Viele träumen davon, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, um in der Ferne das Glück zu finden – doch der Traum vom Auslandsjob sieht in der Realität oft anders aus. Ein Beispiel aus Shanghai
Es fing mit einem verlockenden Jobangebot an. "Könnten Sie sich vorstellen, für drei Jahre nach Shanghai zu gehen?" wurde Hannes Weber* gefragt. Der 41-jährige Angestellte eines deutschen Industriebetriebs hatte bis dahin keinen Gedanken an China verschwendet. In den Ferien war er mit seiner Familie an die Costa Brava gefahren, zum Essen ging er lieber zum Italiener. Doch der Job hörte sich interessant an, das angebotene Gehalt war verlockend und seine Frau voller Enthusiasmus. "Shanghai – das klingt spannend", fand Ute* (37). Deutlich mehr Überzeugungsarbeit brauchte es bei den 14 und neun Jahre alten Kindern. Schließlich aber wurden Kisten gepackt, das Auto verkauft, das Haus vermietet und der Flieger bestiegen. China, wir kommen!
Rund 350.000 Deutsche leben in Shanghai
Rund 350.000 Expatriates oder kurz "Expats" (von lat. "ex" aus, heraus; "patria" Vaterland) leben in Shanghai. Die deutsche Bayer AG zum Beispiel schickte allein im Jahr 2007 80 Familien in die Metropole. Offiziell sind hier 6000 Deutsche gemeldet, man geht aber davon aus, dass die deutschsprachige Gemeinde, wenn man alle Schweizer und Österreicher dazu zählt, mindestens dreimal so groß ist. Auch wenn der Umzug in ein fremdes Land immer eine enorme Herausforderung darstellt, sollte die Umstellung also nicht so schwer fallen, möchte man meinen.
Auch Hannes Weber war optimistisch. Vor der endgültigen Abreise nach Shanghai hat die Familie sogar noch extra einen, von der Firma finanzierten, einwöchigen Erkundungstrip in die neue Heimat gemacht und ein interkulturelles Training absolviert, das sie auf die Sitten im Gastland vorbereiten sollte. Doch beides waren eher Trockenübungen, denn die Realität gestaltete sich ganz anders.
Die Schwaben aus einem kleinen Ort bei Stuttgart fühlten sich in der quirligen 18 Millionen Metropole zunächst komplett überfordert: Die Menschenmassen in den Straßen, der chaotische Verkehr, als Ausländer immer angestarrt zu werden, die fremde Sprache. Der Kauf einer einfachen Fahrkarte für die Metro wurde trotz Englischkenntnissen, zum großen Abenteuer. Wochen vergingen, bis Ute sich das erste Mal alleine aus dem Haus wagte.
Leben in China – eine Herausforderung auf jeder Ebene
Das neue Leben in Shanghai entwickelte sich für die Webers zur nervenaufreibenden Belastungsprobe. Dünnhäutig wurden sie und regten sich über Kleinigkeiten auf, die in Deutschland einfach an ihnen abgeprallt wären. Wenn Hannes sich nach einem stressigen Arbeitstag durch den chaotischen Feierabendverkehr gequält hatte, reagierte er gereizt, wenn seine Frau über ihre Verständigungsprobleme mit den Handwerkern jammerte. Ute wiederum war genervt, weil einfache Dinge wie die Suche nach einer simplen Glühbirne oder der wöchentliche Einkauf viel zeitaufwändiger und umständlicher waren als zu Hause.
Der anfängliche Enthusiasmus erfuhr bald einen empfindlichen Dämpfer. "Leben in China ist eine Herausforderungen auf jeder Ebene", sagt auch Martina Rogall, deutsche Psychotherapeutin in Shanghai. "Vor Ort zeigt sich, wer damit umgehen kann." Auf viele Westler wirkt das Leben in der unbekannten Umgebung mit einer völlig fremdem Kultur wie ein Katalysator, der eigene Schwächen aber auch Stärken extremer hervortreten lässt. Wer aus der Heimat psychische Probleme mitgebracht hat oder mit einer kriselnden Beziehung gekommen ist, muss feststellen, dass sich diese Schwierigkeiten meist nicht verkleinern, sondern eher größer werden. "Altlasten" einfach in Deutschland zurücklassen? Von dieser Vorstellung muss man sich schnell verabschieden.
*Namen von der Redaktion geändert
Westler sind sehr begehrt
Doch auch für intakte Beziehungen kann das Leben in der Fremde zur Belastungsprobe werden, wie das Ehepaar Weber feststellen musste. Für Ute waren vor allem die Umstellungen im Alltag groß. Arbeitete sie in Deutschland noch halbtags als Arzthelferin, blieb sie nun zu Hause, hatte eine Haushälterin und einen Fahrer. Die Zeit mit Shopping, Massage und Maniküre zu vertreiben, langweilte sie jedoch schnell. Ganz anders hingegen Hannes' neues Leben: Er war plötzlich Chef von 50 statt von fünf Mitarbeitern, verdiente mehr Geld, hatte mehr Verantwortung – musste allerdings auch viel mehr Zeit in die Arbeit stecken. Utes Unzufriedenheit und seine Überforderung prallten aufeinander. Nach einem halben Jahr in China kriselte es heftig.
Keine Seltenheit. "Entweder schweißen die Erfahrungen ein Paar hier noch mehr zusammen", erklärt Martina Rogall, "oder die Beziehung gerät in eine ernste Krise." Das kann auch Peter Kruse bestätigen. Der Volkswirt arbeitet hauptberuflich in einer deutschen Firma in Shanghai. Nebenberuflich ist er ordinierter Pastor der deutschsprachigen Gemeinde und übernimmt in dieser Funktion auch seelsorgerische Aufgaben. Seine Erkenntnis: "Fast vom ersten Moment an war ich damit beschäftigt, mich um fremde Ehen zu kümmern". Dies hatte er in diesem Ausmaß nicht erwartet. "Bruchstellen, die es bereits zu Hause gab, brechen hier in Windeseile auf", sagt Kruse.
"Es gibt langjährige Beziehungen, die innerhalb von drei Wochen auseinander krachen." Ute und Hannes zogen zum Glück rechtzeitig die Notbremse, holten sich professionelle Hilfe und rauften sich wieder zusammen. Hannes hat sich nun feste Familienzeiten in die Agenda geschrieben, Ute engagiert sich mittlerweile ehrenamtlich bei einem sozialen Projekt und empfindet ihr Leben in China nicht mehr als verlorene Zeit.
Untreue ist ein Thema
Häufig jedoch verläuft es anders. Vielfach ist es der Mann, der sich innerhalb kürzester Zeit in eine Affäre stürzt. Er stellt fest, wie begehrt er als Westler bei einheimischen Frauen ist, diniert in glamourösen Restaurants, besucht Rote-Teppich-Veranstaltungen – die Diskrepanz zu seiner sich zu Hause langweilenden Gattin könnte nicht größer sein. Diese wiederum betäubt ihren Kummer überdurchschnittlich oft mit Tabletten, Alkohol oder exzessivem Shopping. "Die Schnelligkeit und Intensität, in der Männer hier fremdgehen und Frauen zu Drogen greifen, ist atemberaubend", sagt Peter Kruse. Ein Grund dafür dürfte sicherlich das fehlende soziale Netz sein. Weit weg von Familie und Freunde hat er weniger Skrupel, sich eine Geliebte zuzulegen. Ihr fehlen die Vertrauten, die sie womöglich vor dem Absturz bewahrt hätten. Die Folge: nicht nur Beziehungsdramen, sondern oft psychische Probleme, wie depressive Verstimmungen oder Panikattacken.
Suche nach psychologischer Unterststützung
Umgekehrt holen sich die Betroffenen im Ausland schneller fremde Hilfe: Psychologen und Seelsorger werden so oft zum Ersatz für die guten Freunde zu Hause, aber auch mit großen Erwartungen konfrontiert. "Die Leute sind hier ungeduldiger", sagt Martina Rogall. "In einer Stadt wie Shanghai, in der man sich schnell Lebensmittel liefern lassen kann oder das Hausmädchen für Besorgungen losschickt, verstehen manche nicht, weshalb sich nicht auch ihre Probleme schnell lösen lassen." Ähnliche Erfahrungen macht Peter Kruse: "In China, dieser extremen Servicegesellschaft, wo man jede noch so kleine Arbeit delegieren kann, sind die Leute noch weniger bereit, für ihr Tun und Handeln Verantwortung zu übernehmen."
Die Eingewöhnung der Kinder
Kinder hingegen passen sich meist leichter der fremden Umgebung an. So auch Julia*, die 14-jährige Tochter der Webers, die sich anfangs mit Händen und Füßen gegen den Umzug nach Shanghai gewehrt hatte. Entgegen ihrer Befürchtungen fand sie schnell Anschluss und genießt nun die Freiheiten, die sich ihr hier bieten: etwa in die Disko gehen, weil niemand nach dem Ausweis fragt. Oder Taxifahren, weil es hier soviel kostet wie in Deutschland die U-Bahn.
Die Ferien statt an der Costa Brava auf Bali und Neuseeland verbringen. Für ihren 9-jährigen Bruder Ben* hingegen war der Start in China schwieriger. Ihm machte der ungewohnt lange Schultag zu schaffen. "Ein typisches Anfangsproblem", wie Hortense Berthier sagt. Die Französin ist Psychotherapeutin an der Französischen Schule in Shanghai. Ein Kind, das in der Heimat zu Fuß zur Schule laufen konnte, sitzt hier für eine einfache Strecke oft über eine Stunde im Bus. Auch Freundschaften zu schließen und aufrecht zu halten, ist schwieriger, denn sie unterliegen einer hohen Fluktuation: Nach drei Jahren ziehen die meisten Kindern mit ihren Familien weiter.
Alle Hürden gemeinsam meistern
Ben musste außerdem die Erfahrung machen, dass seine Abneigung gegen Mathe hier als Rechenschwäche gewertet wird. "Kinder mit Lernproblemen fallen mehr auf", ist die Erfahrung von Anne Gerber, deutsche Ergotherapeutin in Shanghai. Ein Kind mit einer leichten Leseschwäche mag in Deutschland nicht groß bemerkt worden sein, schließlich gibt es dort meist Schüler mit gravierenderen Problemen – Kinder aus einem schwierigen sozialen Umfeld etwa. Diese fehlen hier jedoch gänzlich, da in Shanghai die Kinder durchwegs aus gut situierten Familien stammen. Auch Lehrer greifen infolge der kleinen Klassen früher ein. Das hat zur Folge, dass ein Kind schon beim kleinsten Problem auffällt und vor allem schnell beim Therapeuten landet. Ben blieb dieser Gang zum Glück erspart.
Allen Startschwierigkeiten zum Trotz – heute, nach zweieinhalb Jahren, sagen die Webers: "Uns geht es gut." Im Sommer steht ihnen nun eine neue Herausforderung bevor: die Rückkehr nach Deutschland. Zurück in die beschauliche deutsche Provinz, ohne Villa mit Pool, ohne Hausmädchen und ohne schnelle Kurztrips zu exotischen Urlaubsorten. Der Schritt gilt als mindestens ebenso schwierig wie der Aufbruch in die unbekannte Fremde. Doch alle vier sind sich sicher, dass sie auch diese Hürde gemeinsam meistern werden.
Zum Weiterlesen: Buch- und Internettipps
Arbeiten und Leben im Ausland
Wolfgang Jüngst, Matthias Nick, Linde, Wien, 9,90 Euro
Wer sind die Autoren? Wolfgang Jüngst und Dr. Matthias Nick sind Mitglieder der ZDF-Wirtschaftsredaktion WISO.
Worum geht es? Ich bin dann mal weg! Ob für immer oder nur auf Zeit – immer mehr Deutsche zieht es ins Ausland. Doch dieser Schritt will nicht nur gut überlegt, sondern vor allem gut geplant sein. Der stern-Ratgeber informiert Auswanderer in spe über alles, was es zu beachten gilt: Fragen rund um den neuen Arbeitsplatz, Versicherung, Steuern, Ausbildung, Rente und Wohnsitz. Zusätzlich werden die zehn häufigsten Zielländer für deutsche Auswanderer vorgestellt.
Auswandern
Michael von Dessauer, Rolf Deilbach, Droemer/Knaur, 8,95 Euro
Wer sind die Autoren? Michael von Dessauer arbeitete als Journalist und ist nun u. a. Medienberater und TV-Produzent. Rolf Deilbach ist Unternehmensberater.
Worum geht es?Dem eigenen Land den Rücken kehren, um in der Ferne sein Glück zu finden: Jährlich entscheiden sich fast eine Million Deutsche dazu, diesen Schritt zu wagen. Doch was reizt so viele daran, eine Zeit lang ins Ausland zu gehen? Welche Länder sind bei den Ausreisewilligen am beliebtesten? Was muss im Vorfeld alles bedacht und geregelt werden? Und bin ich überhaupt zum Auswandern gemacht? Das Buch ist voll von detaillierten Informationen und praktischen Ratschlägen zu den 25 beliebtesten Auswanderungsländern. Ein unterhaltsames und umfassendes Handbuch für alle, die auswandern wollen, egal ob in der Realität oder nur auf der Wohnzimmercouch.
Als Expat in China
Uwe Semmler, Gabriele Vogt traveldiary.de, 12,80 Euro
Worum geht es? Uwe Semmler ist Bauingenieur. Bevor ihm sein Arbeitgeber anbot, für ein Jahr im Reich der Mitte zu arbeiten, beschränkten sich seine Dienstreisen auf den innerdeutschen Raum. Doch als Thüringer, der bereits den Schritt nach Westen gegangen ist, wagt er ohne jegliche Chinesischkenntnisse auch den Schritt nach Fernost. Sprachliche Verwirrung, fremde Sitten, kulinarische Abenteuer, chinesische Familienfeste – die gesammelten Briefe an seine Familie geben einen witzigen und informativen Einblick, wie Semmler sein Jahr als Expat erlebt hat.