Bloß nicht auffallen! Der Mensch hängt sein Fähnchen gern nach dem Wind. Dabei zeigt die psychologische Forschung, dass nur abseits der Masse Veränderung und Kreativität entstehen kann.
Auf dem deutschen Juristentag im Jahr 1867 kommt es zum Skandal: Der Rechtswissenschaftler Karl Heinrich Ulrichs bezeichnet sich öffentlich als "Urning". Das sei ein Mensch, der der gleichgeschlechtlichen Liebe zuneige. Vor den versammelten Kollegen outet sich der Gelehrte als Homosexueller – und erntet wüste Beschimpfungen, als er von den "angeborenen Menschenrechten der Urninge" spricht. Zeitgenossen wie Karl Marx und Friedrich Engels verhöhnen ihn. Er fordert etwas ein, was erst im Jahr 2000 gesetzlich verankert wird, nämlich rechtlichen Schutz für eheähnliche Gemeinschaften von Homosexuellen. So lange hat es gedauert, bis Ulrichs mutige Äußerungen mehrheitsfähig waren.
Querdenker der Massen
Wir schließen uns gern Mehrheitsmeinungen an, weil wir denken, dass so viele Menschen sich nicht täuschen können. Doch genau das ist ein Irrglaube. Allerdings erspart diese Faustregel geistige Anstrengung und zudem lebt es sich leichter, wenn man nicht in der Unterzahl ist. Vertritt jedoch niemand unkonventionelle Positionen, kann eine Gesellschaft sich schwerlich verändern. Schon der englische Philosoph John Stuart Mill forderte, gegen den Mainstream aufzubegehren. Die Masse, so Mill in seiner Schrift "On liberty" von 1859, solle keinen Druck auf Menschen mit abweichenden Ansichten ausüben, schließlich lägen Abweichler oft richtig, könnten sich aber nicht durchsetzen.
Mit der "Einzigartigkeitsskala" messen Psychologen, wie stark wir dazu tendieren, uns von anderen abzuheben. "Verteidigen Sie Ihre Meinung entschieden?" oder "Scheren Sie sich manchmal nicht darum, was andere über Sie denken?" – so lauten die Fragen des Tests. Die Antworten zeigen: Für manche Menschen ist es besonders reizvoll, "anders" zu sein. Meinungen und Lebensstile von Minderheiten sind für sie per se attraktiv. Doch wir wollen zwar Querdenker sein, trotzdem aber auch nicht ganz allein auf diesem Posten stehen. Dieses widersprüchliche Bedürfnis führt da zu, dass wir nur halbherzig gegen Mehrheitsmeinungen aufbegehren.
Gezielt individuell
Vor einiger Zeit formulierte die US-amerikanische Psychologin Dr. Marilynn Brewer: Wer in der Masse zu verschwinden droht, stellt sich als nonkonform dar; wer dagegen sowieso schon heraussticht, verhält sich angepasst und bieder. Konkret bedeutet das zum Beispiel: Stellenbewerber mit exotisch klingendem Namen gestalten ihre Mappen möglichst konventionell. Sie wählen einen gängigen Schriftyp und verzichten darauf, mit besonderen Hobbys zu kokettieren. Bewirbt sich ein Herr Müller oder Schmidt, wird dieser sich eher als außergewöhnlich präsentieren – etwa durch ein Passbild mit Goldrand.
Brewers Annahme wurde beispielsweise durch einen Versuch gestützt, in dem die Probanden gebeten wurden, sich entweder grau und uniform anzuziehen oder bunt und ausgeflippt. Als dann beide Gruppen miteinander diskutierten, kamen die extremen Ansichten eher von den unauffällig Gekleideten als von den Paradiesvögeln. Solche Studien zeigen: Wir suchen den Mittelweg. Völlige Anpassung ist uns ebenso unangenehm wie totale Opposition. "Wir wollen weder in der Masse unter-, noch voll in ihr aufgehen", sagt der Hamburger Sozialpsychologe Prof. Hans-Peter Erb. "Wir haben zwei widersprüchliche Wünsche in uns, die wir in Balance zu bringen versuchen." Wem das gelingt, der ist beides: Rebell und netter Schwiegersohn von nebenan.
Außergewöhnliche Meinungen anderer machen uns kreativ
Nicht nur der Einzelne tut gut daran, sich mit unkonventionellen Ansichten zu beschäftigen. Die Psychologin Carlan Nemeth von der Berkeley University fand heraus, dass die geistige Leistung von Gruppen wächst, sobald diese sich mit Außenseiterpositionen beschäftigen. "Die Argumente der Minderheit sind ungewöhnlich und intellektuell anregend", meint auch der Sozialpsychologe Erb. Deshalb setze man sich mit ihnen stärker auseinander als mit denen der Mehrheit. Experimente zeigen, dass normabweichende Ansichten einen "divergenten" Denkstil fördern. Das heißt: Wer mit solch anregenden Meinungen konfrontiert wird, produziert selbst mehr kreative Ideen.
Ob in der Firma oder in der Familie – Querdenker sind unverzichtbar. Ihr Einfluss entfaltet sich oft allerdings erst auf lange Sicht. Werben sie etwa dafür, die Qualität des Trinkwassers stärker zu kontrollieren, weil schlechtes Wasser die Gesundheit von Kindern gefährdet, bedeutet das noch lange nicht, dass die Mehrheit diese Position übernimmt. Womöglich bleibt deren generelle Einstellung zum Thema Wasserqualität gleich. Dennoch lässt sich nachweisen, dass viele Menschen aufgrund solcher Meinungsäußerungen in der Folge bei verwandten Themen ihre Ansichten ändern - zum Beispiel, wenn es um Luftverschmutzung geht.
Argumente von Querdenkern wirken demnach nicht direkt – aber sie sensibilisieren. Die Mehrheit kopiert nicht den Inhalt als solchen ("Schmutzwasser schadet unseren Kindern"), sondern die "Struktur" einer Minderheitenidee ("verdreckte Umwelt macht krank"). Klar ist also: Abweichler verändern die Gesellschaft. Nur welche Veränderungen sie anstoßen, können sie nicht kalkulieren. Da hat die Mehrheit noch ein Wörtchen mitzureden.