Wenn uns jemand um Hilfe bittet, muss er sie auch bekommen? Kann er das tatsächlich von anderen erwarten? Oder nur unter bestimmten Umständen? Und wer legt sie fest? Anders gefragt: Gibt es überhaupt eine für alle geltende Definition?
Vor einiger Zeit klingelte es an einem Samstagmorgen bei uns an der Haustür. Ein freundlicher Mann stand davor und reichte mir ein sehr vertraut aussehendes Portemonnaie: "Ich glaube, das gehört Ihrem Mann." Mein Mann war kurz vorher mit unserer Tochter auf den Markt gefahren und offensichtlich hatte sein Portemonnaie den Weg nach Hause schneller gefunden als er. Als ich mich nach der ersten Verwirrung überschwänglich bedankte, drehte der ehrliche Finder sich nur kurz um und sagte: "Aber das ist doch selbstverständlich."
Auch das Gute passiert
Nur - ist es das wirklich? Wenn wir bedenken, wie sorgfältig wir alles ab- und wegschließen, dem finster aussehenden Typen auf der anderen Straßenseite misstrauen und ständig mit den neuesten Zahlen beglückt werden, wie oft und auf welche Weise wir beklaut, betrogen und hinters Licht geführt werden könnten, dann scheint es sich nicht von selbst zu verstehen, dass uns ebenso das Gegenteil passieren kann - das Gute eben, so ganz selbstverständlich ohne großes Tamtam. Wie kommen wir also zu der Einschätzung, dass etwas selbstverständlich ist und etwas anderes nicht? Und für wen? Und was genau meint eigentlich dieses "Selbst", das offenbar so verständlich ist, dass wir darüber nicht weiter reden müssen?
Was richtig und gut ist
Eine Selbstverständlichkeit kann einerseits von einem Menschen als aus sich selbst heraus verständlich angenommen werden, etwa weil es für diese Person unter bestimmten Kriterien oder Wertsetzungen nur einen "verständlichen" Weg gibt. Es kann aber auch etwas sein, das aus sich selbst heraus sinnvoll und damit verstehbar wird, weil es schlüssig, stimmig - auf eine manchmal nur schwer erklärbare Weise richtig und gut erscheint.
Der Gedanke der Selbstverständlichkeit geht von einem moralischen Wert aus, den wir für "nicht der Rede wert" halten, einen Glauben daran, dass es Dinge sind, die "gut" sind und die wir vertreten wollen, ohne sie immer wieder infrage zu stellen. Es ist gut und richtig, jemandem das Portemonnaie zurückzubringen und das Geld nicht in die eigene Tasche zu stecken - das wissen wir alle. Aber bei anderen Fragen gehen die Vorstellungen dessen, was sich von selbst versteht, weiter auseinander.
Was für den einen selbstverständlich ist, gilt für den anderen vielleicht nicht
Ist es selbstverständlich, die eigenen Eltern zu Hause zu pflegen? Oder dürfen wir auch ohne schlechtes Gewissen ein Pflegeheim in der Nähe für sie auswählen? Ist es tatsächlich selbstverständlich, jemandem zu helfen, dessen Auto an der Autobahn liegen geblieben ist? Das, was für den einen so selbstverständlich ist, dass es nicht einmal der Rede wert ist, ist für den anderen eine schwierige Auseinandersetzung, denn das, was wir als das Richtige verstehen, ist eben nicht immer das, was uns das Leben leichter macht. Sich daran zu halten, ist unbequem und manchmal anstrengend und damit dann letztlich wieder alles andere als selbstverständlich.
Was ich zurzeit lese:
Den neuen Roman von Elizabeth Gilbert - "Das Wesen der Dinge und der Liebe" - ein wunderbares Buch, um für eine Weile Abschied vom Alltäglichen zu nehmen, und sich in der Welt der Botanik niederzulassen.
Was mich in letzter Zeit am meisten beeindruckt hat:
Das Ensemble des Hamburger Theaters Lichthof, dem mit dem Stück "Supernova" eine scharfe Gesellschaftskritik gelungen ist, die mit kleinen Mitteln große Probleme anspricht und bei aller Tragik dennoch "Alternativen" zulässt.
Ina Schmidt, 39, ist Philosophin und Autorin. Sie hat die Initiative "denkraeume" gegründet, mit der sie die Weisheit großer Denker aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft in den Alltag holt.