Fällt uns in einer Gruppe wirklich mehr ein? Machen Ortswechsel und Krisen erfinderisch? Hilft eine große Recherche? Ein Wissenschaftsjournalist stellt fünf verbreitete Thesen auf den Prüfstand.
These 1: In der Gruppe sind wir einfallsreicher als allein
Vor über 50 Jahren erfand der amerikanische Werbefachmann Alex Osborn das sogenannte Brainstorming: Man sitzt in der Gruppe zusammen und lässt seinen Ideen freien Lauf. Bis heute ist das die wohl bekannteste und beliebteste Kreativtechnik. Sie basiert auf zwei Regeln. Erstens: Äußere jeden Einfall, der dir durch den Kopf geht - auch wenn er unsinnig erscheint! Zweitens: Bewerte weder deine eigenen noch die Ideen anderer! Doch so beliebt diese Methode auch ist: In der Praxis erweist sie sich oft als weniger wirksam als gedacht.
Leistungsdruck ist schlecht für kreatives Denken
Denn nicht jeder, dem gute Ideen in den Kopf schießen, kann diese in größerer Runde ungehemmt aussprechen. Zu groß ist die Sorge, etwas Naives oder Dummes zu sagen. Zumal es den meisten Menschen tatsächlich schwerfällt, die zweite Regel einzuhalten: Vorschläge anderer Gruppenmitglieder nicht zu kommentieren. Vor allem in Brainstorming-Runden in Unternehmen mit strenger Hierarchie beäugen sich die Teilnehmer mitunter eher skeptisch: Hat Kollege Müller etwa bessere Ideen als ich? Doch diese Leistungsatmosphäre ist Gift für den ungezügelten Kreativitätsfluss.
Brainstorming in der Gruppe kann Kreativität unterdrücken!
Der Sozialpsychologe Prof. Wolfgang Stroebe von der Universität Utrecht konnte sogar wissenschaftlich nachweisen, dass Brainstorming in der Gruppe den Einfallsreichtum hemmt! Er nennt als Hauptproblem die Wartepausen, in denen der "Brainstormer" nicht selbst reden kann, sondern den anderen Gruppenmitgliedern zuhören muss. In dieser Phase reißt häufig die Ideenkette ab, der rote Faden geht verloren. Oder wir überdenken unsere Einfälle, vergleichen sie mit denen der Kollegen - und halten dann doch lieber den Mund. Dabei lebt Brainstorming eigentlich genau vom Gegenteil: davon, dass Menschen schnell assoziieren und nicht allzu viel nachdenken.
FAZIT: Jeder Teilnehmer sollte zunächst für sich allein brainstormen, Ideen sammeln und diese aufschreiben. Anschließend verteilt jeder seine Liste und die Gruppe diskutiert gemeinsam über alle Vorschläge.
These 2: Ortswechsel fördern die Kreativität
Die meisten Einfälle kommen tatsächlich nicht am Schreibtisch. So berichtet beispielsweise der US-amerikanische Physiker Freeman Dyson, dass er sich über Woche in ein mathematisches Problem verbissen habe. Er hatte versucht, die Lösung regelrecht zu erzwingen. Doch erst, als er sich entschieden habe, nicht mehr danach zu suchen, sei ihm eine Lösung eingefallen - und zwar bei einer nächtlichen Fahrt im Bus. Dyson ist kein Einzelfall. Ähnliche Äußerungen finden sich in den Biografien von Musikern oder Schriftstellern. Der Physiker Albert Einstein meinte: "Wir können die Probleme nicht auf der gleichen Ebene lösen, auf der wir sie geschaffen haben." Das heißt: Eine Frage, die im wissenschaftlichen Labor entsteht, kann nur außerhalb des Labors beantwortet werden. Deshalb empfehlen Kreativitätstrainer, sich im Falle eines Ideenmangels von einem gedanklichen Problem zu lösen und einer monotonen Tätigkeit nachzugehen wie Autofahren, Bügeln oder Gemüseschneiden. Dadurch werde das Gehirn abgelenkt und könne gleichzeitig "unbewusst" nach einer kreativen Lösung fahnden.
Der Wechsel zwischen den Extremen
Nach Ansicht von Christine Koller, Autorin des Buches "Inspiration - jetzt!", sind Menschen besonders kreativ, wenn sie in die Natur eintauchen. Schätzungsweise jeder dritte Einfall entsteht laut Koller am Meer, beim Spazierengehen oder in einer abgelegenen Berghütte. Empirische Studien des US-amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi zeigen: Kreative Menschen springen gerne hin und her - mal ziehen sie sich in ihre einsame Denkerklause zurück, mal suchen sie Geselligkeit und tauchen in das Reizmeer der Großstadt ein. Und laut Prof. Siegfried Preiser, Psychologe an der Universität Frankfurt, haben kreative Menschen auch einen wechselhaften Denkstil: Mal sind sie nachdenklich-reflexiv, mal impulsiv. Sie leben den Widerspruch.
FAZIT: Setzen Sie sich eine Zeit lang konzentriert mit einer Fragestellung auseinander. Lassen Sie sie dann ungelöst zurück und widmen Sie sich einer vollkommen anderen Tätigkeit, am besten auch an einem anderen Ort. Ihr Gehirn arbeitet unbewusst weiter - und produziert wahrscheinlich gerade dann eine Idee, wenn Sie am wenigsten damit rechnen!
These 3: Kreativität kann man lernen
Es gibt dutzende Ratgeber, die uns versprechen: Kreativität ist lernbar! Die Zahl angeblich kreativitätsfördernder Techniken ist groß. Viele Übungen halten nach Ansicht des Psychologen Prof. Ernst Hany von der Universität Erfurt jedoch weniger, als sie versprechen. Es gibt kein Wundermittel, das einen Langweiler in ein kreatives Genie verwandelt. Doch es ist möglich, zumindest Teilbereiche unserer Kreativität gezielt zu fördern. Der Psychologe Siegfried Preiser von der Universität Frankfurt findet all jene Techniken sinnvoll, mit denen wir neue Denkstrategien trainieren. Dafür müssen wir bereit sein, Dinge gedanklich miteinander zu kombinieren, die eigentlich nicht zusammenpassen.
FAZIT: Am besten können wir unsere Kreativität ankurbeln, wenn wir üben, Vertrautes zu verfremden. Geht es zum Beispiel um die Frage, wie sich die Innenräume eines Schuhgeschäft es neu gestalten lassen, vergleichen Sie den Laden mit einem Schwimmbad und fragen Sie sich: Welche Elemente eines Schwimmbads lassen sich auf ein Schuhgeschäft übertragen? Vielleicht die gekachelten Wände? Oder ein plätschender Springbrunnen?
These 4: In Krisen sind wir besonders kreativ
Die Lyrikerin Ingeborg Bachmann schrieb ihre schönsten Gedichte in Phasen größter Verzweiflung. Johann Wolfgang von Goethe verfasste seinen "Werther", als er unter Liebeskummer litt. Der Gitarrist Eric Clapton widmete den Song "Tears In Heaven" seinem Sohn, der im Alter von vier Jahren starb. Zieht man diese Beispiele heran, so kann man schnell den Eindruck gewinnen, dass Menschen in Lebenskrisen besonders kreativ wären. Doch offensichtlich ist das Gegenteil der Fall: Aus wissenschaftlicher Perspektive sind wir eher dann ideenreich und schöpferisch, wenn wir uns in einer stabilen und ausgeglichenen seelischen Verfassung befinden.
Positive Denker sind häufig kreativer
Nach den Erkenntnissen des US-amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi sind kreative Menschen weder besonders neurotisch noch besonders unglücklich, weder hypochondrisch noch verrückt. Und auch der Psychologe Dr. Edward R. Hirt von der Indiana-Universität in Bloomington hat in einer Studie herausgefunden, dass Menschen, die positiv gestimmt sind, kreativer denken als Miesepeter. Er versetzte seine Probanden entweder in positive oder negative Stimmung, indem er ihnen lustige oder traurige Filme vorführte. Danach testete er ihren Einfallsreichtum. Dabei zeigte sich: Je besser die Laune, desto flüssiger und assoziativer das Denken.
FAZIT: Da sich eine positive Stimmung nicht erzwingen lässt, sollten Sie bei schlechter Laune Routinearbeiten erledigen. In kreative Problemlösungen oder schöpferische Hobbys stürzen Sie sich besser, wenn Sie gut drauf sind.
These 5: Nur wer viel über ein Thema weiß, kann auf geniale Ideen kommen
Will ich den perfekten Werbeslogan erfinden - so die landläufige Meinung - muss ich auch ein echter Werbefachmann sein. Soll heißen: Nur wer sich in einem speziellen Bereich richtig gut auskennt, kann darin auch verblüffende Ideen entwickeln. Weit gefehlt. Eine große Menge an Wissen und Erfahrung, so die neuste Erkenntnis des Experimentalpsychologen Merim Bilalic von der Universität Oxford, macht unflexibel und unkreativ. Wer zu viel weiß, dessen Blick ist irgendwann verstellt. Alle Gedanken und Handlungen laufen dann automatisch ab, aus der Welt des Vertrauten kann sich der Experte nur noch sehr schwer lösen. Bilalic analysierte beispielswiese die Spielzüge von Schach-Koryphäen und Schach-Anfängern. Dabei zeigte sich: Die erfahrenen Spieler wählten in fast jeder Situation die konventionellste Lösung, auch wenn es nicht die schnellste war, um den Gegner schachmatt zu setzen. Sie konnten sich nicht von den jahrelang eingeübten Spielzügen lösen - und brauchten deshalb für den Sieg ein paar Züge mehr als nötig.
Ein Quäntchen Unwissenheit
Mittlerweile sind viele Psychologen davon überzeugt: Wer einen neuen Gedanken denken will - ob in der Kunst oder in der Wissenschaft -, der sollte sich ein Quäntchen Unwissenheit und Naivität leisten. Um sich in den Laienstatus zu versetzen, kann eine Technik namens "Semantische Intuition" hilfreich sein, sagt der Kreativitätstrainer Jiri Scherer von der Agentur Denkmotor (www.denkmotor.com). Eine Methode, die Standardherangehensweisen auf den Kopf stellt: Statt sich erst ein innovatives Produkt auszudenken und ihm dann einen Namen zu geben, wird diese Reihenfolge kurzerhand umgedreht.
Völlig neu kombinieren
Erst soll man sich einen Produktnamen einfallen lassen und dann das Produkt entwickeln, das zu diesem Namen passen könnte. Wer etwas Neues fürs Fahrrad erfinden will, der sollte zum Beispiel spontan alle möglichen Begriffe aus dem Bereich "Fahrradzubehör" aufschreiben - etwa Rad, Rucksack, Ventil, Pumpe, Speiche. In einem nächsten Schritt gilt es dann, zwei dieser Wörter zu einem Kunstwort wie "Ventil-Rucksack" zu kombinieren und sich zu fragen: Was für ein Produkt könnte sich hinter diesem Namen verbergen? Gar nicht so einfach. Vielleicht ein Rucksack aus Gummi, der sich bei Bedarf aufblasen lässt, schlägt Scherer vor.
Auch mal Falschliegen ist in Ordnung
Auch wenn einige Ideen sich später als untauglich erweisen, belächelt oder kritisiert werden: Entscheidend sei, etwas Neues denken zu wollen, so der Kreativitätstrainer. "Wer kreative Ideen entschlossen umsetzen will, muss bereit sein, gewisse Risiken einzugehen." Er zitiert den amerikanischen Regisseur Woody Allen: "Wenn Sie nicht von Zeit zu Zeit auf die Nase fallen, ist das ein Zeichen, dass Sie nichts wirklich Innovatives tun."
FAZIT: Wer sich in einem Bereich zu genau auskennt, der sperrt sein Denken ungewollt in enge Grenzen. Durchbrechen Sie diese spielerisch - auch auf die Gefahr hin, einmal Unsinn zu produzieren.