlich der Himmel aufbricht: Lichtstrahlen fallen durch die Gasse, die den Blick aufs Meer freigibt. Ein Bild wie gerahmt. Alles beginnt zu strahlen: der Leuchtturm, das tü̈rkisfarbene Wasser und die kleinen Fischerboote, die auf den Wellen tanzen. Über mir kreischen die Möwen. Ich atme tief ein, und für ein paar Sekunden vergeht die Zeit langsamer.
St. Ives - Hochburg der Kreativität
Seit über 200 Jahren lassen sich Künstler aus aller Welt von der besonderen Stimmung in St. Ives inspirieren – Maler, Bildhauer, Töpfer und Schriftsteller. Darunter berühmte Namen wie der des Impressionisten James Whistler, des Konstruktivisten Piet Mondrian oder der Schriftstellerin Virginia Woolf. Es gab eine Zeit, da wurde der kleine Küstenort in einem Atemzug mit Paris und New York genannt. Ich will herausfinden, was die Kreativität hier am Zipfel Cornwalls so fliegen lässt, und begebe mich auf Spurensuche.
Führung durch den "Arts Club"
Ich stehe in der Guildhall, dem kleinen Rathaus. Vor mir ein riesiges Gemälde, es zeigt den Hafen, dahinter den Himmel, der in Blau, Gelb und Pink leuchtet – am liebsten möchte man in die Wolken greifen. Es stammt aus der Zeit des berühmten Landschaftsmalers William Turner. Turner war 1811 der erste Künstler, der St. Ives besuchte. Ganz London war begeistert, als er die Bilder seiner Reise ausstellte. "Jeder wollte diese besondere Lichtstimmung sehen", erklärt mir Kunsthistorikerin Dawn Bright, bei der ich eine "Art Tour" gebucht habe. Wir gehen weiter zum "Arts Club". Die Wellen krachen an die Kaimauer, die Gischt schießt in die Höhe. Von hier hat man den perfekten Blick über die Bucht und den Hafen. "Im Sommer kommt man vor lauter Staffeleien fast nicht durch", sagt die 50-Jährige und erzählt, "als der "Arts Club" 1890 gegründet wurde, war das hier der erte Künstlertreff." Und es war der Beginn einer großen Kunstbewegung.
Hochburg abstrakter Kunst
Eine der prägendsten Künstlerinnen der Halbinsel war die Bildhauerin Barbara Hepworth. Sie kam 1939 mit ihrem Mann, dem Maler Ben Nicholson, aus London und blieb bis zu ihrem Tod 1975. Als Zeugen ihres Wirkens stehen überall ihre Skulpturen: vor dem Rathaus, an der Steilküste und im Garten ihres ehemaligen Ateliers, das ich besichtige. Es sind riesige Bronzen mit organischen Formen, durchbrochen von einer markanten Öffnung, die die Kunst zum Fenster zur Welt macht – oder die Natur zur Kunst, indem sie ihr ein Passepartout gibt. Genau wie die Lücke zwischen den Häusern, vor der mein Mann vorhin stand.
Das ist Inspiration! So langsam begreife ich: Der Blick taucht hier nicht nur ins Licht ein, er wird geschärft, nimmt jede Veränderung wahr. Die Arbeiten von Barbara Hepworth wurden überall auf der Welt ausgestellt und plötzlich zog das kleine Fischerdorf in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder junge Künstler an und wurde zur Hochburg abstrakter Kunst.
In unserer Galerie nehmen wir Sie mit auf unsere Reise nach Cornwall
Der Spirit der Künstlerkolonie ist ansteckend
"Heute ist St. Ives kein Hotspot der Szene mehr", räumt die Künstlerin Naomi Frears ein, deren Atelier ich als Nächstes besuche. "Was nicht bedeutet, dass hier keine aufregenden Dinge entstehen", fügt sie schnell hinzu. Sie findet: "Man muss sich freimachen von der Geschichte. Wir sind kein Museum!" Die 51-Jährige arbeitet in den Porthmeor Studios, gleich neben der School of Painting, wo nicht nur Profis studieren, sondern auch Urlauber Kurse buchen können.
Die Porthmeor Studios
Naomi Frears’ Loft ist lichtdurchflutet, alles liegt durcheinander: Farbtuben, Pinsel, Fotos, verworfene Entwürfe, und überall stehen Leinwände rum. "In diesem Raum hat schon Francis Bacon gearbeitet", sagt sie und wischt die Hände in ihrem blauen Kittel ab. Sie macht es sich auf ihrem abgewetzten Samtsofa vor der großen Fensterfront gemütlich. Es sieht fast ein bisschen so aus, als würde das Sofa auf dem Sandstrand stehen. Dahinter leuchtet das Meer in der Mittagssonne. "Sieht es nicht aus, als wären wir gerade in der Südsee?", fragt sie mich lachend.
Auch wenn die Künstlerin vor allem Figuren, verschwommene Gesichter und Körper malt, schenkt ihr die Natur die Farbpalette. Und der ständige Wechsel vor ihrem Panoramafenster bewege etwas in ihr. "In zwei Sekunden können hier Wolkentürme aufziehen", erzählt sie, "dann wird es von jetzt auf gleich dunkel und grau." Mein Blick schweift über das glitzernde Wasser in die Ferne, bis Meer und Horizont zu verschwimmen scheinen, und ich spüre angesichts der Weite, was Naomi Frears meint, als sie sagt: "Nirgends kann ich mich so öffnen."
Ursprünglich waren die Porthmeor Studios Fischerwohnungen. Noch heute hängen die Seeleute in den Kellern darunter ihre Netze zum Trocknen auf. In den Studios arbeiten inzwischen 20 Künstler. Vor der blauen Holztür stehen zwei Männer, der eine raucht, der andere nippt am Tee, die Jeans voller Farbspritzer. Sie grüßen fast jeden, der vorbeikommt.
Kunst wird zum Alltag
Einmal im Jahr, im August, öffnen die Künstler die Türen ihrer Werkstätten. Und in dieser Zeit führen die anderen Einheimischen kleine Theaterstücke auf, in denen sie sich manchmal über die Künstler lustig machen. Naomi Frears sagt, das sei das Beste: "So kommt man gar nicht erst auf die Idee, sich zu ernst zu nehmen." St. Ives ist ohne die Künstler nicht mehr zu denken.
Ich schlendere über die Strandpromenade. Es ist schon eine kuriose Mischung: Surfer, die lässig auf der Hafenmauer sitzen, Galeristinnen, die auf hohen Absätzen schnellen Schritts übers Kopfsteinpflaster eilen, Rentner, die den Ausblick genießen, die Fischer und natürlich die Künstler, die man überall mit ihren Skizzenblöcken sieht. Noch nie hatte ich das Gefühl, Kunst so nah zu sein. Hier spüre ich nirgends die Distanz, die ich sonst manchmal im Museum oder Galerien fühle und die mich schüchtern werden lässt. Hier stürze ich mich einfach hinein. Kunst ist in St. Ives Teil des Alltags.
Deshalb verwundert es auch nicht, dass hier schon mal ein Kunst-Star wie Damian Hirst in der Galerie Tate St. Ives die Saison einläutet. Aber auch so etwas bringe hier niemanden wirklich aus der Ruhe, höre ich – und kann mir die Reaktion der Bewohner ausmalen: "Gehen wir halt hin und schauen uns das mal an."
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