Wer ruft einen an, wenn alles mies läuft? Für wen fährt man 400 Kilometer weit, nur um den anderen zu trösten? Unsere Autorin erlebt all das mit ihrer besten Freundin. Doch zwei Fehlgeburten verwandeln die Leichtigkeit der Studienfreundin in eine Trauer ohne Namen. Und dann, eines Tages, bleibt das Handy einfach stumm.
Der Tag, an dem ich meine Freundin Ela (alle Namen von der Redaktion geändert) zum letzten Mal sah, war ein Freitag. Sie war blass, verwirrt und nervös, obwohl sie seit ein paar Tagen starke Beruhigungstabletten nahm. Immerhin: Sie war geschminkt, hatte Blumen mitgebracht und aß Kuchen. Lauter Zeichen, dass es ihr besser geht, dachte ich. Ich weiß noch, wie sie aus der Tür ging. Sie versuchte zu lächeln, ich nahm sie noch einmal in den Arm. Sie wirkte so zart und zerbrechlich, meine Umarmung erwiderte sie kaum. Sieben Tage später war sie tot.
Ich mochte Ela sofort
Als ich Ela vor zwölf Jahren über eine Freundin kennenlernte, waren wir Anfang zwanzig, studierten Spanisch und lebten ein paar Monate in Madrid. Ich mochte sie sofort. Ela war sehr lustig, sehr klug und sehr direkt. Sie hatte riesige braune Augen, lange schlanke Beine und ein ansteckendes Lachen. Alles an ihr war extrem. Nach zwei Stunden sagte sie zu mir: "Wir müssen uns bald wieder treffen." Ein paar Tage später zog ich bei ihr ein. In ihrer WG war ein Zimmer frei geworden, und ich brauchte eine Unterkunft.
Wir kochten, gingen shoppen, redeten bald auch über sehr persönliche Dinge. Wenn Ela etwas wissen wollte, fragte sie, egal, ob es um Sex, Religion, Geld oder die Familie ging. Dabei war sie nie aufdringlich, sondern immer charmant. Einmal gingen wir am Abend noch ins Kaufhaus und suchten Rouge und Lippenstift für uns beide aus. Nachdem wir schon im Schlafanzug auf der Couch gesessen hatten, fiel ihr auf, dass wir die Sachen noch gar nicht ausprobiert hatten. Wir rannten ins Bad, schminkten uns, und als ich schon wieder zum Make-up-Entferner griff, sagte sie: "Bist du verrückt? Wir sind doch viel zu schön, um zu schlafen. Wir gehen jetzt aus!" Für solche Sätze liebte ich sie.
In der 18. Woche verlor meine Freundin ihr Kind
Vor knapp drei Jahren wurde Ela schwanger. Sie hat nie vorher und nie wieder danach so glücklich ausgesehen. In der 18. Woche verlor sie das Kind. Es war der 24. Dezember. "Kannst du kommen?", fragte sie tags darauf unter Tränen am Telefon. Ich war 400 Kilometer entfernt, aber ich fuhr so schnell wie möglich zu ihr. Wir weinten zusammen, und ich fühlte mich nicht nur schlecht, weil sie unglücklich war, sondern auch, weil sie ein Kind verloren hatte und ich eines erwartete.
Wochenlang sagte ich nichts. Bis sie mir eines Tages eine Mail schrieb: "Liebe Johanna, ich rede so viel von meiner Fehlgeburt, von den Schmerzen, von meiner Traurigkeit. Aber du möchtest ja auch Kinder. Wenn du einmal schwanger bist, darfst du keine Angst haben, es mir zu sagen, bitte!" Als ich sie zwei Minuten später anrief, um ihr alles zu erzählen, freute sie sich, und die Freude war aufrichtig. Wir hatten eine innige Freundschaft ohne Neid, Missgunst oder Konkurrenz, wir versuchten, immer füreinander da zu sein. Doch meine Schuldgefühle blieben. Ich wollte so gern mit ihr zusammen glücklich sein. Ich sprach mit ihr in den folgenden Monaten wenig über mich und noch weniger über die Schwangerschaft.
Verlust des 2. Kindes
Ein Jahr später wurde Ela wieder schwanger. Ich dachte, jetzt würde alles gut werden. Als sie mir bei einem Abendessen breit grinsend erzählte, dass sie heute leider keinen Wein trinken und kein Roastbeef essen könne, sprang ich auf und umarmte sie stürmisch. Ich freute mich so sehr für sie, ich wusste ja, dass sie sich nichts mehr wünschte, als Mutter zu werden. Und ich glaube, ich war auch ein bisschen erleichtert. Denn ich musste mich nicht mehr schuldig fühlen, weil ich ein Baby hatte und sie nicht. Doch Ela verlor das Kind in der 19. Woche.
Ich werde nie vergessen, wie sie mich aus dem Krankenhaus anrief und mir alles erzählte. Sie war so verzweifelt. Wochenlang riss sie sich zusammen, fuhr in den Urlaub, versuchte glücklich zu sein – aber sie wurde nie mehr wie früher, die Trauer blieb ihr Begleiter. Sicher: Wir trafen uns regelmäßig, Kino, Essen, Gespräche. Und doch hatte sich unsere Beziehung verändert. Ich sprach nicht mehr über meine alltäglichen Probleme, die mir so lächerlich vorkamen. Ich wollte sie nicht mit meinem eigentlich unkomplizierten Leben belästigen. Ich versuchte ganz normal zu sein. Es gelang mir nicht. Eines Tages rief sie mich an, als sie gerade aus der psychiatrischen Notaufnahme kam. Sie hatte die Angst nicht mehr ausgehalten. Ihre Stimme klang kraftlos und erschöpft. Nach diesem Gespräch weinte ich lange.
Schwere Schicksalsschläge
Monatelang hatte ich verdrängt, dass meine Freundin ernsthaft krank war. Ihr war so viel Schreckliches passiert – auch schon vor den Fehlgeburten. Die Mutter schwer krank, Bruder und Vater tot, aber sie hatte immer tapfer, stark und optimistisch gewirkt, sie hatte nie gejammert. Deshalb redete ich mir ein, alles könne wieder werden wie früher. Dabei war mir natürlich aufgefallen, wie sehr sie sich verändert hatte, dass sie nur noch von ihren Ängsten und Krankheiten sprach. Nach dem Anruf aus der Notaufnahme wurde mir klar, dass auch ich Angst hatte. Angst, sie könnte vielleicht nie mehr gesund werden. Ela bekam jetzt Medikamente und ging regelmäßig zu einer Therapeutin. Es wurde nicht besser. Auch ich konnte ihr nicht helfen. Wenn ich mit ihr gesprochen hatte, war ich erschöpft und fühlte mich schlecht deswegen. Ich war doch ihre Freundin und dafür da, ihr Mut zu machen.
Zwei Tage nach unserem allerletzten Treffen ging Ela freiwillig in eine Klinik. Sie schickte mir jetzt nur noch SMS, die mich beunruhigten. "Ich glaube, ich verliere den Anschluss", schrieb
sie einmal oder "Es geht mir immer schlechter, ich möchte mit niemandem sprechen."
Als sie an einem Tag auf eine Nachricht von mir nicht antwortete, meldete sich stattdessen ihr Mann bei mir: Sie war seit dem Morgen verschwunden! Wo konnte sie sein? Wir hinterließen unzählige Nachrichten auf ihrer Mailbox. Die folgende Nacht war die bisher schlimmste meines Lebens.
Jede Stunde neue Nachrichten, und keine davon klang ermutigend: Sie hatte all ihre Tabletten mitgenommen, dann fand man ihre Tasche, von ihr fehlte jede Spur. Am frühen Morgen suchten unzählige Polizisten mit Hunden nach ihr. Und trotz allem hoffte ich immer, sie würde im nächsten Moment einfach klingeln und vor der Tür stehen. Eigentlich hoffe ich das bis heute.
Der Selbstmord
Als man Ela am nächsten Morgen fand, war sie bereits mehrere Stunden tot. Sie hatte ihren ganzen Vorrat an Schlaftabletten genommen und sich in einem See ertränkt. Als ich davon erfuhr, saß ich im Büro. Ich hockte wie gelähmt auf meinem Stuhl mit dem Telefon in der Hand und fühlte nichts. Erst als ich meinen Mann anrief, um ihm zu erzählen, dass Ela tot war, fiel mir selbst auf, wie gefasst ich wirkte. Ich benahm mich wie ein Roboter. Das alles war zu schlimm, als dass ich es hätte begreifen können. In den ersten Tagen stand ich komplett unter Schock. Ich wollte nicht weinen, ich wollte nicht verstehen. Es sollte einfach nicht geschehen sein. Ich würde aufwachen und alles nur geträumt haben. In den Nächten schlief ich kaum, erwachte schweißnass und bekam keine Luft.
Als der erste Schock vorbei war, holte mich die Trauer ein: Ich musste ständig an Ela denken. Und jedes Mal, wenn ich das tat, brach ich innerlich zusammen. "Ela hat immer nur 50 Euro abgehoben, damit sie weniger ausgibt", dachte ich am Geldautomaten. "Ela hasste Polyester", wenn ich einen Pulli anzog. "Die Tasse hat Ela mir zum Geburtstag geschenkt", wenn ich Tee trank. Wenige Wochen nach ihrem Tod bekam ich – ein Fehler meines Webportals – auf einmal Hunderte alter E-Mails auf mein Handy. Viele davon waren von Ela. Ich sah auf das Dislplay und stand schluchzend auf der Straße.
Trauererarbeitung
Bis heute sehe ich oft Frauen, die mich an sie erinnern. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, Ela zu sehen: eine Frau mit langem, braunem Haar und großen dunklen Augen. Dabei hatte Ela ihre Haare nach der ersten Fehlgeburt abgeschnitten. Wenn ich mich an sie erinnere, dann offenbar lieber an die glückliche Ela, die ich auf keinen Fall vergessen möchte. Zur Trauer kam die Wut. Etwas in mir wollte wahlweise schreien oder weinen – und machte mir Vorwürfe dafür. Wie konnte ich nur so sein? So sauer und so unglücklich? Ela hätte das nicht gewollt. Dazu kam, dass ich in den ersten Wochen mit unserer zweiten Tochter schwanger war. Musste ich mich und die Kinder nicht schützen?
Es klingt vielleicht komisch, aber nach ein paar Wochen beschloss ich, Elas Tod zu akzeptieren. Sie war meine Freundin, sie wollte niemandem wehtun, sie hat es einfach nicht mehr ausgehalten, jetzt geht es ihr besser. So dachte ich. Und ich wollte mit den gemeinsamen Freunden nicht mehr über unsere Schuld reden, nicht die immer gleichen Fragen stellen: Hätten wir sie finden können? Hätten wir ihr mehr helfen müssen? Warum hat sie das bloß getan?
Natürlich frage ich mich das alles bis heute immer wieder, aber ich verdränge diese Gedanken, ich verdränge alle Schuldgefühle. Ich hätte es nicht
verhindern können. Ela war sehr konsequent, sie traf ihre Entscheidungen im immer allein. Natürlich war sie krank, aber sie war auch klug: Sie wollte nicht gefunden werden, sonst hätte sie sich finden lassen. Sie wusste, dass nicht nur ich, sondern auch andere Freunde alles getan hätten, um ihr zu helfen. Doch eben das wollte sie nicht. Es nüttzt niemandem, wenn ich mich schuldig fühle. Und es ändert auch nichts. Leider.
Die schönen Erinnerungen an die Freunschaft
Heute möchte ich nicht immer nur traurig sein, wenn ich mich an meine Freundin erinnere. Ich möchte an die lustige, lebenshungrige Ela denken. Ich versuche es zumindest. Die Gedanken an sie sollen positiv sein, das hat sie verdient. Wenn sie schon nicht glücklich sein konnte, dann möchte zumindest ich es sein. Und natürlich weiß ich auch, dass Elas Tod für andere noch viel schwerer zu ertragen sein muss als für mich: für ihre Mutter, ihre Schwestern und ihren Mann. Und heute? Es tut mir inzwischen sogar gut, an sie zu denken, und die Gedanken kommen bei ganz banalen Anlässen, etwa wenn ich eine Nudelsoße koche, die Ela immer gern gemacht hat. Meine Tochter liebt dieses Essen, genau wie sie Ela sehr gemocht hat.
Früher habe ich immer gesagt, dass ich irgendwann mal ein Buch mit dem Titel "Meine Freundin Ela" schreibe. Und dass die Schauspielerin Audrey Tautou die Hauptrolle in der Verfilmung spielen könnte, weil sie mich in ihren Rollen immer an sie erinnert. Sensibel, sehr besonders – und unglaublich witzig. Ela hatte etwas, das nicht viele Menschen haben. Wenn sie auf eine Party kam, waren alle begeistert von ihrer Ehrlichkeit und ihrer Offenheit, niemand hätte geahnt, dass sie je so verzweifelt sein könnte, wie sie es am Schluss war. Bevor sie krank wurde, war sie so voller Energie und Lebensfreude. Ich muss jedes Mal grinsen, wenn ich daran denke, dass sie auf ihrem 30. Geburtstag ein Wodka-Wetttrinken veranstaltet hat und danach fünf Stunden am Stück getanzt hat. Oder an ein Ritual: Nach jedem Treffen schrieb eine von uns eine SMS, in der stand, wie schön es gewesen war und dass wir uns bald wiedersehen müssen. Sie hat mir oft gesagt, wie froh sie ist, mich zur Freundin zu haben. Ich hätte ihr dasselbe viel öfter sagen müssen. Stattdessen versuche ich jetzt, zumindest froh darüber zu sein, dass so ein großartiger, wunderbarer Mensch wie Ela zwölf Jahre lang meine Freundin war – auch wenn ich mir jeden Tag wünsche, dass es mehr gewesen wären.
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