Ist es der Französischkurs, den wir jetzt nach Silvester anfangen? Oder ist es dieses andere, für das wir erst einmal offen sein müssen, um es zu erkennen?
Ein neues Jahr – reizvoll wie ein Buch mit leeren Seiten oder ein morgendlicher Strand, auf dem noch niemand seine Spuren hinterlassen hat. In dieser scheinbar unberührten Zeit stellt sich das Gefühl ein, leichter etwas Neues beginnen zu können als vor der Jahreswende. Nicht umsonst haben wir zu Silvester all die neuen Vorsätze gefasst.
Aber was genau ist eigentlich etwas wirklich Neues und wie fange ich damit an? Reicht es, endlich den Französischkurs in Angriff zu nehmen, oder sollte es vielmehr die Begegnung mit etwas sein, das ich jetzt noch gar nicht kenne? Etwas, das mir auf einer Reise oder durch einen anderen Menschen begegnet. Vielleicht kann ich mit dem Neuen gar nichts anfangen, sondern muss erst einmal offen sein für dieses andere, das mir hoffentlich irgendwie über den Weg läuft.
"Wir würden das Neue nicht erkennen"
So mancher kluge Kopf ist über diesen Fragen schon zerbrochen und die meisten Denker sind sich zumindest in einer Sache einig: So etwas wie das absolut Neue, das noch nie Dagewesene gibt es einfach nicht. Und selbst wenn es das gäbe – wir würden es nicht erkennen, weil es für unsere Wahrnehmung nicht zu fassen ist. Denken wir an die Überlieferung von Christoph Kolumbus, in der er nach seiner Entdeckung Amerikas berichtete, dass die Eingeborenen die Schiffe der spanischen Flotte gar nicht hätten sehen können, weil es keine "Denkschublade" gab, in die sie dieses seltsame Phänomen einsortieren konnten. Die Schiffe waren für sie schlicht nicht existent. Ob das nun den historischen Tatsachen entspricht, mag bezweifelt werden, aber der Gedanke allein ist hochinteressant.
Auch der Philosoph Henri Bergson betonte, dass der Mensch – bei aller Begeisterung für das Neue – beständig damit beschäftigt sei, das ihm Unbekannte auf etwas Bekanntes zurückzuführen. Das erscheint vielleicht rückständig, aber was bleibt uns anderes übrig? Der Jubel, in den wir gern ausbrechen, wenn von Innovation oder einem neuen Denken die Rede ist, lässt oft genug vergessen, dass dieses Neue eben immer einen Platz in unseren Köpfen braucht, um uns im Gewohnten abzuholen. Oftmals sind es also viel weniger die Dinge, die neu sein müssen (oder können), sondern unser Blick auf das, was immer schon da war.
"Einfach auf den Kopf stellen"
Das Neue begegnet uns, wenn wir uns aufmachen, das Gewohnte auf den Kopf zu stellen, es anders zu sehen, anders darüber zu reden und von dort aus die Welt in einem neuen Licht sehen. So wie in der Geschichte, in der sich ein trauriger König darüber beklagt, dass immer ein Mensch sterben müsse, sobald ein Kind in seinem Reich geboren werde. Darüber verzweifelt der König, und nichts kann ihn aufmuntern – bis ein Narr ihm eines Tages vorschlägt, er solle diese Erkenntnis doch einfach auf den Kopf stellen: Immer wenn ein Mensch in seinem Reich sterben müsse, werde dafür ein Kind geboren. Der König dachte kurz darüber nach und fand in diesem neuen Blick auf das Alte seinen Lebensmut zurück.
Vielleicht ist das die beste Idee für neue Jahre und alte Gedanken: das Neue hin und wieder im Alten zu suchen, sich auf den Kopf zu stellen, auf den Tisch zu klettern oder ein Rad zu schlagen. Wer weiß, welche Perspektiven sich da in diesem neuen Jahr auftun werden und wovon das der Anfang sein könnte.
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