Nach dem 11. September waren die Menschen wie erstarrt. Heute pulsiert das Leben vor schillernden Möglichkeiten. Warum Glück stärker ist als Trauer, erklärt die New Yorker Traumaexpertin Paula Madrid.
"Als das erste Flugzeug in das World Trade Center stürzte, war ich ein paar Straßen weiter dabei, Unterlagen für einen Vortrag zusammenzusuchen. Ich sollte an diesem Morgen vor Studenten sprechen, ausgerechnet über Terrorismus in Israel. Gerade als ich auf dem Sprung war, sagte irgendjemand zu mir: 'Mach den Fernseher an.' Und da sah ich, wie das zweite Flugzeug in den anderen Tower krachte. Ich war total geschockt und durcheinander, konnte gar nicht begreifen, was direkt um die Ecke passierte. Jeden in New York hat dieses Ereignis damals mitgenommen. Der Schmerz war überall in der Stadt spürbar.
Die Leute suchten Kontakt
Nachmittags ging ich für etwa eine Stunde in einem Park spazieren. Die Leute eilten nicht wie sonst mit gesenktem Kopf aneinander vorbei, sondern sie suchten Kontakt. Genau wie ich. Wir haben uns direkt in die Augen geschaut. Unsere Blicke waren einfach nur unfassbar traurig. Wir wussten, dass jeder die schrecklichen Bilder im Kopf hatte. Wie können wir uns nach so einem Erlebnis wieder am Leben erfreuen? Einen Sonnenuntergang bei einem Glas Wein am Strand genießen? Mit Hingabe neue Sofakissen aussuchen? Nach einer Katastrophe wie dieser muss uns das alles doch grauenvoll banal vorkommen. Ist es zunächst auch. Aber das vergeht. Denn unsere Seele heilt.
Etwas in uns ist unzerstörbar
Es gibt etwas in uns, das unzerstörbar ist, uns Überlebenskraft schenkt. Der Fachbegriff dafür lautet Resilienz. Zuerst reagiert unser Körper auf traumatische Erlebnisse mit Herzrasen, Albträumen oder Panikattacken. Aber er ist smart und erkennt, dass er diesen Zustand nicht lange ertragen kann. Deshalb leitet er Prozesse ein, die dagegen ankämpfen. Das funktioniert automatisch. Wir müssen nichts dafür tun, bekommen nicht einmal unbedingt etwas davon mit. Reden wir noch mit Freunden über die schreckliche Erfahrung, setzt unser Geist sich schon damit auseinander, was zu tun ist, damit es uns besser geht. Das Ziel: Wir müssen uns wieder sicher fühlen. Dann kann sich unser Körper ausruhen und in seinen Normalzustand zurückfinden.
Sie ist echt: die Fröhlichkeit
Und plötzlich geschieht das, was wir kaum für möglich gehalten haben: Wir sitzen auf einer Bank, beobachten Kinder, die auf dem Spielplatz toben – und fangen an zu lächeln. Eine leise Wärme durchströmt uns: Fröhlichkeit, Leichtigkeit. Wie früher. Und das fühlen wir wirklich. Es ist keine eingebildete Leichtigkeit, mit der wir uns etwas vormachen. Denn schlimme Erlebnisse zu verarbeiten bedeutet nicht, den Schmerz zu verdrängen. Sondern ihn anzunehmen und in das Leben zu integrieren. Das ist es, was resiliente Menschen intuitiv richtig machen.
"Die New Yorker sind sensibel, auf eine schöne Art"
Den Terroranschlag am 11. September haben zahllose Menschen direkt erlebt. Sie haben gesehen, wie die Flugzeuge in die Türme stürzten, haben die Schreie der Menschen gehört, den Staub auf der Straße eingeatmet. Ich kenne Frauen, die ihre Männer verloren haben, einige kurz nach der Geburt ihres Babys oder wenige Tage vor ihrer Hochzeit. Es ist furchtbar, was sie aushalten mussten. Trotzdem haben es viele ohne psychologische Hilfe geschafft. Was ist ihr Geheimnis? Menschen wie sie haben ein gutes Selbstwertgefühl. Sie können über ihre Gefühle sprechen, Hilfe annehmen von Familie und Freunden. Sie haben von Natur aus eine starke Widerstandsfähigkeit, hören auf ihren Körper. Ich habe eine Patientin, die kein Fleisch essen darf, weil sie schwer krank ist. Sie macht es trotzdem, geht über die Bedürfnisse ihres Körpers einfach hinweg und schwächt damit ihre Resilienz. Weitere Faktoren dafür, dass wir traumatische Erfahrungen gut verkraften können, sind unsere Intelligenz und, ja, auch Geld. Denn Wohlstand vermittelt Sicherheit – und das ist es ja, wonach wir streben. Nicht all diese Punkte müssen erfüllt sein, damit wir resilient sind, aber einige. Wir können dafür sorgen, indem wir unsere Freundschaften pflegen, uns gesund ernähren und auf unsere Bedürfnisse hören. Was wir oft falsch machen: Wir nehmen uns keine Zeit. Da hat uns die Gesellschaft geprägt: Wir wollen immer sofort handeln statt abzuwarten. Müssen immer Dinge erleben. Dabei ist es gut, einfach mal nichts zu machen, außer sich auf seine Gefühle zu besinnen.
Es gibt ein Band, das uns verbindet
Ich glaube fest daran, dass die Zeit Wunden heilt. Meistens müssen wir in unserem Leben aber nicht nur mit einem einzigen traumatischen Erlebnis fertigwerden. Und sind es zu viele, müssen auch resiliente Menschen zum Therapeuten gehen. Jeden Freitag treffe ich mich im Coffeeshop mit meiner 'Starbucks-Gruppe'. Das sind Frauen, die 2001 am Battery Park lebten und den Terroranschlag hautnah mitbekamen. Die Erinnerung an den 11. September 2001 ist noch allgegenwärtig.
Ich erinnere mich, als es vor zwei oder drei Jahren laut auf der Straße knallte. Sofort dachte ich: Oh Gott, Terrorismus. Vielen anderen ging es ebenso. Es handelte sich aber um einen Unfall: ein Helikopter war in ein Gebäude gestürzt. Was uns New Yorker stark macht? Die Tatsache, dass wir nicht allein sind. Es gibt ein Band, das uns verbindet. Jedes Jahr im September fühlen wir alle wieder diese Traurigkeit. Aber auch Unterstützung und Zuneigung. Die Leute sind dann netter, freundlicher, nehmen sich auf der Straße mehr wahr, wie damals im Park, als sich alle direkt in die Augen geschaut haben. Sie sind sensibel, auf eine schöne Art." Dr. Paula Madrid, 35, ist als Kind mit ihren Eltern von Kolumbien in die USA eingewandert. Seit zwölf Jahren wohnt sie in New York. Sie ist Psychologin und Expertin für Traumabewältigung und hat "The Resiliency Program" gegründet: Ein Netzwerk, das Betroffenen der Terroranschläge vom 11. September verschiedene Therapiemöglichkeiten anbietet und für Menschen mit wenig Geld eine Anlaufstelle darstellt. Seit Januar 2010 ist sie außerdem Mitglied im "Harvard Program in Refugee Trauma", das sich an Flüchtlinge mit traumatischen Erfahrungen wendet.